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JGW-SchülerAkademie Papenburg 2011 - Jugendbildung in ...

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<strong>JGW</strong>-<strong>SchülerAkademie</strong><br />

<strong>Papenburg</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Jugendbildung</strong> <strong>in</strong> Gesellschaft und Wissenschaft e. V.


Mit freundlicher Unterstützung von der Bildung & Begabung geme<strong>in</strong>nützigen GmbH,<br />

Bonn.<br />

<strong>JGW</strong> e. V. bedankt sich herzlich bei den Förderern, von denen die Durchführung der<br />

<strong>JGW</strong>-<strong>SchülerAkademie</strong> <strong>Papenburg</strong> <strong>2011</strong> unterstützt wurde:<br />

Privatspenden:<br />

– Kai Beckhaus<br />

– Dr. Peter Breckle<br />

– Sylvia Dietrich<br />

– Michael Margraf<br />

– Anja Rittmann-Berneiser<br />

– Hans-Peter Tiele<br />

– Rüdiger und Barbara Schmolke<br />

– Christa Wahl<br />

– Stefan Wolf<br />

Firmenspenden:<br />

– Private Universität Witten/Herdecke gGmbH<br />

– Konrad<strong>in</strong> Medien GmbH (Le<strong>in</strong>felden-Echterd<strong>in</strong>gen)<br />

– SFB 593 (Sprecher Prof. Dr. Roland Lill) der Deutschen Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

Die <strong>in</strong> dieser Dokumentation enthaltenen Texte wurden von den Kursleitern und Teilnehmern<br />

der <strong>JGW</strong>-<strong>SchülerAkademie</strong> <strong>Papenburg</strong> <strong>2011</strong> erstellt. Die Autoren der e<strong>in</strong>zelnen Texte s<strong>in</strong>d <strong>JGW</strong><br />

e. V. bekannt, wurden aber aus datenschutzrechtlichen Gründen entfernt.<br />

Bei allgeme<strong>in</strong>en Personen- oder Berufsbezeichnungen s<strong>in</strong>d stets Personen männlichen und<br />

weiblichen Geschlechts gleichermaßen geme<strong>in</strong>t;aus Gründen der Vere<strong>in</strong>fachung wird teilweise<br />

nur die geme<strong>in</strong>same Form, die der männlichen gleicht, verwendet.<br />

Redaktion: <strong>JGW</strong>-Dokuteam<br />

Endredaktion: Stefan Fechter<br />

Dieses Dokument wurde mit Hilfe von LATEX gesetzt. Als Hauptschriften wurden die L<strong>in</strong>otype<br />

Palat<strong>in</strong>o von Hermann Zapf und die Mathpazo von Diego Puga verwendet.<br />

Druck und B<strong>in</strong>dung: K&K Copy Druck Service, Heidelberg<br />

Copyright c○ 2012 <strong>JGW</strong> e. V., Berl<strong>in</strong>. Alle Rechte vorbehalten.


»Bildung beg<strong>in</strong>nt mit Neugierde.« 1<br />

Neue Ereignisse, bei denen man nicht genau weiß, was e<strong>in</strong>en erwartet, werden oft<br />

begleitet von e<strong>in</strong>em Gefühl der Unsicherheit und leichten Nervosität, gepaart mit großer<br />

Vorfreude, Begeisterung und Neugierde. Die <strong>JGW</strong>-<strong>SchülerAkademie</strong> <strong>Papenburg</strong> <strong>2011</strong><br />

gehörte für die meisten von uns sicherlich zu dieser Art von Ereignissen. Wir als Akademieleitung<br />

haben uns gefragt, ob »Vorfreude« nicht vielleicht noch untertrieben war,<br />

wenn die Motivation sogar so weit reichte, dass sich e<strong>in</strong>zelne Teilnehmende noch wenige<br />

Tage oder sogar Stunden vor der Akademie spontan für die Teilnahme entschieden,<br />

wenn noch e<strong>in</strong> Platz frei geworden war. Bei der Ankunft der 93 Teilnehmenden <strong>in</strong><br />

der Historisch-Ökologischen Bildungsstätte <strong>Papenburg</strong> – kurz HÖB – konnten wir als<br />

Akademieleitung diese Mischung von Unsicherheit und gleichzeitiger Vorfreude <strong>in</strong><br />

vielen Augen wiedererkennen. Doch nach e<strong>in</strong>em Jahr Vorbereitungszeit waren auch wir<br />

m<strong>in</strong>destens genauso gespannt, was die folgenden zehn Tage mit sich br<strong>in</strong>gen würden<br />

und wie aus 108 Personen, aus dem In- und teilweise auch Ausland, e<strong>in</strong>e so verbundene<br />

Gruppe entsteht.<br />

Die Neugierde war bei allen Beteiligten groß und schnell wurde klar, wie sehr jeder<br />

der sechs sehr verschiedenen Kurse auf se<strong>in</strong>e eigene Art und Weise die Gelegenheit<br />

bot, dieser Neugierde nach zu kommen. Während sich der Mathematik-Kurs mit<br />

systemtheoretischen Fragestellungen ause<strong>in</strong>andersetzte, darunter vor allem der Frage,<br />

was eigentlich dynamische Systeme charakterisiert und wie sie sich optimieren lassen,<br />

untersuchten die Biologen – unter anderem anhand vieler Experimente – verschiedene<br />

Mikroorganismen und deren E<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> der Biotechnologie. Um die neurobiologischen<br />

Grundlagen des Gedächtnisses zu erfassen widmete sich der neurobiologische Kurs<br />

zunächst den verschiedenen Arten des Gedächtnisses, bevor konkrete Fallbeispiele,<br />

Tiermodelle und Schlussfolgerungen für das eigene Lernen besprochen wurden. Nach<br />

Diskussion der molekularen Ursachen von Krebs und dem Erfassen von Tumoren verschiedener<br />

Organsysteme behandelte der Onkologie-Kurs die klassischen Therapien und<br />

ihre Wirkweisen. Ausgehend von den Fragestellungen, welche Bedeutung Er<strong>in</strong>nern und<br />

Vergessen für die Geschichtswissenschaft haben und ob es e<strong>in</strong>e »objektive Geschichte«<br />

gibt, wurden im zweiten Teil des Geschichtskurses verschiedene Konzeptionen von Er<strong>in</strong>nern<br />

und Vergessen erörtert. Der Philosophie-Kurs erarbeitete mit e<strong>in</strong>er breit gefächerten<br />

Auswahl antiker Texte e<strong>in</strong>e »Philosophie der Liebe«, um diese abschließend anhand<br />

e<strong>in</strong>iger Dramen auf ihre Tragfähigkeit h<strong>in</strong> zu überprüfen.<br />

Aber nicht nur <strong>in</strong>nerhalb der Kurse zeigte sich, wie sehr die Kurs<strong>in</strong>halte alle Beteiligten<br />

beschäftigten. Sei es während der Mahlzeiten, <strong>in</strong> den Kurspausen oder <strong>in</strong> der<br />

Freizeit – immer wieder wurde kontrovers und kritisch h<strong>in</strong>terfragend diskutiert. Bei der<br />

Rotation gab es dann auch die Möglichkeit sich <strong>in</strong>tensiver über die Inhalte der anderen<br />

Kurse auszutauschen. Sehr schön wurde dies <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em häufig gehörten Kommentar<br />

zusammengefasst: »Es war wirklich spannend, e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die anderen Kurse zu<br />

erhalten, aber ich weiß trotzdem, dass ich für mich genau den richtigen Kurs gewählt<br />

habe«.<br />

1 Peter Bieri, geb. 1944, Philosophieprofessor und Autor, <strong>in</strong>: ZEITmagaz<strong>in</strong> Leben, 02. 08. 2007 Nr. 32<br />

3


Die Akademie bestand jedoch nicht nur aus Kursarbeit: In der kursfreien Zeit gab<br />

es e<strong>in</strong> vielfältiges Angebot an kursübergreifenden Aktivitäten. Bei der Vielzahl der<br />

Aktivitäten fiel die Entscheidung nie leicht, ob man nun zur abendlichen Werwolf-<br />

Runde, zum Tanzen, zum (Improvisations-)Theater oder zum Ballsport <strong>in</strong> die Turnhalle<br />

gehen sollte. Außerdem lud das Ruderboot zu Fahrten auf dem See und der Tischkicker<br />

zu zahlreichen Duellen e<strong>in</strong>. Alternativ traf man sich im Kam<strong>in</strong>zimmer oder <strong>in</strong> den<br />

W<strong>in</strong>tergärten um zu reden, Karten zu spielen oder am Literaturabend teilzunehmen.<br />

Beim Ausflugstag teilten wir uns <strong>in</strong> drei Gruppen auf. Während die Teilnehmenden der<br />

Moorführung im Rahmen e<strong>in</strong>er Fahrradtour viele Informationen über die Beschaffenheit<br />

und Besiedlungsgeschichte des <strong>Papenburg</strong>er Hochmoores erfuhren, galt es bei der<br />

Führung für moderne Kunst im Schloss Clemenswert selbst aktiv zu werden. So folgte<br />

nach e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensiven Ause<strong>in</strong>andersetzung mit e<strong>in</strong>em gruppenweisen ausgesuchten<br />

Künstler und ausgehend von dieser Inspiration die Gestaltung e<strong>in</strong>es eigenen Werkes.<br />

Außerdem durfte natürlich auch die Meyer-Werft nicht fehlen, bei der es gewaltige<br />

Kreuzfahrtschiffe zu sehen gab. Abgerundet wurde das kursübergreifende Programm<br />

durch Kerrys vielfältige musikalische Angebote, bestehend unter anderem aus e<strong>in</strong>em<br />

großen Chor, e<strong>in</strong>em Kammerchor, e<strong>in</strong>em Klosterchor und e<strong>in</strong>em Orchester, die ihre<br />

Fertigkeiten abschließend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr bee<strong>in</strong>druckenden Konzert präsentierten.<br />

Voller neuer Begegnungen, Erfahrungen und <strong>in</strong>tensiver geme<strong>in</strong>samer E<strong>in</strong>drücke fiel<br />

es schwer, den Koffer zu packen und wieder Richtung Heimat zu fahren. Die Abschiedsszenen<br />

zeigten deutlich, wie sehr allen die <strong>SchülerAkademie</strong> gefallen hat, wie <strong>in</strong>nerhalb<br />

der kurzen Zeit e<strong>in</strong>e sehr verbundene Gruppe entstanden ist und dass die <strong>SchülerAkademie</strong><br />

wohl noch lange <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung behalten wird. So überrascht es auch nicht, dass<br />

direkt die Planung für erste Nachtreffen begann.<br />

Liebe Teilnehmende, es hat uns viel Freude bereitet, diese Akademie mit euch <strong>in</strong>teressierten<br />

und aufgeschlossenen Menschen zu verbr<strong>in</strong>gen. Gestaltet eure Zukunft, macht<br />

etwas aus eurem Talent und vor allem: Bewahrt euch eure Neugierde, es gibt noch so<br />

viel zu entdecken!<br />

4


Dank<br />

Jede Veranstaltung kann nur durch das <strong>in</strong>tensive Engagement aller Helfer und Mitstreiter<br />

gel<strong>in</strong>gen. Daher möchten wir uns bei allen bedanken, ohne die die <strong>JGW</strong>-<strong>SchülerAkademie</strong><br />

<strong>Papenburg</strong> <strong>2011</strong> <strong>in</strong> dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Unser ganz besonderer<br />

Dank geht an das gesamte <strong>JGW</strong>-<strong>SchülerAkademie</strong>-Team: an N<strong>in</strong>a Dengg, Stefan Fechter,<br />

Philipp Möller, Maike Speck, Friederike Trimborn, Carol<strong>in</strong>e Wacker, Ricarda Wagner,<br />

Johannes Waldschütz, Christiane Weiler und Jan Thorben Wilkens. Die Planung, die<br />

bereits e<strong>in</strong> Jahr zuvor begann, umfasste unter anderem das Anwerben und die Betreuung<br />

von Kursleitenden, den Kontakt zu den Teilnehmenden, die Abwicklung der F<strong>in</strong>anzierung,<br />

die Sponsorensuche, die Organisation der Homepage, die Ausflugsplanung,<br />

die Nachbereitung dieser Dokumentation und vieles mehr. Auch allen Kursleiter<strong>in</strong>nen<br />

und Kursleitern möchten wir e<strong>in</strong>en großen Dank aussprechen: Vera und Mathias,<br />

Andrea und Philip, Isabell und Juliane, Johanna und Wiebke, Andreas und Johannes,<br />

Ricarda und Björn, ihr habt die Kurse sehr gewissenhaft, ansprechend und kreativ<br />

vorbereitet und durchgeführt, so dass die Teilnehmenden sich mit großer Begeisterung<br />

<strong>in</strong> den Kursen engagierten. Es war e<strong>in</strong>e Freude das Akademieleitungsbüro <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

geschäftig-gemütlichen Atmosphäre mit euch zu teilen. Für das sehr vielseitige musikalische<br />

Programm möchten wir uns bei Kerry bedanken, der es geschafft hat, über<br />

die Hälfte aller Beteiligten zur Teilnahme <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der Chöre oder Orchester zu motivieren.<br />

Ebenso möchten wir uns herzlich bei den Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeitern<br />

der Historisch-Ökologischen Bildungsstätte <strong>Papenburg</strong> bedanken. Das Essen war stets<br />

köstlich, die Räumlichkeiten ließen nie Wünsche offen und wir hatten das Gefühl, dass<br />

uns jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde. Unser ganz besonderer Dank geht<br />

an unsere Ansprechpartner<strong>in</strong>, an das immer hilfsbereite und sehr zuvorkommende<br />

Team aus Hausmeistern und Zivildienstleistenden sowie an die Hauswirtschaft für<br />

die tolle Rundum-Versorgung. Vor Ort wart vor allem ihr es, liebe Teilnehmende, die<br />

die Akademie gestaltet habt, die <strong>in</strong>tensiv und motiviert <strong>in</strong> den Kursen mitgearbeitet<br />

und kursübergreifende Aktivitäten <strong>in</strong>s Leben gerufen habt. Für euren E<strong>in</strong>satz und eure<br />

Motivation, durch die diese <strong>JGW</strong>-<strong>SchülerAkademie</strong> zu e<strong>in</strong>em solch großartigen und<br />

unvergesslichen Erlebnis wurde, möchten wir euch herzlich danken!<br />

Andrea Müller Jan Brockhaus<br />

Akademieleitung<br />

5


GESUNDHEIT WIRTSCHAFT KULTUR<br />

Perspektiven.<br />

Wechsel!<br />

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Jetzt zum<br />

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Die Teilnehmer<strong>in</strong>nen und Teilnehmer der<br />

<strong>JGW</strong>-<strong>SchülerAkademie</strong> <strong>Papenburg</strong> <strong>2011</strong>.


