Computer-Aided Immunofluorescence ... - Universität zu Lübeck
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| Christian Bonah: Fortschritt und Fortschrittsglaube<br />
Genau dies sollte aber geschehen. Zwei Monate später erscheint<br />
Lignières, gewappnet mit Krankenbildern und mikroskopischen<br />
Objekträgern, in der Acadmie de Médecine und<br />
stellt den Fall „Denise et Marie D. – eiternde Lymphknotenschwellungen<br />
von zwei geimpften Kindern“ vor. Aber Calmette<br />
erklärt, dass „nichts da<strong>zu</strong> Anlass gäbe“, das Krankenbild<br />
mit dem BCG in Verbindung <strong>zu</strong> bringen. Vielmehr müsse<br />
es sich um eine Tuberkulose-Infektion handeln, da der BCG<br />
stets harmlos sei. Darüber hinaus seien mehr als 110.000 Kinder<br />
in Frankreich geimpft worden, bei denen es nie <strong>zu</strong> einer<br />
Komplikation gekommen wäre. Mit dieser Feststellung findet<br />
die Kontroverse zwar keinen Abschluss, aber sie wird vor der<br />
Académie nicht weiter verfolgt.<br />
Kritik kommt aber nicht nur aus Frankreich. In England<br />
bemerkt der Statistiker und Mediziner Major Greenwood<br />
von der Londoner School of Hygiene Betrachtungen in einem<br />
ausführlichen Artikel im British Medical Journal vom<br />
12. Mai 1928, dass die Anzahl von Kindern in Versuchsreihen<br />
statistisch nicht ausreichend und ihre geographische<br />
Verteilung <strong>zu</strong> heterogen seien, dass keine Kontrollgruppen<br />
und keine Randomisierung bestehen, dass viele der Kinder<br />
nicht in „tuberkulösen“ Familien leben (und somit ihre Erkrankungsgefahr<br />
geringer ist) und dass damit die von Calmette<br />
berechnete Wirksamkeit des BCG überschätzt wird.<br />
Auf der anderen Seite führen, laut Greenwood, nicht systematisch<br />
durchgeführte Autopsien <strong>zu</strong> einer Unterschät<strong>zu</strong>ng<br />
der Unschädlichkeit.<br />
Greenwoods Beurteilung war vernichtend: „Dr. Calmette<br />
hat wohlwollend auf statistische Beweismethoden<br />
<strong>zu</strong>rückgegriffen. Ich erlaube mir fest<strong>zu</strong>stellen das seine<br />
Handhabung der Statistik so un<strong>zu</strong>reichend ist, dass man<br />
weder seinen statistischen Ergebnissen noch seinen Erhebungen<br />
vertrauen kann.“<br />
Diese Kritiken sind vor der Impfkatastrophe wissenschaftliche<br />
Auseinanderset<strong>zu</strong>ngen. Nach den Vorfällen<br />
sind sie für die Frage von Bedeutung, ob die Impfung in<br />
<strong>Lübeck</strong> so habe eingeführt werden dürfen, wie es geschehen<br />
war. Auf der einen Seite stellt sich für das Gericht die<br />
Frage, ob diese Beobachtungen Warnungen darstellen,<br />
die bei der politisch-wissenschaftlichen Entscheidung, die<br />
<strong>zu</strong>r Einführung führten, fahrlässig missachtet wurden. Julius<br />
Moses in seinem Totentanz von <strong>Lübeck</strong> stellt in diesem<br />
Zusammenhang fest: „Warnung ist erfolgt, sie ist bis heute<br />
nicht aufgehoben, und wenn man in <strong>Lübeck</strong> ungeachtet<br />
dessen an Kindern experimentiert hat, so hat man das trotz<br />
der Warnung auf eigene Gefahr hin getan.“<br />
Grundsätzlicher ergibt sich daraus die Frage, welcher<br />
Status dem Verfahren <strong>zu</strong><strong>zu</strong>gestehen war: War der BCG 1930<br />
eine bewährte Schutzimpfung, ein umstrittenes Verfahren<br />
oder sogar ein medizinisches Experiment? Meinungen und<br />
Beurteilungen gehen in diesem Punkt auseinander.<br />
Die Aufklärung der Eltern<br />
Wenn die Beweislage nicht nur über die Wirksamkeit, son-<br />
28. JAHRGANG | HEFT 2 | Oktober 2011 |<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Christian Bonah, 1965 in Montabaur<br />
geboren, studierte Medizin, Geschichte und Wissenschaftsgeschichte<br />
in Strasbourg, Berlin, Freiburg und an der Harvard<br />
University in Boston, USA. 1994 Medizinische Dissertation<br />
(MD) in Strasbourg <strong>zu</strong>r Geschichte der Physiologie. Dort auch<br />
Dissertation in Wissenschaftsgeschichte (PhD) <strong>zu</strong>r Geschichte<br />
der medizinischen Ausbildung und Lehre in Deutschland<br />
und Frankreich und 2003 Habilitation <strong>zu</strong>r Geschichte wissenschaftlicher<br />
Versuche mit Menschen in Frankreich zwischen<br />
1900 und 1940. Seit 1998 forscht und unterrichtet er Sozial-<br />
und Geisteswissenschaften in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte<br />
in einem Wissenschaftskolleg / Masterstudiengang.<br />
Seit 2000 leitet er in Strasbourg das Département<br />
d’Histoire des Sciences de la Vie et de la Santé und ist Mitglied<br />
der European Association for the History of Medicine and health.<br />
Forschungsschwerpunkte betreffen die Geschichte der<br />
medizinischen Humanforschung im 19. und 20. Jahrhundert,<br />
die historische Biographik, die Geschichte der Arzneimittelstandardisierung<br />
im 20. Jahrhundert und die Geschichte des<br />
medizinischen Films.<br />
dern auch über die Unschädlichkeit der Impfung noch wissenschaftlich<br />
kontrovers diskutiert wird, hat dies natürlich<br />
auch eine Bedeutung für die Aufklärung der Eltern, die ihr<br />
Einverständnis <strong>zu</strong> der Schutzimpfung geben mussten. Das<br />
Informationsblatt für die Eltern war folgenderweise verfasst:<br />
(focus) uni lübeck<br />
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