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg · 11<br />

2 Biotechnologie im Alltag · 31<br />

3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis · 51<br />

4 Onkologie · 73<br />

5 Gedenken oder Vergessen? · 97<br />

6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe · 121<br />

7 Kursübergreifende Aktivitäten · 136<br />

9


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

1.1 E<strong>in</strong>leitung<br />

Mathias L<strong>in</strong>den und Vera Schemann<br />

Dynamische Systeme f<strong>in</strong>den sich an vielen Stellen im alltäglichen Leben und der Versuch,<br />

sie auf e<strong>in</strong>en optimalen Weg zu br<strong>in</strong>gen, beschäftigt ständig mehr Menschen.<br />

Mathematisch gesehen bildet die Theorie der dynamischen Systeme die Grundlage<br />

für viele weitere Forschungsgebiete – unter anderem der optimalen Steuerung und<br />

der Modellreduktion. Im Kurs wurde – aufbauend auf e<strong>in</strong>ige Grundlagen – e<strong>in</strong> Bogen<br />

gespannt von e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Systemtheorie über die optimale Steuerung<br />

bis h<strong>in</strong> zur Modellreduktion. Diese behandelte Vielfalt soll auch durch die folgende<br />

Kursdokumentation widergespiegelt werden.<br />

1.2 Komplexe Zahlen<br />

Die komplexen Zahlen C erweitern <strong>in</strong> der Mathematik den Zahlenbereich der reellen<br />

Zahlen R und ermöglichen, dass die folgende Gleichung lösbar wird:<br />

x 2 + 1 = 0 | − 1<br />

x 2 = −1 | √<br />

x1,2 = ± √ −1.<br />

Die Wurzel aus e<strong>in</strong>er negativen Zahl konnte nur gezogen werden, weil e<strong>in</strong>e neue Zahl<br />

e<strong>in</strong>geführt wurde. Diese Zahl heißt i und hat die Eigenschaft i := √ −1, sie wird als<br />

imag<strong>in</strong>äre E<strong>in</strong>heit bezeichnet.<br />

Im Allgeme<strong>in</strong>en haben sich zwei unterschiedliche Notationen für die komplexen<br />

Zahlen durchgesetzt, die kartesische Form<br />

und die polare Form<br />

z = a + i · b<br />

z = r · (cos(φ) + i s<strong>in</strong>(φ)), r ∈ R.<br />

Wobei a und b sowie r und φ reelle Zahlen s<strong>in</strong>d und i die imag<strong>in</strong>äre E<strong>in</strong>heit ist. a wird<br />

als »Realteil« und b als »Imag<strong>in</strong>ärteil« von a + b · i = z bezeichnet.<br />

Sollen zwei komplexe Zahlen a + b · i und c + d · i addiert werden, so gilt:<br />

(a + ib) + (c + id) = (a + c) + i(b + d).<br />

11


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

Sollen zwei komplexe Zahlen multipliziert werden, so gilt:<br />

(a + ib) · (c + id) = (ac − bd) + i(ad + bc).<br />

Der Betrag der komplexen Zahlen stimmt mit der Länge ihres Vektors übere<strong>in</strong>:<br />

|z| = a 2 + b 2 .<br />

In Polarkoord<strong>in</strong>aten ist der der Betrag gleich der Zahl r.<br />

1.3 Matrizen<br />

Matrizen werden als Rechteckschema von Zahlen dargestellt. E<strong>in</strong>e Matrix A hat die<br />

Form:<br />

A =<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

a1,1 · · · a1,n<br />

.<br />

. .. .<br />

am,1 · · · am,n<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ , A ∈ R m×n .<br />

Die Matrix benutzt man zum Beispiel als Koeffizientenmatrix, um e<strong>in</strong> l<strong>in</strong>eares Gleichungssystem<br />

(Ax = y) darzustellen. Man kann zudem mit ihr verschiedene Abläufe <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em System darstellen. Die Zahlen oder Funktionen <strong>in</strong> den Zeilen und Spalten heißen<br />

Elemente. Matrizen bezeichnet man oft mit Großbuchstaben (A, B, C, . . . ).<br />

Wenn A und B zwei Matrizen mit der gleichen Anzahl an Spalten und Zeilen s<strong>in</strong>d,<br />

kann man sie addieren und zu e<strong>in</strong>er neuen Matrix C zusammenfassen, <strong>in</strong>dem man die<br />

jeweils entsprechenden Elemente addiert.<br />

�<br />

a1,1 a1,2<br />

a2,1 a2,2<br />

�<br />

+<br />

�<br />

b1,1 b1,2<br />

b2,1 b2,2<br />

�<br />

=<br />

�<br />

a1,1 + b1,1 a1,2 + b1,2<br />

a2,1 + b2,1 a2,2 + b2,2<br />

�<br />

=<br />

�<br />

c1,1 c1,2<br />

c2,1 c2,2<br />

Man kann auch das Produkt der Matrizen A und B berechnen. Wichtig ist hier, dass<br />

die Anzahl der Spalten von A gleich der Anzahl der Zeilen von B ist, da man bei der<br />

Multiplikation von Matrizen jeweils die Zeilen mit den Spalten multipliziert.<br />

12<br />

�<br />

�<br />

a1,1 a1,2 a1,3<br />

a2,1 a2,2 a2,3<br />

⎛<br />

�<br />

⎜<br />

· ⎝<br />

b1,1 b1,2<br />

b2,1 b2,2<br />

b3,1 b3,2<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ =<br />

a1,1 · b1,1 + a1,2 · b2,1 + a1,3 · b3,1 a1,1 · b1,2 + a1,2 · b2,2 + a1,3 · b3,2<br />

a2,1 · b1,1 + a2,2 · b2,1 + a2,3 · b3,1 a2,1 · b1,2 + a2,2 · b2,2 + a2,3 · b3,2<br />

In e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heitsmatrix I s<strong>in</strong>d alle Elemente auf der Hauptdiagonalen 1. Die restlichen<br />

�<br />


Elemente s<strong>in</strong>d gleich 0. Somit ist I · b = b,<br />

I =<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

1 0 0<br />

0 1 0<br />

0 0 1<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ .<br />

Wenn A · B = B · A = I dann ist B die Inverse von A. Man schreibt:<br />

Zudem gilt:<br />

B = A −1 .<br />

A · A −1 = I = A −1 · A.<br />

1.3 Matrizen<br />

Um die Inverse e<strong>in</strong>er Matrix bestimmen zu können müssen verschiedene Voraussetzungen<br />

gelten. Zum Beispiel muss die Determ<strong>in</strong>ante der Matrix ungleich null se<strong>in</strong>.<br />

Dies ist e<strong>in</strong>e spezielle Funktion, die e<strong>in</strong>er quadratischen Matrix e<strong>in</strong> Skalar zuordnet.<br />

A =<br />

�<br />

a b<br />

c d<br />

�<br />

, det(A) = ad − bc.<br />

Bei der Transponierten werden Zeilen und Spalten e<strong>in</strong>er Matrix vertauscht. So wird<br />

e<strong>in</strong>e m × n Matrix zu e<strong>in</strong>er n × m Matrix.<br />

So ist<br />

die Transponierte zu<br />

A T =<br />

A =<br />

�<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

1 4<br />

2 5<br />

3 6<br />

1 2 3<br />

4 5 6<br />

Ferner gilt (A T ) T = A und (r · A) T = A T · r , r ∈ R.<br />

E<strong>in</strong> Skalarprodukt ist e<strong>in</strong>e Abbildung zweier Vektoren auf die reellen Zahlen. Es<br />

entsteht durch die Multiplikation der entsprechenden Elemente der Vektoren x und y.<br />

E<strong>in</strong> Skalarprodukt ist nur möglich, wenn die Anzahl der Zeilen beider Vektoren gleich<br />

ist.<br />

〈x, y〉 = x1 · y1 + x2 · y2 + · · · + xn · yn<br />

Wenn man die Transponierte e<strong>in</strong>es Vektors (Matrix mit e<strong>in</strong>er Spalte) mit e<strong>in</strong>em anderen<br />

Vektor multipliziert erhält man das Skalarprodukt beider.<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠<br />

�<br />

x T · y = 〈x, y〉 , x, y ∈ R n<br />

.<br />

13


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

1.4 Eigenwerte und Eigenvektoren<br />

Komplexere mathematische Rechnungen mit verhältnismäßig großen Matrizen gestalten<br />

sich schwierig. Für das Modellieren und die Berechnung sowie die Steuerung<br />

dynamischer Systeme s<strong>in</strong>d diese jedoch unabd<strong>in</strong>gbar. E<strong>in</strong> wichtiges Hilfsmittel bei der<br />

Berechnung von Matrizen stellen die Eigenwerte und Eigenvektoren von Matrizen dar.<br />

Durch die Matrizenmultiplikation e<strong>in</strong>er beliebigen Matrix A ∈ R n×m mit e<strong>in</strong>em Vektor<br />

�x ∈ R m entsteht e<strong>in</strong> Vektor �xneu ∈ R n . Es können zu e<strong>in</strong>er Matrix A ∈ R n×n nun Skalare<br />

λi ∈ R, 1 ≤ i ≤ n gefunden werden, so dass für die Gleichung<br />

A · �xi = λi · �xi,<br />

außer �xi =�0 noch weitere Lösungen existieren. Die aus der Gleichung hervorgehenden<br />

Vektoren �xi ∈ R n werden als die Eigenvektoren der Matrix A bezeichnet, während die<br />

Menge der λi die Eigenwerte von A bilden.<br />

Zu jeder Matrix A existieren maximal n verschiedene Eigenwerte. Da der Vektor �xi<br />

auf beiden Seiten der Gleichung mit e<strong>in</strong>em beliebigen Skalar multipliziert werden kann,<br />

ohne die Eigenwerte zu bee<strong>in</strong>flussen, existiert zu jedem Eigenwert e<strong>in</strong>e unbegrenzte<br />

Anzahl an Eigenvektoren. Da jeder dieser Vektoren durch alle anderen Vektoren mit Hilfe<br />

der Multiplikation e<strong>in</strong>es weiteren Skalars dargestellt werden kann, können maximal n<br />

l<strong>in</strong>ear unabhängige Eigenvektoren existieren.<br />

L<strong>in</strong>eare Unabhängigkeit e<strong>in</strong>er Menge von n Vektoren ist gegeben, falls die Gleichung<br />

c1 · �x1 + c2 · �x2 + · · · + cn · �xn =�0<br />

ausschließlich die Lösung ci = 0 ∀i hat. Ke<strong>in</strong>er dieser Vektoren kann <strong>in</strong> diesem Fall<br />

durch die Summe e<strong>in</strong>er beliebigen Anzahl aus Vielfachen der anderen Vektoren dargestellt<br />

werden. Um die Eigenwerte und im Folgenden mögliche Eigenvektoren zu<br />

berechnen, können alle λi durch Lösen der folgenden Gleichung berechnet werden:<br />

det (A − λ · I) = 0.<br />

Die so erhaltenen Eigenwerte setzen wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Umformung der oben beschriebenen<br />

Gleichung e<strong>in</strong>:<br />

(A − λ · I) · �x =�0,<br />

wobei I hier die E<strong>in</strong>heitsmatrix beschreibt. Dieses l<strong>in</strong>eare Gleichungssystem kann nun<br />

gelöst werden, so dass konkrete Werte für die Komponenten von �x ermittelt werden können.<br />

Um Berechnungen mit diesen spezifischen Matrizeneigenschaften durchzuführen,<br />

überführen wir die Eigenvektoren als Spalten <strong>in</strong> die Eigenvektormatrix S, während<br />

die jeweiligen Eigenwerte analog zu der E<strong>in</strong>heitsmatrix die Werte der Diagonalen der<br />

Eigenwertmatrix so bilden, dass Λii = λi. Durch die oben genannten Zusammenhänge<br />

gilt für e<strong>in</strong>e beliebige Matrix A ∈ R n×n , solange die Gleichung A = SΛS −1 n l<strong>in</strong>ear<br />

unabhängige Eigenvektoren aufweist. Somit kann das entsprechende Produkt aus<br />

Eigenvektor- und Eigenwertmatrix für A e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

14


1.5 Ableitungen von Funktionen im Raum<br />

Mit dieser Zerlegung wird das Berechnen e<strong>in</strong>iger großer Gleichungen deutlich vere<strong>in</strong>facht.<br />

Speziell bei dynamischen Systemen bieten sowohl Eigenvektormatrix als auch<br />

Eigenwertmatrix viele Vorteile, da die diagonale Struktur der Eigenwertmatrix verschiedene<br />

Rechnungen vere<strong>in</strong>facht. Somit bilden Eigenwerte e<strong>in</strong>e wichtige Technik <strong>in</strong> der<br />

Systemtheorie.<br />

1.5 Ableitungen von Funktionen im Raum<br />

Der Gradient ist e<strong>in</strong>e Rechenoperation, die auf e<strong>in</strong>e Funktion von C n nach C angewendet<br />

werden kann und als Ergebnis e<strong>in</strong> Vektorfeld liefert. Dabei wird jedem Punkt e<strong>in</strong> Vektor<br />

zuordnet, welcher jeweils die Richtung und Stärke des steilsten Anstieges von diesem<br />

Punkt aus wiedergibt.<br />

Man kann e<strong>in</strong>e Funktion, die von mehreren Variablen abhängt, nach jeder Variablen<br />

e<strong>in</strong>zeln ableiten. Es gelten dabei die normalen Ableitungsregeln, wobei die Variablen,<br />

nach denen nicht abgeleitet wird, als konstant betrachtet werden. Dies nennt man partielle<br />

Ableitung. Es wird nun e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Beispiel angegeben:<br />

f (x1, x2) = s<strong>in</strong> x1 · s<strong>in</strong> x2<br />

∂ f (x1, x2)<br />

= cos x1 · s<strong>in</strong> x2<br />

∂x2<br />

∂2 f (x1, x2)<br />

= cos x1 · cos x2<br />

∂x1∂x2<br />

Der Gradient ist nun die verkürzte Schreibweise aller partiellen Ableitungen e<strong>in</strong>er<br />

Funktionen. Bei der Bildung des Gradienten e<strong>in</strong>es Punktes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em (Skalar-)Feld<br />

wird <strong>in</strong> jeder Richtung der Anstieg des Feldes <strong>in</strong> dieser Richtung im Ergebnisvektor<br />

wiedergegeben.<br />

15


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

Das Formelzeichen, um den Gradienten zu bilden, wird Nabla-Operator genannt:<br />

⎛<br />

⎜<br />

∇ f (x) = ∇ f (x1, x2, · · · , xn) = ⎜<br />

⎝<br />

∂ f (x)<br />

∂x1<br />

∂ f (x)<br />

∂x2<br />

.<br />

∂ f (x)<br />

∂xn<br />

Es wird also nach jeder e<strong>in</strong>zelnen Achsenrichtung partiell abgeleitet und das Ergebnis<br />

wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vektor wiedergegeben. Man kann auch die zweite Ableitung e<strong>in</strong>er Funktion<br />

bilden, <strong>in</strong>dem man e<strong>in</strong>e Matrix erstellt, <strong>in</strong> der man jede Richtung des Gradienten<br />

erneut nach jeder Variable ableitet.<br />

Die Summen-, Produkt- und Kettenregel kann man analog auf Funktionen im Raum<br />

anwenden. Mit Hilfe der Ableitung von Funktionen kann man z. B. Extremstellen <strong>in</strong><br />

Feldern berechnen, da die Ableitungen nur bei Extremstellen �0 s<strong>in</strong>d. Wenn man von<br />

e<strong>in</strong>er Funktion zweimal ableitet, dann erhält man e<strong>in</strong> Maß für die Krümmung des Feldes<br />

<strong>in</strong> jedem Punkt.<br />

1.6 Geschichte der Systemtheorie<br />

Da die Systemtheorie <strong>in</strong> vielen verschiedenen Bereichen wieder zu f<strong>in</strong>den ist, kann<br />

man sie als e<strong>in</strong> <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äres Erkenntnismodell beschreiben, welches versucht verschiedene<br />

komplexe Phänomene zu beschreiben bzw. zu erklären. Allgeme<strong>in</strong> gehen<br />

Systemtheorien von Systemen aus, die sich selber erhalten, wie zum Beispiel die Gesellschaft<br />

oder die Justiz. Handelt e<strong>in</strong> Individuum <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es dieser Systeme auf<br />

e<strong>in</strong>e bestimmte Art und Weise, wird dies anhand se<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Position und<br />

den daraus folgenden Zwängen erklärt. Weiterh<strong>in</strong> wird mit Hilfe von Struktur- und<br />

Funktionsanalyse versucht den weiteren Verlauf des Systems vorherzusagen. Systemtheorien<br />

lassen sich also <strong>in</strong> verschiedenen Fachbereichen wiederf<strong>in</strong>den. Zum e<strong>in</strong>en<br />

natürlich <strong>in</strong> der Mathematik, aber auch <strong>in</strong> Bereichen wie Biologie, Chemie, Ethnologie,<br />

Informatik, Geographie etc.<br />

Der Begriff »Allgeme<strong>in</strong>e Systemtheorie« wurde um 1950 von dem Biologen Ludwig<br />

von Bertalanffy (1901–1972) geprägt und steht im Zusammenhang mit der Kontrolltheorie,<br />

welche die Kommunikation, Steuerung und Regelung von lebenden, technischen<br />

und sozialen Systemen beschreibt.<br />

Um 1970 entstand der mathematische Zweig der Katastrophentheorie. Er befasst<br />

sich mit plötzlichen Veränderungen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Systems, die sich aus kle<strong>in</strong>en Impulsen<br />

ergeben. Ungefähr 10 Jahre später folgte die Chaostheorie: E<strong>in</strong>e Theorie von<br />

nichtl<strong>in</strong>earen, dynamischen Systemen, welche e<strong>in</strong>e Reihe von Phänomen aufweisen,<br />

die man Chaos nennt. E<strong>in</strong> bekanntes Beispiel dieser Theorie ist unter anderem der<br />

Schmetterl<strong>in</strong>gseffekt. Der Grundgedanke h<strong>in</strong>ter diesem Beispiel ist, dass alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

marg<strong>in</strong>ale Veränderung <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Systems (wie zum Beispiel das Auffliegen e<strong>in</strong>es<br />

16<br />

⎞<br />

⎟ .<br />

⎟<br />


1.7 Dynamische Systeme<br />

Schmetterl<strong>in</strong>gs) dramatische Folgen haben kann, beispielsweise das Entstehen e<strong>in</strong>es<br />

Taifuns oder Tornados.<br />

Als letzter wichtiger chronologischer E<strong>in</strong>trag im Bezug auf die Systemtheorie folgten<br />

die 1990 entstandenen »Komplexen adaptive Systeme«. Dabei handelt es sich um<br />

die Beschreibung von Emergenz, Anpassung und Selbstorganisation. Agenten und<br />

Computersimulationen werden hier genutzt, um soziale und komplexe Systeme zu<br />

erforschen.<br />

1.7 Dynamische Systeme<br />

Dynamische Systeme s<strong>in</strong>d mathematische Modelle, die zur Beschreibung von Prozessen<br />

dienen. Dabei wird die Veränderung des Zustands und des Ausgangs des Systems über<br />

die Zeit betrachtet. Solche Systeme werden <strong>in</strong> den unterschiedlichsten Gebieten zur<br />

Modellierung von Prozessen verwendet. Viele dieser Prozesse s<strong>in</strong>d Beispiele aus der<br />

Mathematik, aber vor allem auch <strong>in</strong> der Physik und <strong>in</strong> der Biologie werden Vorgänge<br />

auf diese Art beschrieben. Beispiele s<strong>in</strong>d die Bewegung e<strong>in</strong>es Pendels, Klimamodelle<br />

oder die Entwicklung e<strong>in</strong>er Population von Lebewesen.<br />

Dabei unterscheidet man zwischen offenen und geschlossenen Systemen. Geschlossene<br />

Systeme haben ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>gang, also ke<strong>in</strong>e Steuerung. Sie können von außen nicht<br />

bee<strong>in</strong>flusst werden und s<strong>in</strong>d nur Relationen <strong>in</strong>nerhalb des Systems unterworfen. Offene<br />

Systeme h<strong>in</strong>gegen s<strong>in</strong>d offen für E<strong>in</strong>griffe von außen, die E<strong>in</strong>fluss auf das Fortschreiten<br />

des Prozesses nehmen.<br />

Im Folgenden werden solche Systeme mathematisch beschrieben. Wir behandeln dabei<br />

LTI-Systeme. LTI steht für »l<strong>in</strong>ear, time <strong>in</strong>variant«, was also bedeutet, dass diese Systeme<br />

l<strong>in</strong>ear s<strong>in</strong>d und sich die Systemmatrizen über die Zeit nicht verändern. Des Weiteren<br />

beschränken wir uns auf Beschreibungen und Berechnungen von diskreten Systemen.<br />

Für solche Systeme lassen sich Zustand und Ausgang zu bestimmten Zeitpunkten im<br />

Abstand von gleichen Intervallen bestimmen. Es gibt auch kont<strong>in</strong>uierliche Systeme, bei<br />

denen die Berechnung dieser Werte kont<strong>in</strong>uierlich und eben nicht nur iterativ erfolgt.<br />

Mathematisch werden solche Systeme wie folgt dargestellt:<br />

Σ :<br />

�<br />

x k+1 = A · x k + B · u k<br />

y k = C · x k + D · u k<br />

Der Vektor x k ∈ R n beschreibt den Zustand des Systems zu e<strong>in</strong>em Zeitpunkt k. In<br />

diesem Vektor s<strong>in</strong>d alle Größen des Systems enthalten, die von Nöten s<strong>in</strong>d um es<br />

vollständig zu beschreiben. Die Anzahl dieser Zustandsgrößen, <strong>in</strong> diesem Fall n, gibt die<br />

Dimension des Systems an.<br />

A ∈ R n×n ist die systemeigene Matrix, die die Relationen, die <strong>in</strong>nerhalb des Systems<br />

auftreten, beschreibt. Sie wird auch als Dynamik des Systems bezeichnet. u k ∈ R m<br />

ist e<strong>in</strong> Vektor der den E<strong>in</strong>gang oder die Steuerung des Systems beschreibt, wobei die<br />

Matrix B ∈ R n×m die Relation wiedergibt. y k ∈ R p wird als Ausgang bezeichnet und mit<br />

.<br />

17


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

Hilfe der weiteren Systemmatrizen C ∈ R p×n und D ∈ R p×m berechnet. E<strong>in</strong>e übliche<br />

Bezeichnung lautet wie folgt:<br />

Σ =<br />

�<br />

A B<br />

C D<br />

Für die Berechnung e<strong>in</strong>es beliebigen Zustandes Φ lässt sich auch e<strong>in</strong>e analytische<br />

Lösung der Zustandsgleichung formulieren. Dabei wird der Ausgang des Systems außer<br />

Acht gelassen. Diese Gleichung lautet wie folgt:<br />

Φ(u; x0; t) := A t−t0 · x0 +<br />

�<br />

.<br />

t−1<br />

∑ A<br />

j=t0<br />

t−1−j · B · u(j) , t ≥ t0.<br />

Das heißt Φ(u; x0; t) ist der Zustand, der mit der Steuerung bzw. den E<strong>in</strong>gängen u<br />

vom Startzustand x0 zur Startzeit t0 nach der Zeit t erreicht wurde. Solche Systeme<br />

können auf verschiedene Eigenschaften wie Beobachtbarkeit, Stabilität, Erreichbarkeit<br />

und Steuerbarkeit untersucht werden.<br />

1.8 Beispiel e<strong>in</strong>es l<strong>in</strong>earen Systems<br />

Wir betrachten die zwei Städte Matheheim und Formelhausen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Region liegen.<br />

Im Folgenden untersuchen wir die E<strong>in</strong>wohnerzahl und das gesamte Steueraufkommen<br />

der beiden Städte <strong>in</strong> Zeitabschnitten von fünf Jahren.<br />

Die Stadträte der Städte kämpfen um Mehre<strong>in</strong>nahmen durch Steuergelder, die sie<br />

durch höhere E<strong>in</strong>wohnerzahlen erreichen wollen.<br />

Matheheim ist attraktiver als Formelhausen, weshalb 80% der Menschen aus Formelhausen<br />

<strong>in</strong>nerhalb von fünf Jahren nach Matheheim ziehen. In Formelhausen allerd<strong>in</strong>gs<br />

s<strong>in</strong>d die Steuern niedriger, weshalb 50% der Menschen im gleichen Zeit<strong>in</strong>tervall von<br />

Matheheim nach Formelhausen ziehen. Der Rest der Anwohner zieht nicht um.<br />

Innerhalb von fünf Jahren ziehen aber auch neue Bürger <strong>in</strong> die Städte, die vorher<br />

<strong>in</strong> anderen Regionen gelebt haben. Durch Angebote wie freie K<strong>in</strong>dergartenplätze oder<br />

Startprämien für Studenten, schafft es Formelhausen, 700 der aus anderen Regionen<br />

zuziehenden Menschen für sich zu gew<strong>in</strong>nen, 300 ziehen nach Matheheim.<br />

Die Besteuerung pro Kopf ist <strong>in</strong> den beiden Städten stark verschieden. Die Bewohner<br />

von Formelhausen zahlen alle fünf Jahre 2000 Euro, die Menschen aus Matheheim zahlen<br />

<strong>in</strong> der gleichen Zeit 5000 Euro.<br />

Die Bevölkerungssituation und die dazugehörigen Steuere<strong>in</strong>nahmen der beiden Städte<br />

lassen sich mathematisch als LTI-System modellieren. Die Zustandsgleichung x k+1 =<br />

A · x k + B · u k setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen:<br />

Die Transfermatrix<br />

18<br />

A =<br />

�<br />

0.5 0.8<br />

0.5 0.2<br />

�<br />

, A ∈ R 2×2 ,


1.9 Beobachtbarkeit<br />

beschreibt die Dynamik des Systems, also wie die schon <strong>in</strong> den Städten wohnhaften<br />

Personen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeit<strong>in</strong>tervall wandern. Die erste Spalte der Matrix gibt den Anteil<br />

der Menschen an, die <strong>in</strong> Matheheim bleiben, bzw. von Matheheim nach Formelhausen<br />

ziehen. In der zweiten Spalte stehen die Anteile der Anwohner, die von Formelhausen<br />

nach Matheheim ziehen, bzw. <strong>in</strong> Formelhausen bleiben.<br />

Der Zustandsvektor<br />

x k =<br />

�<br />

xm<br />

x f<br />

�<br />

, x k ∈ R 2<br />

gibt die E<strong>in</strong>wohnerzahl der Städte zu jedem Zeitpunkt k an, wobei das Intervall zwischen<br />

k und k + 1 fünf Jahre beträgt.<br />

Das System enthält auch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>gang, der durch die <strong>in</strong> die Region ziehenden<br />

Menschen gegeben ist. Dabei gibt der E<strong>in</strong>gang<br />

B · u k = b =<br />

die von außerhalb zuziehenden Menschen an, sich <strong>in</strong> Matheheim, bzw. Formelhausen<br />

niederlassen.<br />

Der Ausgang des Systems enthält die Steuere<strong>in</strong>nahmen der beiden Städte. Die Ausgangsgleichung<br />

lautet folgendermaßen: y k = C · x k + D · u k.<br />

C =<br />

�<br />

5000 0<br />

0 2000<br />

�<br />

�<br />

700<br />

300<br />

�<br />

,<br />

, C ∈ R 2×2 ,<br />

beschreibt die Besteuerung pro E<strong>in</strong>wohner <strong>in</strong> Matheheim und Formelhausen. Der Summand<br />

D · u k fällt weg, da die Steuerung u k ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf den Ausgang hat.<br />

In Abbildung 1.1 ist graphisch gezeigt, wie sich die E<strong>in</strong>wohnerzahlen und die Steuere<strong>in</strong>nahmen<br />

über 50 Jahre, also zehn Zeitabstände k verhält, wenn zu Anfang der Betrachtung<br />

jeweils 10000 Menschen sowohl <strong>in</strong> Matheheim als auch <strong>in</strong> Formelhausen leben und<br />

<strong>in</strong> jedem Zeit<strong>in</strong>tervall 1000 Menschen <strong>in</strong> die Region ziehen. Der Startvektor lautet also<br />

1.9 Beobachtbarkeit<br />

x0 =<br />

�<br />

10000<br />

10000<br />

Damit es möglich ist e<strong>in</strong> dynamisches System zu verändern, muss bekannt se<strong>in</strong>, wie es<br />

zu der Ausgabe y k kommt. Dies ist bekannt, wenn es möglich ist x0 aus der Ausgabe<br />

y k zu rekonstruieren. Denn dann ist der Startwert x0 e<strong>in</strong>deutig. Wenn es nun bei e<strong>in</strong>em<br />

dynamischen System möglich ist bei bekanntem u k von dem Ausgang y k <strong>in</strong> endlicher Zeit<br />

�<br />

.<br />

19


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

����������<br />

�������<br />

20<br />

�����<br />

�����<br />

�����<br />

�����<br />

�����<br />

�����<br />

����<br />

����<br />

� � �� �� �� �� �� �� �� �� ��<br />

��� �<br />

��� �<br />

��� �<br />

��� �<br />

��� �<br />

�����<br />

��������� ������������<br />

(a) Entwicklung der E<strong>in</strong>wohnerzahlen.<br />

� � �� �� �� �� �� �� �� �� ��<br />

�����<br />

��������� ������������<br />

(b) Entwicklung der Steuern.<br />

Abbildung 1.1: Entwicklung der E<strong>in</strong>wohnerzahlen und der Steuere<strong>in</strong>nahmen über 50 Jahre.


1.9 Beobachtbarkeit<br />

auf den Startwert x0 zu schließen, dann ist e<strong>in</strong> System <strong>in</strong> dem Zustand x0 beobachtbar.<br />

Wenn dies sogar für alle x ∈ R n möglich ist, dann ist das ganze System vollständig<br />

beobachtbar.<br />

Um festzustellen, ob e<strong>in</strong> System beobachtbar ist, müssen die e<strong>in</strong>zelnen Rekursionsschritte<br />

betrachtet werden. Bei diesen s<strong>in</strong>d die Summanden mit u k bekannt, weshalb<br />

diese nicht betrachtet werden müssen. So kann ohne Beschränkung der Allgeme<strong>in</strong>heit<br />

von u k = 0 ausgegangen werden. Also werden von dem System nur die Matrizen A und<br />

C betrachtet.<br />

Def<strong>in</strong>ition: E<strong>in</strong> Wert x ∈ R n ist genau dann unbeobachtbar, falls y k = Φ(0; x; k) =<br />

C · A k · x = 0 für alle k. Die Menge der unbeobachtbaren x sei X unobs . Dann ist e<strong>in</strong><br />

System genau dann vollständig beobachtbar falls X unobs = {0}.<br />

Für das System bedeutet dies, dass sich die Ausgabe y k bei jedem x unterscheidet.<br />

Dadurch lässt sich e<strong>in</strong>deutig sagen, vom welchem Startwert x0 ausgegangen wurde.<br />

Zu dem System existiert dann e<strong>in</strong>e Beobachtbarkeitsmatrix:<br />

⎛<br />

⎜<br />

QB(A, C) := ⎜<br />

⎝<br />

C<br />

C · A<br />

C · A 2<br />

.<br />

C · A n−1<br />

Diese Matrix hat die Dimension p · n × n. Mit Hilfe der Matrix, kann leicht bestimmt<br />

werden, ob das System beobachtbar ist. Nämlich genau dann, wenn die Anzahl der<br />

l<strong>in</strong>ear unabhängigen Zeilen bzw. Spalten gleich n ist. Diese Anzahl gibt der Rang e<strong>in</strong>er<br />

Matrix an.<br />

Also ist e<strong>in</strong> System genau dann beobachtbar, falls gilt:<br />

rang(QB) = n.<br />

Somit gibt es zwei äuqivalente Bed<strong>in</strong>gungen unter denen das System vollständig<br />

beobachtbar ist:<br />

– rang(QB) = n,<br />

– y k = C · A k · x = 0 für alle k.<br />

Ist e<strong>in</strong> System vollständig beobachtbar weiß man, dass man von jedem y k und k auf<br />

den Startwert x0 schließen kann.<br />

⎞<br />

⎟ .<br />

⎟<br />

⎠<br />

21


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

1.10 Steuerbarkeit bzw. Erreichbarkeit<br />

Die Steuerbarkeit e<strong>in</strong>es Systems ist e<strong>in</strong>e der grundlegenden Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e vernünftige<br />

Verarbeitung. Die Frage nach der Steuerbarkeit bedeutet, dass überprüft wird,<br />

ob <strong>in</strong> endlicher Zeit e<strong>in</strong> beliebiger Anfangszustand x0 durch e<strong>in</strong>e geeignete Steuerung<br />

u <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en beliebigen Endzustand x1 überführt werden kann. Vollständig steuerbar<br />

bedeutet, dass jeder Zustand (t0, x0) für alle x0 ∈ R n nach x1 ∈ R n gesteuert werden<br />

kann.<br />

Immer aus e<strong>in</strong>em System erschließbar ist die Steuerbarkeitsmatrix Q, die wie folgt<br />

def<strong>in</strong>iert wird:<br />

�<br />

Q = b Ab A2b . . . An−1b E<strong>in</strong> System ist vollständig steuerbar, wenn e<strong>in</strong>es der beiden folgenden Kriterien erfüllt<br />

ist:<br />

– Die Determ<strong>in</strong>ante der Steuerbarkeitsmatrix Q ungleich Null ist.<br />

�<br />

det(Q) = det<br />

�<br />

.<br />

b Ab A 2 b . . . A n−1 b<br />

�<br />

�= 0<br />

– Der Rang der Steuerbarkeitsmatrix Q gleich der Dimension des Systems ist.<br />

�<br />

rang(Q) = rang<br />

b Ab A 2 b . . . A n−1 b<br />

�<br />

= n<br />

Der Rang gibt an, wie viele l<strong>in</strong>ear unabhängige Spalten bzw. Zeilen die Steuerbarkeitsmatrix<br />

enthält.<br />

Für Systeme, die nicht vollständig steuerbar s<strong>in</strong>d, können nicht alle Zustände angesteuert<br />

werden, was man sich e<strong>in</strong>fach an e<strong>in</strong>em Beispiel vorstellen kann: Wenn e<strong>in</strong><br />

Heißluftballon fliegt, dann ist dieser nur <strong>in</strong> vertikaler Richtung steuerbar. In der Horizontalen<br />

wird die Richtung des Ballons vom W<strong>in</strong>d gesteuert, auf den man jedoch<br />

ke<strong>in</strong>erlei E<strong>in</strong>fluss nehmen kann. Demnach s<strong>in</strong>d Zustände entgegen der W<strong>in</strong>drichtung<br />

nicht erreichbar.<br />

1.11 Stabilität<br />

In diesem Abschnitt befassen wir uns mit e<strong>in</strong>er Eigenschaft der Stabilität dynamischer<br />

Systeme. Es geht darum zu überprüfen, ob Zustände <strong>in</strong> dynamischen Systemen für lange<br />

Zeit berechenbar bleiben oder ob sich bestimmte Werte so auf das System auswirken,<br />

dass es nicht mehr berechenbar ist. Dazu betrachten wir e<strong>in</strong> diskretes dynamisches<br />

System der Form x k+1 = Ax k + bu mit e<strong>in</strong>er Dynamikmatrix A ∈ R n×n , den Zuständen<br />

x k und dem E<strong>in</strong>gangsvektor b. Das System heißt stabil, falls für alle Eigenwerte λi von A<br />

22


1.12 Optimierung<br />

gilt: |λi| ≤ 1 und für |λi| = |λj| = 1 λi �= λj bei i ungleich j gilt. Der E<strong>in</strong>fachheit halber<br />

lassen wir den E<strong>in</strong>gang außer Betracht und erhalten x k+1 = Ax k.<br />

Es s<strong>in</strong>d nun drei Fälle zu unterscheiden: Wenn alle Beträge der Eigenwerte von A<br />

echt kle<strong>in</strong>er 1 s<strong>in</strong>d geht x k gegen 0 für e<strong>in</strong> größer werdendes k und das System heißt<br />

asymptotisch stabil. Andererseits falls der Betrag e<strong>in</strong>es Eigenwertes größer als 1 ist würde<br />

x k nicht gegen unendlich gehen, womit das System nicht stabil wäre. Falls ke<strong>in</strong> Betrag<br />

von den Eigenwerten größer 1 ist, aber m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er gleich 1 ist, läuft x k weder gegen<br />

0 noch <strong>in</strong>s Unendliche und bleibt damit berechenbar. Dabei müssen alle Eigenwerte<br />

paarweise verschieden se<strong>in</strong>, sonst würde x k gegen Unendlich gehen und wäre damit<br />

nicht stabil.<br />

Im Folgenden befassen wir uns vor allen D<strong>in</strong>gen damit, ob e<strong>in</strong> System asymptotisch<br />

stabil ist oder überhaupt nicht stabil ist. Es ist nun x1 = Ax0; x2 = Ax1 = A 2 x0;<br />

x3 = Ax2 = A 3 x0, also x k = A k x0. Um die Stabilität zu überprüfen müssen wir<br />

Zustände für große k ausrechnen, weshalb wir zunächst jedes A mit A = SΛS −1<br />

diagonalisieren. Dazu müssen wir annehmen, dass A n l<strong>in</strong>ear unabhängige Eigenvektoren<br />

hat, die wir als Spalten der Eigenvektormatrix S schreiben. Nun haben wir<br />

A k = (SΛS −1 )(SΛS −1 )...(SΛS −1 ). Da die Matrizenmultiplikation assoziativ ist, können<br />

wir jeweils S −1 S zur E<strong>in</strong>heitsmatrix zusammenfassen und erhalten A k = SΛ k S −1 . Danach<br />

können wir den Exponenten k von Λ k <strong>in</strong> die Matrix h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ziehen, so dass jeder<br />

Eigenwert den Exponenten k erhält. Nun können wir zum<strong>in</strong>dest schon das Verhalten<br />

der λk i für k gegen Unendlich abschätzen. Sobald der Betrag e<strong>in</strong>es Eigenwertes größer 1<br />

ist, geht die k-te Potenz dieses Eigenwertes ebenfalls gegen unendlich. Wenn aber die<br />

Beträge aller Eigenwerte kle<strong>in</strong>er 1 s<strong>in</strong>d, streben die k-ten Potenzen gegen 0.<br />

Jetzt drücken wir xk anders aus um auch das Verhalten für die xk abzuschätzen. Da wir<br />

n l<strong>in</strong>ear unabhängige Eigenvektoren vi haben, kann jeder Vektor (vor allen D<strong>in</strong>gen x0) als<br />

L<strong>in</strong>earkomb<strong>in</strong>ation der vi geschrieben werden. Also x0 = c1v1 + c2v2 + ... + cnvn mit ci als<br />

Skalaren (reelle Zahlen). Dazu multiplizieren wir A und können wegen Avi = λivi (was<br />

für die n l<strong>in</strong>ear unabhängigen Eigenvektoren gilt) x1 = c1λ1v1 + c2λ2v1 + ... + cnλnvn<br />

schreiben. Mehrmaliges multiplizieren mit A ergibt<br />

x k = c1λ k 1 v1 + c2λ k 2 v1 + ... + cnλ k nvn.<br />

Solange also bei e<strong>in</strong>em Eigenwert, dessen Betrag größer als 1 ist, der zugehörige<br />

konstante Faktor nicht 0 ist, strebt x k gegen Unendlich und ist damit <strong>in</strong>stabil. Wenn alle<br />

Beträge der Eigenwerte kle<strong>in</strong>er als 1 s<strong>in</strong>d, strebt x k gegen 0 und ist damit asymptotisch<br />

stabil. In der Literatur wird der Begriff stabil oft gleichbedeutend mit asymptotisch stabil<br />

verwendet.<br />

1.12 Optimierung<br />

Die statische Optimierung e<strong>in</strong>er Funktion f (x), f : R n −→ R zielt darauf ab das M<strong>in</strong>imum<br />

oder Maximum (den »optimalen Wert«) dieser zu ermitteln. Im Gegensatz zur<br />

optimalen Steuerung, die versucht e<strong>in</strong> dynamisches System bestmöglich zu steuern,<br />

23


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

ist die Optimierung e<strong>in</strong>e statische Analyse der so genannten Zielfunktion um den besten<br />

Wert e<strong>in</strong>es gewissen Systemzustands zu ermitteln. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Beispiel hierfür<br />

aus der Wirtschaft wäre die Gew<strong>in</strong>nfunktion, für welche e<strong>in</strong> jedes Unternehmen jedes<br />

Jahr das Maximum anhand von verschiedenen Parametern wie Materialkosten, Produktion<br />

oder Lohnkosten sucht. Die gesuchten Extrema dieser Zielfunktion werden<br />

e<strong>in</strong>dimensionalen Fall durch das zu Null setzten der ersten Ableitung ermittelt, und im<br />

n-dimensionalen Fall durch das Null setzten des Vektorgradienten ∇ f . Bei den meisten<br />

komplexen Zielfunktionen ist es aber kompliziert globale Extrema zu ermitteln, so dass<br />

man sich auf lokale Extremstellen, die durch weitere Nebenbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>gegrenzt<br />

werden können, beschränkt. In der Mathematik lassen sich manche Nebenbed<strong>in</strong>gungen<br />

durch setzten von Funktionen auf feste Werte ausdrücken g(x) = 0, g : R m −→ R<br />

ausdrücken. Das Lagrange-Multiplikator Gesetz besagt hierbei, dass die Lösungen für<br />

solche Optimierungsprobleme sich durch e<strong>in</strong>e neue Zielfunktion<br />

L(x, λ) = f (x) +<br />

m<br />

∑<br />

i=1<br />

λi · gi(x)<br />

berechnen lassen. Solche s<strong>in</strong>d nur an Stellen x zu f<strong>in</strong>den, für welche es Lagrange-<br />

Multiplikatoren λ gibt, die die Bed<strong>in</strong>gungen<br />

�<br />

∇xL(x, λ) = ∇x · f (x) + ∑ m i=1 λi · ∇xgi(x) = 0, λ ∈ R m<br />

∇λL(x, λ)gi(x) = 0<br />

erfüllen. Das s<strong>in</strong>d die notwendigen Bed<strong>in</strong>gungen für das F<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>es lokalen M<strong>in</strong>imums,<br />

wobei ∇λL(x, λ)gi(x) = 0 nur die Nebenbed<strong>in</strong>gungen des Anfangs wiederholt. Die<br />

Lösungen dafür nennt man kritische Punkte. Nun ist es aber im n-dimensionalen Raum<br />

wie im 1-dimensionalen so, dass die e<strong>in</strong>e Nullstelle der ersten Ableitung auch e<strong>in</strong>en<br />

Sattelpunkt statt e<strong>in</strong>es Extremums bedeuten kann. Um hierbei zu unterscheiden, gibt<br />

24


1.13 Optimale Steuerung<br />

es die h<strong>in</strong>reichenden Bed<strong>in</strong>gungen, die die zweite Ableitungen der Lagrange-Funktion<br />

benötigen, die sich wie folgt ausdrücken:<br />

s T · ∇ 2 xxL( ˆx, ˆλ) · s ≥ 0, ∀s ∈ R n mit ∇x(gi( ˆx)) T · s = 0.<br />

Wobei ˆx, ˆλ kritische Punkte aus den notwendigen Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d.<br />

1.13 Optimale Steuerung<br />

Das Ziel der optimalen Steuerung ist es, E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> das System möglichst effizient<br />

zu regulieren. Die meisten Optimierungsprobleme lassen sich auf l<strong>in</strong>ear-quadratische<br />

Regulatorprobleme zurückführen, die durch folgende Zielfunktion beschrieben werden:<br />

J(x, u) = 1<br />

N−1<br />

2<br />

∑<br />

k=0<br />

(x T k Q kx k + u T k R ku k) + 1<br />

2 xT N SNxN.<br />

Dabei werden die Matrizen Q k, R k und S k verwendet, um abhängig vom Ziel der<br />

Optimierung die Variablen des Systems (x k, u k, xN) verschieden zu gewichten. Soll zum<br />

Beispiel die Steuerung u k und deren M<strong>in</strong>imierung stärker gewichtet werden, als das<br />

Erreichen der Zustände x k, so werden Q k und RK so gewählt, dass �R k� < �Q k�.<br />

Ziel ist es nun, J(x, u) zu m<strong>in</strong>imieren, wobei die Systemgleichung x k+1 = Ax k + Bu k<br />

als Nebenbed<strong>in</strong>gung betrachtet wird. Diese Problemstellung lässt sich so auf die statische<br />

Optimierung zurückführen und man erhält die neue Zielfunktion:<br />

˜J(x, u, λ) =<br />

N−1<br />

∑<br />

k=0<br />

( 1<br />

2 (xT k Q kx k + u T k R ku k) + λ T k+1 (A kx k + B ku k − x k+1)) + 1<br />

2 xT N SNxN.<br />

Die auftretenden Lagrange-Multiplikatoren λi, wurden im Zusammenhang mit der<br />

Lagrange-Funktion (siehe Abschnitt 1.12) bereits erwähnt. Durch Bildung des Gradienten<br />

nach den Variablen x, u, λ und Umformung erhält man die folgenden Gleichungen:<br />

x k = A −1<br />

k x k+1 + A −1<br />

k B kR −1<br />

k BT k λ k+1, (1.1)<br />

λ k = Q kx k + A T k λ k+1, (1.2)<br />

u k = −R −1<br />

k BT k λ k+1. (1.3)<br />

Im folgenden Betrachten wir e<strong>in</strong> System mit e<strong>in</strong>em fest vorgegebenen Endzustand<br />

xn := rn. Wir betrachten e<strong>in</strong> LTI-System, das heißt, die Systemmatrizen A, B und die<br />

Gewichtungsmatrix R s<strong>in</strong>d zeitunabhängig. Wir setzen Q k = 0 und SN = 0, da sowohl<br />

der Anfangszustand x0 als auch der Endzustand rN vorgegeben s<strong>in</strong>d und wir daher<br />

die Zustände x k (0 < k < N) als nicht relevant für die Steuerung betrachten, was das<br />

System deutlich vere<strong>in</strong>facht. Daher erhalten wir die neue Zielfunktion J0:<br />

J0(u) = 1<br />

N−1<br />

2<br />

∑<br />

k=0<br />

u T k Ru k.<br />

25


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

Aus Gleichung (1.2) folgt durch Rückwärtsiteration:<br />

E<strong>in</strong>gesetzt <strong>in</strong> Gleichung (1.1) ergibt:<br />

λ k = A T λ k+1 ⇒ λ k = (A T ) N−k λN.<br />

x k+1 = Ax k − BR −1 B T (A T ) N−k−1 λN.<br />

Unter Verwendung der analytischen Lösung e<strong>in</strong>es diskreten Systems (siehe Abschnitt<br />

1.7) erhält man:<br />

x k = A k x0 −<br />

N−1<br />

∑ A<br />

i=1<br />

k−i−1 BR −1 B T R T (A T ) N−i−1<br />

� �� �<br />

=:G k<br />

Für k = N ergibt sich unter der Annahme, dass GN <strong>in</strong>vertierbar ist,<br />

λN = G −1<br />

N (AN x0 − rN).<br />

Dieses Ergebnis setzt man <strong>in</strong> Gleichung (1.4) e<strong>in</strong>:<br />

λ k = (A T ) N−k G −1<br />

N (AN x0 − rN).<br />

Das wiederum <strong>in</strong> Gleichung (1.3) e<strong>in</strong>gesetzt, ergibt:<br />

λN. (1.4)<br />

u ∗ k = R−1 B T (A T ) N−k−1 G −1<br />

N (rN − A N x0). (1.5)<br />

Um die Herleitung zu vervollständigen, bleibt zu zeigen, wann unsere Annahme GN sei<br />

<strong>in</strong>vertierbar zutrifft. Es gilt:<br />

GN = R<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

R −1 0<br />

. ..<br />

0 R −1<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ R T ,<br />

wobei R die Erreichbarkeitsmatrix (siehe Abschnitt 1.10) bezeichnet. GN ist <strong>in</strong>vertierbar,<br />

wenn det(GN) �= 0 und somit wenn das System vollständig erreichbar ist und N > n ist.<br />

In Gleichung (1.5) lässt sich nun die Steuerung u k für jedes 0 ≤ k ≤ N alle<strong>in</strong> anhand<br />

der Systemmatrizen und dem vorgegebenen Anfangs- und Endzustand berechnen. Es<br />

liegt ke<strong>in</strong>e Zustandsrückkoppelung vor, da die Steuerung nicht vom aktuellen Zustand x k<br />

abhängig ist. Dadurch können Abweichungen von der Steuerung oder der modellierten<br />

Realität teils drastische Auswirkungen haben.<br />

Ist lediglich der Startzustand x0 gegeben, nicht jedoch der Endzustand xN, so ist<br />

Q k = 0 sowie SN = 0 ke<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>volle Vere<strong>in</strong>fachung. Durch Bildung der partiellen<br />

und mit Hilfe des Konzepts der statischen Optimierung erhält man e<strong>in</strong>e<br />

explizite Formel für die optimale Steuerung u∗ k :<br />

Ableitung ∂ ˜J<br />

∂xN<br />

26


u ∗ k = − (R k + B T k S k+1B k) −1 B T k S k+1A k<br />

�<br />

= −Kkxk, ��<br />

=:Kk �<br />

x k,<br />

1.14 Modellreduktion<br />

dabei bezeichnet K k die Kalman-Folge. In diesem Falle ist die Steuerung vom Zustand x k<br />

abhängig, es liegt also e<strong>in</strong>e Zustandsrückkopplung vor.<br />

1.14 Modellreduktion<br />

Bei der Modellierung komplexer Sachverhalte, wie zum Beispiel des Wetters, erhält<br />

man dynamische Systeme sehr hoher Dimension n (A ∈ Rn×n , B ∈ Rn×m , C ∈ Rp×n ,<br />

D ∈ Rp×m ), die mit entsprechend großem Rechenaufwand verbunden s<strong>in</strong>d.<br />

Ziel der Modellreduktion ist daher die Konstruktion e<strong>in</strong>es reduzierten Systems ˆΣ mit<br />

 ∈ Rr×r , ˆB ∈ Rr×m , Ĉ ∈ Rp×r , ˆD ∈ Rp×m und r ≪ n, wodurch der Rechenaufwand<br />

deutlich verr<strong>in</strong>gert wird. Dabei wird angestrebt, dass die Differenz der Ausgänge ||y − ˆy||<br />

bei gleichem E<strong>in</strong>gang u möglichst kle<strong>in</strong> ist. Dabei ist die Auswahl der Zustände, die<br />

bei der Erstellung von ˆΣ vernachlässigt werden, von entscheidender Bedeutung. E<strong>in</strong>e<br />

mögliche Methode um diese Auswahl zu treffen ist das Balanced Truncation (Balanciertes<br />

Abschneiden). Dazu benötigt man zunächst die »Unendliche Gramsche Matrix der<br />

Erreichbarkeit«<br />

P =<br />

∞<br />

∑ (A<br />

k=0<br />

k BB T (A T ) k ),<br />

und die »Unendliche Gramsche Matrix der Beobachtbarkeit«<br />

Q =<br />

∞<br />

∑ ((A<br />

k=0<br />

T ) k C T CA k ).<br />

Mit Hilfe dieser Matrizen kann man folgende Berechnungen machen:<br />

– Die m<strong>in</strong>imale Energie um von x0 = 0 zu e<strong>in</strong>em Zustand ¯x zu steuern, ist<br />

||u|| 2 = ¯x T P −1 ¯x<br />

⇒ Die am schwierigsten zu erreichenden Zustände, liegen dann <strong>in</strong> den Eigenräumen<br />

zu den kle<strong>in</strong>sten Eigenwerten von P.<br />

– Die maximale Energie, die durch ¯x erzeugt werden kann, ist<br />

||y|| 2 = ¯x T Q ¯x<br />

⇒ Die am schwierigsten zu beobachtenden Zustände, liegen dann <strong>in</strong> den Eigenräumen<br />

zu den kle<strong>in</strong>sten Eigenwerten von Q.<br />

27


1 Dynamische Systeme auf dem optimalen Weg<br />

Ziel ist es schwer erreichbare und schwer beobachtbare Zustände »abzuschneiden«.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs stimmen schwer erreichbare und schwer beobachtbare Zustände im Allgeme<strong>in</strong>en<br />

nicht übere<strong>in</strong>. Systeme <strong>in</strong> denen schwer beobachtbare und schwer erreichbare<br />

Zustände übere<strong>in</strong>stimmen, und die deshalb e<strong>in</strong>facher behandelt werden können, heißen<br />

balanciert. Für sie gilt dann P = Q.<br />

Noch e<strong>in</strong>facher ist die Behandlung der Systeme, wenn P und Q nur Werte auf ihrer<br />

Diagonalen haben. Dann spricht man von Hauptachsen-balancierten Systemen,<br />

P = Q =<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

σ1<br />

. ..<br />

0<br />

0 σn<br />

Die σi = � λi(PQ) für i = 1, . . . , n heißen dabei Hankel-S<strong>in</strong>gulärwerte.<br />

Für die Methode des Balancierten Abschneidens überführt man das zu reduzierende<br />

System Σ durch e<strong>in</strong>e Transformation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Hauptachsen-balancierte Form – man<br />

balanciert das System.<br />

Hat man dann die folgende Darstellung<br />

mit<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

A11 A12 B1<br />

A21 A22 B2<br />

C1 C2 D<br />

Λ1 =<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

σ1<br />

⎞<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ .<br />

⎟<br />

⎠ und P = Q =<br />

. ..<br />

0<br />

0 σr<br />

⎞<br />

�<br />

Λ1 0<br />

0 Λ2<br />

⎟<br />

⎠ und A11 ∈ R r×r ,<br />

so lässt sich durch Abschneiden e<strong>in</strong>e Reduzierung durchführen. Das reduzierte System<br />

setzt sich dann folgendermaßen zusammen:<br />

�<br />

A11 B1<br />

C1 D<br />

So hat man e<strong>in</strong>e Ordnungsreduktion von Σ durchgeführt. Die Anzahl der Variablen<br />

im Modell wurde reduziert und die Dimension des Systems somit verr<strong>in</strong>gert.<br />

1.15 Literatur<br />

Als Literatur wurden Aufzeichnungen aus Vorlesungen an der Universität Bremen<br />

verwendet, sowie die folgenden Fachbücher:<br />

[1] Antoulas, Athanasios C.: Approximation of Large-Scale Dynamical Systems (Advances <strong>in</strong><br />

Design and Control). Philadelphia, PA, USA 2005.<br />

[2] Strang, Gilbert: L<strong>in</strong>eare Algebra. Heidelberg 2003.<br />

28<br />

�<br />

.<br />

�<br />

,


2 Biotechnologie im Alltag<br />

2.1 Vorwort<br />

Andrea Freikamp und Philip Weyrauch<br />

In den vergangenen Jahren hat die Biotechnologie e<strong>in</strong>en wahren Boom erlebt und sich<br />

zu e<strong>in</strong>em wichtigen und weiterh<strong>in</strong> stark wachsenden Wirtschaftszweig entwickelt. Doch<br />

die Verwendung von Mikroorganismen zur Herstellung verschiedener Produkte ist<br />

ke<strong>in</strong>eswegs neu. Schon vor tausenden von Jahren machten sich Menschen unbewusst die<br />

Stoffwechselleistungen von e<strong>in</strong>zelligen Lebewesen zu Nutze, wie zum Beispiel bei der<br />

Gärung von Traubensaft zu We<strong>in</strong>. Inzwischen s<strong>in</strong>d die dafür verantwortlichen Prozesse<br />

bekannt und zahlreiche molekularbiologische und gentechnische Methoden machen es<br />

möglich, Mikroorganismen, aber auch Tiere oder Pflanzen, gezielt zu verändern und für<br />

spezielle Zwecke zu entwickeln.<br />

Wird <strong>in</strong> der Öffentlichkeit über Biotechnologie diskutiert, stehen meist umstrittene<br />

Anwendungen wie genetisch veränderte Lebensmittel im Zentrum der Debatte. Darüber<br />

geraten andere, schon seit langem etablierte Anwendungen der Biotechnologie leicht <strong>in</strong><br />

Vergessenheit. Beispiele s<strong>in</strong>d die Zugabe von Enzymen zu Waschmitteln oder die Verwendung<br />

von Mikroorganismen zur Synthese chemischer Verb<strong>in</strong>dungen, die unter anderem<br />

auch Lebensmitteln zugesetzt werden – als wichtige Vertreter wären hier Zitronensäure,<br />

Glutamat und Aromastoffe zu nennen. Diese modernen Anwendungsbeispiele standen<br />

ebenso wie molekularbiologische Methoden im Fokus unserer Kursarbeit.<br />

2.2 Biotechnologie <strong>in</strong> der Lebensmittel<strong>in</strong>dustrie<br />

Biotechnologie ist überall zu f<strong>in</strong>den, auch da, wo wir es nicht erwarten. Allgeme<strong>in</strong><br />

wird sie als Anwendung von Naturwissenschaft und Technologie an lebenden Organismen,<br />

den Teilen und Produkten von ihnen verstanden (Def<strong>in</strong>ition gemäß der OECD).<br />

Zusätzlich wird sie <strong>in</strong> drei Teilbereiche unterteilt: die weiße, rote und grüne Biotechnologie,<br />

wobei weiß für <strong>in</strong>dustrielle, rot für mediz<strong>in</strong>isch-pharmazeutische und grün für<br />

landwirtschaftliche Anwendungen der Biotechnologie stehen.<br />

Alltäglich begegnet uns diese Technologie <strong>in</strong> den Lebensmitteln, die wir zu uns<br />

nehmen. So s<strong>in</strong>d es Mikroorganismen, die uns beispielsweise We<strong>in</strong>, Bier und viele<br />

verschiedene Käsesorten schaffen. Früher unbewusst e<strong>in</strong>gesetzt, um Lebensmittel haltbarer<br />

zu machen, werden sie heute gezielt verwendet – für Geschmacks- und Aromaveränderung<br />

sowie zur Erhöhung der gesundheitlichen Wertigkeit und zum Erzielen<br />

e<strong>in</strong>er berauschenden Wirkung. Durch Gärungen, bei denen organisches Material von<br />

Mikroorganismen unter Anaerobie (Ausschluss von Sauerstoff) abgebaut wird, entstehen<br />

für die Lebensmittel <strong>in</strong>teressante Stoffwechselprodukte. Während bei aeroben<br />

31


2 Biotechnologie im Alltag<br />

Bed<strong>in</strong>gungen (<strong>in</strong> Anwesenheit von Sauerstoff) nur Kohlenstoffdioxid und Wasser entstehen,<br />

s<strong>in</strong>d es bei Gärungen z. B. Milchsäure (Lactat) und Ethanol.<br />

Damit die verschiedenen Mikroorganismen ihre Funktionen durchführen können,<br />

beg<strong>in</strong>nt man mit e<strong>in</strong>er Starterkultur. Diese übernimmt dabei die Pionierfunktion und<br />

besiedelt das Nahrungsmittel als erstes. Zudem ist durch diese Kultur die erste Säureoder<br />

Alkoholproduktion möglich, die zur Konservierung des Lebensmittels beiträgt. Des<br />

Weiteren gibt man Schutzkulturen zu der Fermentation (Gärung), um das Wachstum<br />

von Krankheitserregern zu verh<strong>in</strong>dern. Zudem gibt es noch Reifungs- und probiotische<br />

Kulturen (auch: Probiotika), wobei die Reifungskulturen für die Entwicklung des Aromas<br />

und Geschmacks der Lebensmittel zuständig s<strong>in</strong>d. Die Probiotika verändern die<br />

funktionellen Eigenschaften der Lebensmittel, d. h. sie können e<strong>in</strong>e positive gesundheitliche<br />

Wirkung für uns haben, wenn genug von ihnen aktiv <strong>in</strong> den Darm gelangen.<br />

Beispielsweise können sie den Verlauf von Infektionen im Verdauungstrakt mildern<br />

und/oder verkürzen.<br />

Den Prozess der Fermentation können vor allem Bakteriophagen stören. Diese <strong>in</strong>fizieren<br />

die Bakterien und zerstören sie durch ihre Vermehrung. Der Hauptgrund für<br />

Säuerungsstörungen <strong>in</strong> milchverarbeitenden Betrieben s<strong>in</strong>d eben genannte Bakteriophagen.<br />

E<strong>in</strong> weiteres Problem bei der Fermentation kann e<strong>in</strong>e Fehlgärung se<strong>in</strong>. Das kann<br />

beispielsweise durch Propionsäurebakterien geschehen, die <strong>in</strong> Hartkäsen vorhanden und<br />

für die Löcher oder Augen im Käse verantwortlich s<strong>in</strong>d. Diese Bakterien setzen unter<br />

bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen Lactat unter Bildung von Kohlenstoffdioxid und Wasserstoff<br />

zu Buttersäure um. Die Buttersäure macht den Käse dann ungenießbar. Trotz der Fehlgärungen,<br />

die auftreten können, haben wir durch die Mikroorganismen e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

an Käsesorten gewonnen und es durch Aromen geschafft, viele Geschmackssorten zu<br />

entwickeln.<br />

2.3 Bioverfahrenstechnik<br />

Die Bioverfahrenstechnik, welche die technologische Teildiszipl<strong>in</strong> der Biotechnologie<br />

darstellt, hat das Ziel, Anlagen für die Biokatalyse von bestimmten Stoffumwandlungen<br />

zu entwickeln, die effizient arbeiten und den speziellen Anforderungen der verwendeten<br />

biologischen Systeme entsprechen. Des Weiteren müssen Verfahren zur ständigen Kontrolle<br />

des Prozesses und e<strong>in</strong>e Aufarbeitung der entstehenden Produkte konzipiert werden.<br />

Optimierung und Erweiterung dieser Anlagen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> weiteres Teilgebiet der Bioverfahrenstechnik.<br />

Wichtigster Bestandteil dieser Anlagen s<strong>in</strong>d Bioreaktoren, die optimale<br />

Bed<strong>in</strong>gungen für die jeweiligen spezifischen Biokatalysatoren (Mikroorganismen bzw.<br />

isolierte Enzyme) bieten.<br />

Es gibt viele verschiedene Bioreaktoren, welche alle Vor- und Nachteile haben. Der<br />

traditionellste und am häufigsten verwendete Bioreaktor ist der Rührkesselbioreaktor,<br />

welcher z. B. bei der Bierherstellung verwendet wird. Das Gehäuse des Rührkesselbioreaktors<br />

besteht meistens aus austenitischem Stahl (max. Kohlenstoffanteil von 0.08 %);<br />

nur wenn das im Reaktor bef<strong>in</strong>dliche Medium hochkorrosiv ist, muss Titan verwendet<br />

32


2.3 Bioverfahrenstechnik<br />

werden. Weitere wichtige Bestandteile dieses Reaktors s<strong>in</strong>d der Rührer, welcher zur<br />

Dispersion/Durchmischung dient, und Strombrecher, welche e<strong>in</strong>e Wirbelbildung bei<br />

hohen Drehzahlen verh<strong>in</strong>dern. Die Temperatur im Reaktor wird durch e<strong>in</strong>en von Wasser<br />

durchflossenen Doppelmantel reguliert. Bei aeroben Fermentationen ist e<strong>in</strong> Begaser zum<br />

E<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen von Sauerstoff vorhanden.<br />

Im Gegensatz zum Rührkessel-Bioreaktor hat der Air-Lift-Schlaufenreaktor ke<strong>in</strong>en<br />

Rührer, sondern der Begaser übernimmt die Aufgabe der Durchmischung des Mediums.<br />

Dabei wird durch den Begaser Luft <strong>in</strong> den Reaktor geschleust, sodass es <strong>in</strong> diesem Teil<br />

zum Aufsteigen des Mediums kommt (»Riser« genannt). An der Oberfläche angekommen<br />

verlässt der Großteil der Blasen das Medium, wodurch dieses dichter wird und<br />

wieder <strong>in</strong> den unteren Teil des Reaktors abs<strong>in</strong>kt (»Downcomer«). Der »Riser« und der<br />

»Downcomer« werden dabei von Trennblechen isoliert, sodass es zu e<strong>in</strong>er umlaufenden<br />

Strömung kommen kann. Es gibt e<strong>in</strong>e abgewandelte Form dieses Bioreaktors, bei dem der<br />

»Downcomer« extern angeordnet ist. Dies hat den Vorteil, dass man den Durchmesser<br />

des »Downcomers« verr<strong>in</strong>gern kann und sich dadurch die Fließgeschw<strong>in</strong>digkeit erhöhen<br />

lässt. Das Erhöhen der Fließgeschw<strong>in</strong>digkeit ermöglicht e<strong>in</strong>e bessere Durchmischung<br />

des Mediums.<br />

In e<strong>in</strong>igen Bioreaktoren, wie z. B. im Festbettreaktor, benutzt man Trägermaterialien,<br />

um die Biokatalysatoren zu immobilisieren. Dabei wird das Medium extern mit Sauerstoff<br />

und Nährstoffen versorgt und dann durch e<strong>in</strong> Festbett mit den Trägermaterialien<br />

geleitet. Die Trägermaterialien müssen e<strong>in</strong>ige Bed<strong>in</strong>gungen erfüllen, wie zum Beispiel<br />

e<strong>in</strong>e hohe Porosität und e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Durchmesser zur Vergrößerung der Oberfläche,<br />

auf dem die Biokatalysatoren wachsen können. Allerd<strong>in</strong>gs sollte das Trägermaterial<br />

nicht zu kle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>, da es sonst zum Verwachsen der Poren kommen kann und somit zu<br />

e<strong>in</strong>er Kanalbildung im Festbett, wodurch die Versorgung für e<strong>in</strong>ige Mikroorganismen<br />

abgeschnitten wird. Da <strong>in</strong> diesen Reaktoren die Mikroorganismen e<strong>in</strong>e lange Lebenszeit<br />

haben, lassen sich große Suspensionsreaktoren (mehrere hundert Liter) bereits durch<br />

Festbettreaktoren mit e<strong>in</strong>em Volumen von 5–10 l ersetzen; allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d diese schwer<br />

zu re<strong>in</strong>igen und zudem ist das Scale-Up dieser Reaktoren e<strong>in</strong> weiterer kritischer Faktor.<br />

Der Anspruch, die Prozesse der Fermentation möglichst ökonomisch zu gestalten,<br />

führte zur Entwicklung verschiedener Verfahren. Das ursprünglichste und e<strong>in</strong>fachste Verfahren,<br />

welches auch die weiteste Verbreitung <strong>in</strong> den verschiedenen Industriebranchen<br />

f<strong>in</strong>det, ist das Batch-Verfahren. In e<strong>in</strong>em Bioreaktor wird Substrat von Biokatalysatoren<br />

umgesetzt. Während der Reaktion bleibt das Volumen des Mediums weitgehend unverändert,<br />

es werden lediglich Stoffe h<strong>in</strong>zugegeben um wichtige Parameter wie beispielsweise<br />

den pH-Wert zu optimieren. Nach Ablauf des Prozesses wird das Medium aus dem<br />

Reaktor entnommen und die Produkte <strong>in</strong> verschiedenen Aufarbeitungsschritten isoliert.<br />

Schon erste, unbewusste Fermentationen von Lebensmitteln (zum Beispiel Bierbrauen)<br />

funktionierten nach diesem Pr<strong>in</strong>zip. Höhere Effizienz, aber auch gesteigerte Ansprüche<br />

an die Technologie, bietet das Fed-Batch-Verfahren. Es läuft zunächst wie der Batch<br />

ab. Ist das Substrat jedoch weitgehend verbraucht, wird neues, konzentriertes Substrat<br />

(Feed) h<strong>in</strong>zugegeben. Frisches Substrat regt das Wachstum der Mikororganismen an,<br />

sodass diese ke<strong>in</strong>e stationäre Phase erreichen.<br />

33


2 Biotechnologie im Alltag<br />

Während die erstgenannten Verfahren e<strong>in</strong>e diskont<strong>in</strong>uierliche Fermentation be<strong>in</strong>halten,<br />

ermöglicht der Chemostat e<strong>in</strong>en kont<strong>in</strong>uierlichen Prozess. Dabei wird ständig e<strong>in</strong> Feed<br />

<strong>in</strong> den Reaktor e<strong>in</strong>gebracht. Gleichzeitig fließt Medium ab, was aufgrund niedriger<br />

Produktkonzentrationen höhere Ansprüche an die Isolation von bestimmten Stoffen<br />

aus diesem stellt. Dieses Verfahren f<strong>in</strong>det vor allem <strong>in</strong> der Umwelttechnik Verwendung.<br />

Bef<strong>in</strong>det sich am Abfluss des Chemostat e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit, die Biomasse (Zellen) abscheidet<br />

und <strong>in</strong> den Reaktor zurückführt, spricht man von Perfusion mit Zellzurückhaltung.<br />

Sollen Zellen den Reaktor nicht verlassen, ist dieses Verfahren e<strong>in</strong>e Möglichkeit, die im<br />

Vergleich zur Dialyse weniger aufwändig ist. Bei der Dialyse fließt frisches Medium am<br />

Medium des Reaktors vorbei. Die Membran, welche beide Medien vone<strong>in</strong>ander trennt,<br />

ist semipermeabel und ermöglicht die Diffusion von Substrat oder Produkten. Entweder<br />

ist das hochmolekulare Produkt nicht <strong>in</strong> der Lage durch die Membran zu diffundieren,<br />

oder die Membran dient lediglich dazu, die Biomasse im Reaktor anzureichern. Der<br />

erste Fall hat e<strong>in</strong>e hohe Produktkonzentration zur Folge, welche weniger aufwändig<br />

aufbereitet werden muss.<br />

Jedes der e<strong>in</strong>zelnen Verfahren stellt andere Ansprüche an die Prozesskontrolle und<br />

Prozesssteuerung. So müssen bei kont<strong>in</strong>uierlichen Verfahren e<strong>in</strong> Auswaschen der Biomasse<br />

durch e<strong>in</strong>e zu hohe Verdünnungsrate verh<strong>in</strong>dert werden. Außerdem muss der<br />

Prozess mit den Anforderungen der e<strong>in</strong>gesetzten Biokatalysatoren kompatibel se<strong>in</strong>.<br />

Weiterh<strong>in</strong> ist auch abzuwägen, ob der technische Aufwand e<strong>in</strong>er Dialyse ökonomischer<br />

ist als zusätzliche Aufbereitungsschritte <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit e<strong>in</strong>em wenig komplexen<br />

Batch-Verfahren.<br />

34


2.4 Antibiotika<br />

2.4 Antibiotika<br />

Antibiotika s<strong>in</strong>d Substanzen mit ger<strong>in</strong>ger molekularer Masse, die schon bei niedrigen<br />

Konzentrationen das Wachstum von Mikroorganismen (Bakterien oder Pilze) hemmen.<br />

Sie wirken gegen diese wachstums<strong>in</strong>hibierend (bakteriostatisch) oder irreversibel schädigend<br />

(bakterizid). Seit es Alexander Flem<strong>in</strong>g im Jahre 1929 gelang, mit dem Pilz<br />

Penicillium notatum das Wachstum des Bakteriums Staphylococcus aureus auf e<strong>in</strong>er<br />

Agarplatte zu hemmen, gelten Antibiotika als wichtigste Entdeckung <strong>in</strong> der Mediz<strong>in</strong>.<br />

Mikroorganismen stellen bis heute die entscheidende Gruppe dar, aus denen Antibiotika<br />

isoliert werden. Obwohl bereits mehr als 12 000 Substanzen bekannt s<strong>in</strong>d, geht die Suche<br />

nach neuen Wirkstoffen ständig weiter, da noch längst nicht alle Verb<strong>in</strong>dungen mit<br />

antibiotischer Wirkung gefunden wurden. Von den fädigen Bakterien, den Streptomyces,<br />

wurden beispielsweise erst ca. 3–5 % erforscht.<br />

Nun stellt sich die Frage, wie e<strong>in</strong> Antibiotikum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bakterienzelle wirkt. Es<br />

greift mit bestimmten Mechanismen <strong>in</strong> die Zellwandsynthese, die Prote<strong>in</strong>synthese,<br />

die DNA-Replikation usw. e<strong>in</strong>. In der Zellwand hemmen z. B. ß-Laktam-Antibiotika<br />

wie Penicill<strong>in</strong> die Biosynthese bestimmter Makromoleküle (Peptidoglykane), die der<br />

Zellwand Stabilität verleihen. Die Übersetzung der mRNA <strong>in</strong> Am<strong>in</strong>osäureketten wird<br />

durch das Antibiotikum Chloramphenicol unterbrochen.<br />

Da Antibiotika leider oft falsch angewendet und zu schnell an den Patienten vergeben<br />

werden, nimmt die bakterielle Resistenzentwicklung immer weiter zu. Auch die<br />

Verwendung von Antibiotika <strong>in</strong> der Viehzucht stellt e<strong>in</strong>e wichtige Ursache für die Verbreitung<br />

von Resistenzen und der daraus resultierenden Gefahr dar. Bakterien können<br />

auf verschiedene Weise zu ihrer Resistenz gegenüber e<strong>in</strong>em Antibiotikum gelangen.<br />

Man unterscheidet primäre oder natürliche Resistenzen von sekundären, erworbenen<br />

Resistenzen. Bei den primären Resistenzen besitzt das Antibiotikum bei dem Bakterium<br />

e<strong>in</strong>e Wirkungslücke und ist von vornhere<strong>in</strong> unwirksam. Cephalospor<strong>in</strong>e wirken beispielsweise<br />

nicht bei Enterokokken. Bei den sekundären Resistenzen wäre das Bakterium<br />

eigentlich empf<strong>in</strong>dlich gegen das Antibiotikum, jedoch s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>zelne Stämme resistent<br />

geworden. Dies geschieht durch Mutation oder Übertragung von Resistenz vermittelten<br />

Genen durch Transformation, Transduktion oder Konjugation. Der Schutz der Bakterien<br />

vor Antibiotika kann folgendermaßen aussehen: Sie können Enzyme bilden, die<br />

die Antibiotika spalten oder ändern. So werden die Antibiotika unwirksam oder <strong>in</strong>aktiviert.<br />

Außerdem können die Bakterien sogenannte Efflux-Pumpen ausbilden, die<br />

die Antibiotikakonzentration im Bakterium so ger<strong>in</strong>g halten, dass das Antibiotikum<br />

ebenfalls nicht wirken kann.<br />

In Deutschland sterben jährlich 40 000 Menschen aufgrund multiresistenter Keime. Je<br />

häufiger Antibiotika e<strong>in</strong>gesetzt werden, desto höher ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, dass neue<br />

Resistenzen entstehen, also ist e<strong>in</strong>e rationale Anwendung von Antibiotika unerlässlich,<br />

um die oft unterschätzte Gefahr der Resistenzen e<strong>in</strong>zudämmen.<br />

35


2 Biotechnologie im Alltag<br />

2.5 Enzymscreen<strong>in</strong>g und rekomb<strong>in</strong>ante Prote<strong>in</strong>produktion<br />

2.5.1 Enzymscreen<strong>in</strong>g<br />

Enzyme als Alternative zu umweltschädlichen Chemikalien s<strong>in</strong>d gerade für die Industrie<br />

<strong>in</strong>teressant, z. B. als Fettfleckentferner <strong>in</strong> Waschmitteln, denn sie arbeiten meist sehr<br />

spezifisch und werden dafür nur <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gen Mengen benötigt. Außerdem s<strong>in</strong>d sie<br />

biologisch abbaubar.<br />

Beim Enzymscreen<strong>in</strong>g sucht man nach Enzymen, die e<strong>in</strong>e bestimmte Funktion erfüllen,<br />

um sie für <strong>in</strong>dustrielle Prozesse zu nutzen. Zunächst wird das Problem def<strong>in</strong>iert und auf<br />

se<strong>in</strong> Geschäftspotenzial analysiert. Entscheidet man sich zur Umsetzung des Projekts,<br />

werden zuerst die Kriterien für die gewünschte Anwendung bestimmt, darunter die<br />

umzusetzende Substanz, der pH-Wert und die Temperatur. Danach wird daraus e<strong>in</strong><br />

biochemischer Assay entwickelt, d. h. die Umgebung, <strong>in</strong> der das Enzym später se<strong>in</strong>e<br />

spezifische Wirkung entfalten soll.<br />

Beim primären und sekundären Screen<strong>in</strong>g gibt man potentielle Enzyme h<strong>in</strong>zu und<br />

selektiert solche mit positivem Ergebnis, wobei der Assay beim sekundären Screen<strong>in</strong>g<br />

selektiver gestaltet wird. Um die Enzyme <strong>in</strong> größerem Maßstab herstellen und testen zu<br />

können, werden die Gene für die Enzyme aus dem Spenderorganismus isoliert und <strong>in</strong><br />

Wirtsorganismen hergestellt (s. u.). Mit den daraus entstandenen Enzymen kann man bei<br />

Anwendungsversuchen e<strong>in</strong>deutige Rückschlüsse auf deren Wirkungsweise und Effizienz<br />

ziehen.<br />

2.5.2 Alternative Screen<strong>in</strong>gmethoden<br />

Kennt man für e<strong>in</strong>e bestimmte Anwendung bereits e<strong>in</strong> geeignetes Enzym, so kann<br />

man beispielsweise über Homologie-basiertes Screen<strong>in</strong>g im reichen Fundus der Natur<br />

nach ähnlichen Enzymen mit möglicherweise noch besseren Eigenschaften suchen.<br />

Homologie-basiertes Screen<strong>in</strong>g beruht auf der Ähnlichkeit zwischen enzymkodierenden<br />

Genen. Die Sequenz<strong>in</strong>formationen werden benutzt, um Sequenzhomologien aufzuf<strong>in</strong>den<br />

und die durch die Evolution besonders konservierten Regionen der DNA zu<br />

identifizieren, also die Bereiche, die sich im Laufe der Zeit kaum durch Mutationen<br />

verändern. Mittels dieser Abschnitte werden Primer hergestellt, die an den ähnlichen<br />

konservierten Bereich anderer enzymkodierender Gene b<strong>in</strong>den. Dadurch ist es möglich,<br />

die von dem Primer gebundene DNA mittels PCR (Polymerase Cha<strong>in</strong> Reaction, deutsch<br />

Polymerase-Kettenreaktion) zu vervielfältigen, um das Genfragment <strong>in</strong> Wirtsorganismen<br />

zu <strong>in</strong>tegrieren. Alternativ werden Hybridisierungsmethoden angewandt. Hierbei<br />

wird die zu untersuchende DNA mit e<strong>in</strong>er radioaktiv markierten Probe, Fragment e<strong>in</strong>er<br />

konservierten Region, <strong>in</strong>kubiert. Dabei b<strong>in</strong>det die Probe nur an Gensequenzen, die mit<br />

ihrer eigenen ganz oder nahezu identisch s<strong>in</strong>d. Anhand der Markierung kann man nach<br />

der Inkubation feststellen, ob die Probe an die DNA gebunden hat. Ist dies der Fall, so<br />

weiß man, dass sich das Gen, aus dem die Probe stammt, auf der getesteten Sequenz<br />

befunden hat. Damit hat man e<strong>in</strong> dem Enzym, aus dessen konserviertem Bereich die<br />

Probe stammt, <strong>in</strong> der Funktion ähnliches Prote<strong>in</strong> gefunden.<br />

36


2.5 Enzymscreen<strong>in</strong>g und rekomb<strong>in</strong>ante Prote<strong>in</strong>produktion<br />

Abbildung 2.1: Prote<strong>in</strong>aufre<strong>in</strong>igung durch Säulenchromatographie.<br />

2.5.3 Rekomb<strong>in</strong>ante Prote<strong>in</strong>produktion<br />

Zur Herstellung von bestimmten Zielprote<strong>in</strong>en <strong>in</strong> bakteriellen Wirtsorganismen bedient<br />

man sich natürlicher Chromosom-unabhängiger DNA-Elemente, den sogenannten Plasmiden.<br />

Diese werden unabhängig vom Bakterienchromosom repliziert und besitzen<br />

e<strong>in</strong>en DNA-Abschnitt, <strong>in</strong> den mittels DNA-sequenzspezifischer Enzyme, den Restriktionsenzymen,<br />

leicht das Zielgen <strong>in</strong>tegriert werden kann. Letzteres ist e<strong>in</strong>em sogenannten<br />

Promotor unterstellt, über den reguliert wird, ob und wann das Gen abgelesen werden<br />

kann und somit auch die Produktion des Zielprote<strong>in</strong>s bee<strong>in</strong>flusst wird. In der Biotechnologie<br />

bedient man sich häufig e<strong>in</strong>es Promotors, bei dem nur <strong>in</strong> Anwesenheit e<strong>in</strong>es<br />

bestimmten Signalstoffs das Gen zum Ablesen freigegeben ist. Damit kann man von<br />

außen die Produktion des erstrebten Produkts steuern.<br />

Zur leichteren Aufre<strong>in</strong>igung des Zielprote<strong>in</strong>s nach der Produktion setzt man oft e<strong>in</strong>en<br />

tag e<strong>in</strong>, d. h. e<strong>in</strong>e an das Prote<strong>in</strong> fusionierte Peptidsequenz, die sehr spezifisch an e<strong>in</strong>en<br />

bestimmten Stoff, den sogenannten Liganden, b<strong>in</strong>det. Über diese B<strong>in</strong>dungseigenschaft<br />

kann man das Zielprote<strong>in</strong> von den restlichen Wirtsprote<strong>in</strong>en trennen, wie man <strong>in</strong> Abbildung<br />

2.1 sehen kann. Das hellgrau dargestellte Zielprote<strong>in</strong> mit dem tag (schwarz) kann<br />

an die Liganden (schwarze Pfeile an der weißen Säule) b<strong>in</strong>den, die Wirtsprote<strong>in</strong>e (dunkelgrau)<br />

nicht. Zum Schluss s<strong>in</strong>d alle Wirtsprote<strong>in</strong>e abgeflossen und nur das Zielprote<strong>in</strong><br />

verbleibt am Liganden. Bei Zugabe e<strong>in</strong>es weiteren Stoffs löst sich das Zielprote<strong>in</strong> wieder<br />

und kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em separaten Behälter aufgefangen werden. So erhält man e<strong>in</strong>e relativ<br />

saubere und konzentrierte Lösung des erzielten Produkts als Ausgangspunkt für z. B.<br />

Struktur- und Funktionsanalysen.<br />

Soll e<strong>in</strong> für den Wirtsstamm toxisches Prote<strong>in</strong> produziert werden, <strong>in</strong>tegriert man <strong>in</strong><br />

das Zielprote<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zusätzliche Am<strong>in</strong>osäuresequenz, wodurch es zunächst <strong>in</strong>aktiv bleibt.<br />

Diese wird nach dem Abtöten der Zellen herausgeschnitten und das funktionelle Prote<strong>in</strong><br />

entsteht, ohne aber vorher den Wirtsorganismus zu schädigen. Diese Methode nennt<br />

man Prote<strong>in</strong>-Splic<strong>in</strong>g.<br />

37


2 Biotechnologie im Alltag<br />

2.5.4 Produktionssysteme<br />

Biotechnologische Laborstämme s<strong>in</strong>d meist gentechnisch verändert, um Produktionserfolg<br />

und -menge zu steigern, z. B. durch den E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>es schnelleren Transkriptionsapparats,<br />

d. h. das Gen wird schneller abgelesen und somit mehr Zielprote<strong>in</strong> <strong>in</strong> kürzerer<br />

Zeit hergestellt. Meist s<strong>in</strong>d Bakterien wie Escherichia coli das Produktionssystem der Wahl,<br />

denn sie produzieren viel und billig <strong>in</strong> relativ kurzer Zeit und s<strong>in</strong>d leicht zu kultivieren.<br />

E<strong>in</strong>fache Eukaryoten wie z. B. die Bierhefe Saccharomyces cerevisiae teilen diese Vorteile;<br />

höhere Systeme wie z. B. Tierzellen s<strong>in</strong>d ungleich schwieriger zu handhaben, wobei<br />

hier auch komplexere Prote<strong>in</strong>e fehlerfrei hergestellt werden können. Dies liegt daran,<br />

dass bei Prote<strong>in</strong>en höherer Organismen häufig noch e<strong>in</strong>e weitere Prozessierung für die<br />

spätere Funktionalität vonnöten ist, z. B. die Anb<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>es Zuckermoleküls. Bakterien<br />

können diese sogenannten posttranslationalen Modifikationen nicht durchführen und<br />

komplexe Prote<strong>in</strong>e somit nicht fehlerfrei produzieren.<br />

2.6 Pharmaprote<strong>in</strong>e<br />

Pharmaprote<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d biotechnologisch hergestellte Prote<strong>in</strong>e, die <strong>in</strong> der Mediz<strong>in</strong> genutzt<br />

werden, zum Beispiel als Therapeutika. Dabei kann man zwischen verschiedenen Arten<br />

von Pharmaprote<strong>in</strong>en wie Enzymen, Botenstoffen und Impfstoffen unterscheiden. Ihnen<br />

allen ist geme<strong>in</strong>, dass sie als Ersatz für e<strong>in</strong> defektes oder <strong>in</strong> nicht ausreichendem Maße<br />

natürlich produziertes Prote<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

Pharmaprote<strong>in</strong>e können aus menschlichem oder tierischem Gewebe isoliert werden.<br />

Meistens nutzt man jedoch gentechnisch veränderte Tiere und Pflanzen oder rekomb<strong>in</strong>ante<br />

Mikroorganismen zur Synthese. Bei der Wahl des Organismus gilt, dass je komplexer<br />

das zu synthetisierende Prote<strong>in</strong> ist, desto komplexer müssen die Syntheseleistungen<br />

der produzierenden Organismen se<strong>in</strong>. So nutzt man für e<strong>in</strong>fache Prote<strong>in</strong>e Bakterien wie<br />

Escherichia coli oder e<strong>in</strong>zellige Hefen, die im Gegensatz zu Bakterien eukaryotisch s<strong>in</strong>d.<br />

Für komplexere Prote<strong>in</strong>e werden transgene Tiere oder Pflanzen e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

Die Nutzung von biotechnologischen Produktionsverfahren zur Synthese von Pharmaprote<strong>in</strong>en<br />

hat zum e<strong>in</strong>en den Vorteil, dass die Erträge im Vergleich zu deren Isolierung<br />

aus Geweben wesentlich höher s<strong>in</strong>d. Zum anderen kann e<strong>in</strong>e Verunre<strong>in</strong>igung<br />

durch Krankheitserreger nahezu ausgeschlossen werden. Trotzdem können allergische<br />

Reaktionen auftreten, da das gebildete Prote<strong>in</strong> dem menschlichen meistens nicht vollkommen<br />

gleicht, wenn dieses <strong>in</strong> rekomb<strong>in</strong>anten Organismen synthetisiert wurde. So<br />

werden zum Beispiel bei posttranslationalen Modifikationen oft falsche Zuckerreste an<br />

die Prote<strong>in</strong>e angehängt. Das kann zur Folge haben, dass das Prote<strong>in</strong> als fremd e<strong>in</strong>gestuft<br />

wird und e<strong>in</strong>e Immunreaktion hervorruft.<br />

Wie schon erwähnt werden oftmals Bakterien oder e<strong>in</strong>zellige Hefen zur Synthese von<br />

Pharmaprote<strong>in</strong>en genutzt. In e<strong>in</strong>igen Fällen werden die Prote<strong>in</strong>e <strong>in</strong>s Medium sekretiert<br />

und können daraus direkt gere<strong>in</strong>igt werden. In anderen Fällen müssen zunächst die<br />

produzierenden Organismen aus dem Medium geerntet und anschließend die Prote<strong>in</strong>e<br />

aus ihrem Inneren isoliert und mitunter aufwendig gere<strong>in</strong>igt werden. Oftmals ist, falls<br />

38


2.7 Therapie von Diabetes mit biotechnologisch hergestelltem Insul<strong>in</strong><br />

Bakterien zur Synthese genutzt werden, noch e<strong>in</strong>e zusätzliche Renaturierung vonnöten.<br />

E<strong>in</strong> Grund dafür ist, dass eukaryontische Prote<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Bakterien normalerweise nicht <strong>in</strong><br />

ihrer korrekten dreidimensionalen Struktur vorliegen. Sie sammeln sich daher <strong>in</strong> Aggregaten,<br />

den sogenannten »<strong>in</strong>clusion bodies«, an. E<strong>in</strong>e weitere Ursache für die Entstehung<br />

dieser Aggregate ist, dass Gram-negative Bakterien wie E. coli die Prote<strong>in</strong>e nicht <strong>in</strong>s<br />

Medium sekretieren können, sodass sich zu viele Prote<strong>in</strong>e im Cytosol ansammeln.<br />

Am Schluss soll das Prote<strong>in</strong> <strong>in</strong> möglichst re<strong>in</strong>er Form vorliegen und vor eventuellen<br />

Schädigungen wie zum Beispiel Denaturierung durch Oxidation geschützt se<strong>in</strong>. Da die<br />

Qualitätskontrollen sehr strikt s<strong>in</strong>d, muss durch die Produktionsverfahren gewährleistet<br />

werden, dass die entsprechenden Prote<strong>in</strong>e immer <strong>in</strong> gleichbleibend hoher Qualität<br />

hergestellt werden können.<br />

Die Möglichkeiten der Biotechnologie zur Synthese von Pharmaprote<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d noch<br />

nicht ausgeschöpft. Stetig forscht man an effizienteren Produktionsverfahren. Forscher<br />

gehen sogar davon aus, dass man <strong>in</strong> Zukunft prote<strong>in</strong>kodierende Gene als Medikamente<br />

nutzen kann, sodass das entsprechende Prote<strong>in</strong> direkt im Körper selbst produziert wird.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel für e<strong>in</strong> oft verwendetes Pharmaprote<strong>in</strong> ist das Insul<strong>in</strong>, das zur Therapie<br />

von Diabetes e<strong>in</strong>gesetzt wird.<br />

2.7 Therapie von Diabetes mit biotechnologisch hergestelltem Insul<strong>in</strong><br />

Das kle<strong>in</strong>e Peptidhormon Insul<strong>in</strong> ist das e<strong>in</strong>zige Hormon, das den Blutzuckerspiegel<br />

senken kann. Durch die E<strong>in</strong>nahme von Nahrung und deren Abbau gelangt Glucose<br />

<strong>in</strong>s Blut und erhöht den Blutzuckerspiegel. Insul<strong>in</strong> ermöglicht die Aufnahme von Glucose<br />

<strong>in</strong> die Zellen und bewirkt gleichzeitig die Synthese von Prote<strong>in</strong>en, die dann die<br />

Glucose verarbeiten. Insul<strong>in</strong> besteht aus zwei Polypeptid-Ketten (α und β), die durch<br />

zwei Disulfidbrücken verbunden s<strong>in</strong>d. Zudem gibt es noch e<strong>in</strong>e dritte Disulfidb<strong>in</strong>dung<br />

<strong>in</strong>nerhalb der α-Kette. Jede Disulfidb<strong>in</strong>dung bildet sich zwischen zwei Cyste<strong>in</strong>en<br />

(Am<strong>in</strong>osäuren).<br />

Das Insul<strong>in</strong> wird <strong>in</strong> den β-Zellen der Langerhans-Inseln (im Pankreas) synthetisiert.<br />

Im Zellkern wird das Insul<strong>in</strong>gen zu mRNA transkribiert, die ihn danach verlässt. Im<br />

Cytoplasma wird die mRNA von den am endoplasmatische Retikulum (ER) lokalisierten<br />

Ribosomen zu Prä-Pro<strong>in</strong>sul<strong>in</strong> translatiert, das zwar e<strong>in</strong> Prote<strong>in</strong> ist, aber noch ke<strong>in</strong> aktives<br />

Hormon. Beim Verlassen des ER wird e<strong>in</strong>e Signalsequenz vom Prä-Pro<strong>in</strong>sul<strong>in</strong> abgespalten,<br />

so dass Pro<strong>in</strong>sul<strong>in</strong> entsteht. Letzteres wird vom Golgi-Apparat aufgenommen und<br />

dort gelagert. Bei Insul<strong>in</strong>bedarf verarbeiten Enzyme das Pro<strong>in</strong>sul<strong>in</strong> weiter, so dass<br />

aktives Insul<strong>in</strong> entsteht. Dieses verlässt den Golgi-Apparat, wird <strong>in</strong>s Blut sekretiert und<br />

b<strong>in</strong>det an die Insul<strong>in</strong>rezeptoren der Zellen. Infolgedessen werden im Inneren der Zelle<br />

vorliegende Glukosetransporter <strong>in</strong> die Zellmembran e<strong>in</strong>gebaut und die Glucose kann<br />

aus dem Blut <strong>in</strong> die Zelle gelangen. Außerdem werden zwei Phosphorylierungskaskaden<br />

aktiviert: Prote<strong>in</strong>k<strong>in</strong>ase-B für die kurzzeitige Kontrolle der Stoffwechselenzyme durch<br />

Phosphorylierung, und die Signalübertragungsprote<strong>in</strong>e Ras und MAPK (mitogen activated<br />

prote<strong>in</strong> k<strong>in</strong>ase), die die Synthese weiterer Prote<strong>in</strong>e zur Verarbeitung von Glucose bewirken.<br />

39


2 Biotechnologie im Alltag<br />

Diabetes mellitus ist e<strong>in</strong>e Stoffwechselkrankheit, die mit e<strong>in</strong>em erhöhten Blutzuckerspiegel<br />

e<strong>in</strong>hergeht. Man unterscheidet zwei Typen der Erkrankung: Beim Typ I werden<br />

die Insul<strong>in</strong> produzierenden Zellen zerstört, zur Therapie gibt man lebenslang künstlich<br />

Insul<strong>in</strong> zu. Beim Typ II reagiert der Organismus weniger empf<strong>in</strong>dlich gegen Insul<strong>in</strong><br />

(Insul<strong>in</strong>resistenz), die Therapie drückt sich <strong>in</strong> Gewichtsabnahme und <strong>in</strong> schweren Fällen<br />

ebenfalls durch Insul<strong>in</strong>zugabe aus. Das Ziel ist das Überw<strong>in</strong>den der Insul<strong>in</strong>resistenz.<br />

Die ersten Behandlungsverfahren von Diabetes bestanden <strong>in</strong> der Gabe von Schwe<strong>in</strong>ebzw.<br />

R<strong>in</strong>der<strong>in</strong>sul<strong>in</strong>, das direkt aus den Tieren isoliert wurde. Aufgrund der vielen Nachteile,<br />

die diese Methoden mit sich brachten, wird Insul<strong>in</strong> seit dem Jahr 1979 gentechnisch<br />

durch Bakterien hergestellt. Dafür werden die Gene für die α- bzw. β-Kette auf separaten<br />

Plasmiden jeweils h<strong>in</strong>ter das Gen für das Enzym β-Galactosidase als Reportergen<br />

fusioniert. Zwischen die beiden Gene baut man noch die Nukleotidsequenz für die<br />

Am<strong>in</strong>osäure Methion<strong>in</strong> e<strong>in</strong>. Diese zwei Plasmide werden dann <strong>in</strong> zwei verschiedene E.<br />

coli-Kulturen e<strong>in</strong>gebracht und die Zielgene dar<strong>in</strong> exprimiert. Man isoliert anschließend<br />

die von den Bakterien gebildeten Prote<strong>in</strong>e und unterzieht sie e<strong>in</strong>er Bearbeitung mit Bromcyan<br />

(CNBr). Diese Säure spaltet Prote<strong>in</strong>ketten dort, wo es Methion<strong>in</strong> gibt. So gew<strong>in</strong>nt<br />

man die α- und β-Ketten. Schließlich erstellt man e<strong>in</strong>e Mischung beider Ketten und<br />

unterzieht diese e<strong>in</strong>er sogenannten oxidativen Sulfitolyse, wobei die Disulfidb<strong>in</strong>dungen<br />

zwischen den beiden Ketten entstehen. Nun hat man aktives Insul<strong>in</strong> gewonnen.<br />

2.8 Immuntechnologie<br />

2.8.1 Antikörper<br />

Antikörper s<strong>in</strong>d Moleküle des Immunsystems, die körperfremde Moleküle (Antigene)<br />

erkennen und b<strong>in</strong>den. Sie bestehen aus vier Prote<strong>in</strong>untere<strong>in</strong>heiten: zwei leichten und<br />

zwei schweren Ketten. Jede dieser Ketten besteht aus e<strong>in</strong>er konstanten und e<strong>in</strong>er variablen<br />

Region. Die konstante Region ist <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Organismus bei allen Antikörpern<br />

derselben Klasse gleich, woh<strong>in</strong>gegen die variablen Regionen, welche an das Antigen<br />

b<strong>in</strong>den, differieren.<br />

Durch die schweren Ketten lassen sich die Antikörper <strong>in</strong> verschiedene Oberklassen<br />

e<strong>in</strong>teilen. So gehören die häufigsten Antikörper zur Oberklasse Immunglobul<strong>in</strong> G,<br />

welches vor allen D<strong>in</strong>gen gegen Bakterien wirkt. Durch weitere kle<strong>in</strong>e Unterschiede<br />

<strong>in</strong> den Ketten werden die Antikörper dieser Oberklasse nochmals <strong>in</strong> verschiedene<br />

Unterklassen e<strong>in</strong>geteilt.<br />

Die Aufgabe von Antikörpern ist es, dem Körper durch das B<strong>in</strong>den der Antigene e<strong>in</strong>e<br />

gewisse Immunität vor Krankheitserregern zu vermitteln. Sie werden jeweils spezifisch<br />

von e<strong>in</strong>er B-Zell-Population synthetisiert. Entgegen der Auffassung, dass sie nur im<br />

Krankheitsfall produziert werden, s<strong>in</strong>d Antikörper ständig <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Konzentration im<br />

Körper vorhanden. S<strong>in</strong>d Antigene im Körper, so werden die B-Zellen, welche Antikörper<br />

produzieren, die auf das Antigen reagieren, angeregt und beg<strong>in</strong>nen damit sich verstärkt<br />

zu teilen. Somit werden auch die Antikörper häufiger produziert. Mittels Mutation und<br />

Selektion wird der am besten auf das Antigen passende Antikörper ausgewählt. Dar-<br />

40


2.8 Immuntechnologie<br />

aufh<strong>in</strong> greifen weitere Mechanismen des Immunsystems, um das Antigen unschädlich<br />

zu machen. Weiterh<strong>in</strong> werden e<strong>in</strong>ige B-Zellen zu Gedächtniszellen und speichern so<br />

das Wissen um den Antikörper im Gedächtnis des Immunsystems, um ihn bei erneuter<br />

Infektion schneller <strong>in</strong> größerer Zahl produzieren zu können.<br />

2.8.2 Impfen<br />

Das Immunsystem ist durch das immunologische Gedächtnis <strong>in</strong> der Lage, sich an Antigene,<br />

die es schon e<strong>in</strong>mal bekämpft hat, zu »er<strong>in</strong>nern« und so sehr viel schneller und<br />

effizienter e<strong>in</strong>e Immunreaktion e<strong>in</strong>zuleiten – oft schon, bevor erste Krankheitssymptome<br />

auftreten. Diese Fähigkeit sich zu er<strong>in</strong>nern beruht auf e<strong>in</strong>igen wenigen Gedächtniszellen.<br />

Viele Impfstoffe basieren auf unschädlich gemachten oder abgeschwächten Krankheitserregern,<br />

die immer noch als Antigen fungieren können und so das immunologische<br />

Gedächtnis mit neuen Informationen versorgen.<br />

Dieses Vorgehen ist jedoch nicht mit allen Krankheitserregern möglich. Daher bedient<br />

man sich beispielsweise Spaltimpfstoffen, die nur e<strong>in</strong> als Antigen wirksames Prote<strong>in</strong><br />

aus der Oberfläche des Krankheitserregers enthalten. Sollte auch diese Methode ihre<br />

Wirkung verfehlen, so kann auf Peptidimpfstoffe zurückgegriffen werden. Diese bestehen<br />

nur aus Bruchstücken von Prote<strong>in</strong>en des Krankheitserregers, welche mithilfe e<strong>in</strong>es<br />

Carrier-Prote<strong>in</strong>s verbunden werden. Ferner kann man sich auch sogenannter Vektorimpfstoffe<br />

bedienen. Hierbei wird die DNA e<strong>in</strong>es Antigens vom Erreger <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>es nicht<br />

pathogenen Wirtes e<strong>in</strong>geschleust. Dies <strong>in</strong>duziert e<strong>in</strong>e Immunreaktion sowohl gegen das<br />

ursprüngliche Antigen, als auch gegen den Wirt.<br />

Für all diese Verfahren muss e<strong>in</strong> spezifisches Antigen des Erregers bekannt se<strong>in</strong>. Um<br />

neue Antigene zu identifizieren, bedient man sich der reversen Impfstoffentwicklung.<br />

Dabei beg<strong>in</strong>nt die Suche nach e<strong>in</strong>em neuen Antigen mit dem Anlegen e<strong>in</strong>er Expressionsbibliothek<br />

und der Prüfung auf e<strong>in</strong>e Immunantwort an Mäusen. Löst e<strong>in</strong> Prote<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

starke Immunreaktion im Tierversuch aus, so ist es möglicherweise zur Herstellung<br />

e<strong>in</strong>es Impfstoffes geeignet. Es muss jedoch noch geprüft werden, ob das exprimierte<br />

Prote<strong>in</strong> auch e<strong>in</strong> Oberflächenprote<strong>in</strong> ist.<br />

2.8.3 Enzymatische Testverfahren: Der ELISA<br />

ELISA bedeutet »enzyme-l<strong>in</strong>ked immunosorbent assay«, was übersetzt enzymgekoppelter<br />

Immunadsorptionstest heißt. Man benutzt ihn, um bestimmte Prote<strong>in</strong>e, Viren oder<br />

Ähnliches <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Probe nachzuweisen, oder um die Konzentration derer zu ermitteln.<br />

Das Antigen, welches für die Antikörper spezifisch ist, wird auf e<strong>in</strong>e Mikrotiterplatte<br />

immobilisiert. Anfangs muss man also e<strong>in</strong>en Antikörper synthetisieren, der für das<br />

nachzuweisende Prote<strong>in</strong> spezifisch ist. An diesen Antikörper koppelt man e<strong>in</strong> Enzym,<br />

welches als Nachweissystem dient. Dieses setzt e<strong>in</strong> farbloses Edukt zu e<strong>in</strong>em farbigen<br />

Produkt um, wie zum Beispiel die alkalische Phosphatase, die X-Phos <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en blauen<br />

Farbstoff umsetzt.<br />

Das Prote<strong>in</strong>, welches man nachweisen will, wird an e<strong>in</strong>e Mikrotiterplatte gebunden.<br />

Daraufh<strong>in</strong> wird der Antikörper mit dem gekoppelten Nachweissystem h<strong>in</strong>zugegeben,<br />

welcher an das Antigen b<strong>in</strong>det. Anschließend wird die Mikrotiterplatte gewaschen,<br />

damit ke<strong>in</strong>e Rückstände zurückbleiben und man nur den Antigen-Antikörperkomplex<br />

41


2 Biotechnologie im Alltag<br />

mit dem daran gekoppelten Nachweissystem erhält. Gibt man nun das Edukt h<strong>in</strong>zu,<br />

wird dieses vom Nachweissystem umgesetzt. Die Intensität des Farbstoffs gibt nun die<br />

Konzentration der Antigene an.<br />

Es gibt auch ELISA-Assays, bei denen das Nachweissystem nicht an den primären<br />

Antikörper gekoppelt ist, sondern an e<strong>in</strong>en sekundären. Der primäre Antikörper erkennt<br />

hierbei spezifisch das Antigen. Der sekundäre Antikörper erkennt jedoch nicht das<br />

Antigen, sondern den konstanten Teil des primären Antikörpers. Die Komb<strong>in</strong>ation<br />

aus zwei Antikörpern ist im Endeffekt meist wirtschaftlicher, weil die sekundären<br />

Antikörper alle primären Antikörper e<strong>in</strong>es Organismus erkennen und somit nicht für<br />

jedes nachzuweisende Prote<strong>in</strong> e<strong>in</strong> eigener enzymgekoppelter Antikörper hergestellt<br />

werden muss.<br />

Der ELISA wird für die kl<strong>in</strong>ische Diagnose von Erkrankungen des Menschen, wie<br />

zum Beispiel HIV-Infektion, Erkrankungen bei Milchkühen und Geflügel sowie für<br />

Pflanzenerkrankungen, zur Forschung und für Schwangerschaftstests e<strong>in</strong>gesetzt. ELISA-<br />

Kits erkennen selbst w<strong>in</strong>zige Mengen e<strong>in</strong>es pathogenen Virus oder Bakteriums, bevor<br />

der Organismus Zeit gehabt hat darauf zu reagieren, da bei bestimmten Krankheiten<br />

charakteristische Prote<strong>in</strong>e den Beg<strong>in</strong>n dieser kennzeichnen, noch bevor der Patient<br />

Symptome entwickelt. Dieses hilft die Krankheit schon zu behandeln, bevor der Patient<br />

massiv geschädigt wird.<br />

E<strong>in</strong> ELISA kann aber nicht nur e<strong>in</strong> Antigen, sondern auch das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es<br />

Antikörpers nachweisen. So kann man zum Beispiel Antigene des HI-Virus auf der<br />

Mikrotiterplatte immobilisieren und Blutserum der Testperson h<strong>in</strong>zugeben. Ist die<br />

Person mit HIV <strong>in</strong>fiziert, bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> ihrem Serum Antikörper, die an das Antigen<br />

b<strong>in</strong>den. Mit e<strong>in</strong>em gegen den konstanten Teil von menschlichen Antikörpern gerichteten<br />

sekundären Antikörper können eventuell gebundene HIV-Antikörper des Probanden<br />

nachgewiesen werden.<br />

42


2.9 Transgene Organismen<br />

2.9 Transgene Organismen<br />

E<strong>in</strong> transgener Organismus ist e<strong>in</strong> Organismus, der <strong>in</strong> der Natur natürlicherweise<br />

nicht vorkommt. Er wird hergestellt, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong> Gen aus e<strong>in</strong>em anderen Organismus<br />

(Tiere, Pflanzen, Bakterien, Archaen oder Viren) auf den zu modifizierenden übertragen<br />

wird. Dadurch erhält der modifizierte Organismus über die Expression des e<strong>in</strong>gebauten<br />

Transgens spezifische neue Merkmale. Der E<strong>in</strong>bau e<strong>in</strong>es Transgens erfolgt bei Pflanzen<br />

und Tieren auf jeweils unterschiedliche Weise.<br />

2.9.1 Erzeugung transgener Pflanzen<br />

Die Verwendung des Ti-Plasmids (Tumor-<strong>in</strong>duzierendes Plasmid) ist e<strong>in</strong>e häufig angewandte<br />

Methode zur Herstellung transgener Pflanzen. Es stammt ursprünglich aus<br />

dem Gram-negativen Agrobacterium tumefaciens, welches von Wundsekreten der Pflanze<br />

angelockt wird und Teile des Plasmids <strong>in</strong> die Zelle e<strong>in</strong>schleust, die anschließend fest<br />

<strong>in</strong> das Genom der Pflanzen <strong>in</strong>tegriert werden. Durch vorherige Modifikation des e<strong>in</strong>geschleusten<br />

Genabschnittes kann man Pflanzen gezielt genetisch verändern. Agrobacterium<br />

tumefaciens kann jedoch nur bestimmte Pflanzenarten <strong>in</strong>fizieren. E<strong>in</strong>e weitere verbreitete<br />

Methode ist deshalb das Beschießen von Pflanzenzellen mit kle<strong>in</strong>en Goldkügelchen, die<br />

mit DNA beschichtet s<strong>in</strong>d.<br />

2.9.2 Erzeugung transgener Tiere<br />

Bei der genetischen Manipulation von Tieren wendet man je nach Tierklasse verschiedene<br />

Methoden an. Bei Säugetieren stellt die Mikro<strong>in</strong>jektion e<strong>in</strong>e geeignete Methode dar.<br />

Hierbei wird das Transgen <strong>in</strong> den Vorkern des Spermiums <strong>in</strong>jiziert, kurz bevor bei e<strong>in</strong>er<br />

künstlichen Befruchtung die beiden Vorkerne verschmelzen. Dort wird das Transgen<br />

dann durch homologes Cross<strong>in</strong>g-Over <strong>in</strong> das Genom des Spermiums e<strong>in</strong>gebaut. Dafür<br />

müssen die das Transgen flankierenden DNA-Abschnitte identisch se<strong>in</strong> mit Abschnitten<br />

im Genom, gegen die sie dann ausgetauscht werden. Bei erfolgreichem E<strong>in</strong>bau entsteht<br />

e<strong>in</strong> transgenes Gründertier.<br />

Bei Insekten bedient man sich gerne der sogenannten Transposons, um e<strong>in</strong> Transgen<br />

e<strong>in</strong>zubauen: Transposons s<strong>in</strong>d »spr<strong>in</strong>gende Gene«, die bei Anwesenheit e<strong>in</strong>er Transposase<br />

(e<strong>in</strong>e Unterklasse der DNA-Rekomb<strong>in</strong>asen) spontan aus ihrer Position im Genom<br />

herausspr<strong>in</strong>gen und an e<strong>in</strong>er anderen Stelle im Genom wieder e<strong>in</strong>gebaut werden können.<br />

Die Transposons s<strong>in</strong>d flankiert von <strong>in</strong>vertierten Sequenzwiederholungen, die als<br />

Erkennungssequenzen für die Transposase dienen. Im Gegensatz zum gewöhnlichen<br />

E<strong>in</strong>bau werden bei dieser Methode zwei DNA-Konstrukte verwendet anstatt nur e<strong>in</strong>em:<br />

Zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> Helfer-DNA-Konstrukt, das auf Grund defekter <strong>in</strong>vertierter Sequenzwiederholungen<br />

nicht <strong>in</strong> das Wirtsgenom e<strong>in</strong>gebaut werden kann, sondern lediglich<br />

die Transposase exprimiert, und zum anderen das DNA-Konstrukt mit dem Transgen,<br />

das jedoch ke<strong>in</strong> Gen für die Transposase enthält. Daraus folgt, dass das DNA-Konstrukt<br />

mit dem Transgen nach dem E<strong>in</strong>bau <strong>in</strong> das Wirtsgenom bei den Nachkommen nicht<br />

mehr im Genom »umherspr<strong>in</strong>gen« kann. Das Transgen wird also stabil an künftige<br />

Generationen weitervererbt.<br />

43


2 Biotechnologie im Alltag<br />

2.9.3 Anwendungsbereiche<br />

E<strong>in</strong> häufiger Anwendungsbereich transgener Pflanzen ist die Erhöhung des Ernteertrags,<br />

beispielsweise durch Herbizid- und Insektenresistenzen. Des Weiteren hofft man, <strong>in</strong><br />

Zukunft <strong>in</strong>folge aktueller Forschungen <strong>in</strong> der Lage zu se<strong>in</strong>, kontam<strong>in</strong>ierte Böden mit<br />

Hilfe von transgenen Pflanzen zu re<strong>in</strong>igen, <strong>in</strong>dem sie die schädlichen Stoffe dieser Böden<br />

zersetzen.<br />

Im tierischen Bereich erzeugt man zum Beispiel sogennante transgene Knockout-<br />

Mäuse zur Erforschung spezifischer Genfunktionen. Dabei wird e<strong>in</strong> Gen, dessen Funktion<br />

man untersuchen möchte, kloniert und <strong>in</strong> vitro deaktiviert. Das geschieht, <strong>in</strong>dem<br />

man das klonierte Zielgen durch den E<strong>in</strong>bau e<strong>in</strong>er DNA-Kassette unterbricht. Mit dieser<br />

<strong>in</strong>aktiven Kopie wird dann e<strong>in</strong>e heterozygote transgene Maus erzeugt, die jedoch immer<br />

noch e<strong>in</strong>e funktionierende Kopie des Gens trägt. Kreuzt man nun diese transgene Maus<br />

mit e<strong>in</strong>er weiteren transgenen Maus, so entstehen unter anderem Nachkommen, die<br />

zwei <strong>in</strong>aktive Kopien des Gens enthalten, also homozygot s<strong>in</strong>d. An diesen Mäusen kann<br />

untersucht werden, welche phänotypische Veränderung e<strong>in</strong>e Inaktivierung des Gens<br />

hervorruft.<br />

Zur Überprüfung, ob e<strong>in</strong> Transgen erfolgreich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Organismus e<strong>in</strong>gebaut wurde,<br />

gibt es verschiedene Selektionsverfahren. Bei allen wird mit dem Transgen zusammen<br />

e<strong>in</strong> sogenanntes Markergen e<strong>in</strong>gesetzt, das beispielsweise e<strong>in</strong>e Antibiotikaresistenz<br />

bewirkt. Bei H<strong>in</strong>zugabe des Antibiotikums überleben nur die Organismen, die das<br />

Transgen erfolgreich e<strong>in</strong>gebaut haben. Es gibt aber auch nicht-letale Selektionsverfahren,<br />

die zum Beispiel mit Lum<strong>in</strong>eszenzen arbeiten. Das sogenannte lux-Gen, welches aus<br />

Glühwürmchen stammt, wird <strong>in</strong> die DNA des Pflanzengewebes e<strong>in</strong>gebaut. Dort wird<br />

es exprimiert, und das Enzym Luciferase wird gebildet. Bei H<strong>in</strong>zugabe des Substrats<br />

Lucifer<strong>in</strong> entsteht Lum<strong>in</strong>eszenz, wodurch die Zellen erkennbar s<strong>in</strong>d, die das gewünschte<br />

Transgen e<strong>in</strong>gebaut haben.<br />

Die Verwendung von Antibiotikaresistenzgenen um den E<strong>in</strong>bau der DNA bei Pflanzen<br />

zu überprüfen, stößt auf viel Kritik. Mithilfe des Cre-Systems, das nach dem gleichen<br />

Pr<strong>in</strong>zip arbeitet wie die oben beschriebenen Transposasen, können diese Gene nachträglich<br />

wieder entfernt werden. Die zu entfernende DNA-Sequenz wird auf beiden Seiten<br />

von der loxP-Sequenz aus 34 Basenpaaren flankiert. Das Cre-Prote<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Rekomb<strong>in</strong>ase-<br />

Enzym, das die spezifischen Sequenzen erkennt und dort anb<strong>in</strong>det. Die zwischen den<br />

loxP-Sequenzen e<strong>in</strong>geschlossene Region wird durch Rekomb<strong>in</strong>ation herausgeschnitten<br />

und anschließend <strong>in</strong> der Zelle abgebaut (weil es an ke<strong>in</strong>er anderen Stelle im Genom<br />

loxP-Sequenzen gibt, kann das Transgen nirgendwo anders wieder e<strong>in</strong>gebaut werden).<br />

Die Pflanzen-DNA enthält nun ke<strong>in</strong>e Antibiotikaresistenzgene mehr, sondern nur noch<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne loxP-Sequenz. Um dies <strong>in</strong> der Praxis zu erreichen, werden Pflanzen mit<br />

durch loxP-Sequenzen flankiertem Antibiotikaresistenzgen mit Pflanzen, die das Cre-Gen<br />

besitzen, gekreuzt. Die F1-Generation besitzt nun das Transgen mit dem vorgeschalteten,<br />

von loxP-Sequenzen flankierten Antibiotikaresistenzgen und das cre-Gen. Dieses cre-Gen<br />

wird abgelesen und das Rekomb<strong>in</strong>ase-Enzym hergestellt. Durch das oben genannte System<br />

wird das Antibiotikaresistenzgen herausgeschnitten. Die Pflanzen besitzen nun das<br />

gewünschte Transgen und das Gen für die Cre-Rekomb<strong>in</strong>ase, jedoch ke<strong>in</strong> Antibiotikaresistenzgen.<br />

44


2.10 Versuch: Quantifizierung der Aktivität der Beta-Galactosidase<br />

Abbildung 2.2: Schematischer Aufbau des Lactose-Operons.<br />

2.10 Versuch: Quantifizierung der Aktivität der Beta-Galactosidase<br />

2.10.1 E<strong>in</strong>leitung: Das Lactoseoperon<br />

Das Enzym β-Galactosidase ermöglicht Bakterien wie Escherichia coli die Verwertung des<br />

Zucker-Dimers Lactose, da es diese <strong>in</strong> die Zucker-Monomere Glucose und Galactose<br />

spaltet, welche dann als Wachstumssubstrate genutzt werden können. Die Synthese der<br />

β-Galactosidase unterliegt e<strong>in</strong>er Transkriptionskontrolle. Deshalb wird die Transkription<br />

nur dann zugelassen, wenn Lactose vorhanden und gleichzeitig ke<strong>in</strong>e Glucose <strong>in</strong> der<br />

Umgebung der Zelle ist, welche bevorzugt als Substrat genutzt wird. Durch das Fehlen<br />

der Glucose wird die vermehrte Bildung des Botenstoffs cAMP <strong>in</strong>duziert, welcher an den<br />

Regulator cAMP-Response-Prote<strong>in</strong> (CRP) b<strong>in</strong>det. Für die Transkription des Gens, das für<br />

die β-Galactosidase codiert, spielt auch die Anwesenheit von Lactose e<strong>in</strong>e Rolle. Diese<br />

hebt, <strong>in</strong> Allolactose umgewandelt, die Blockierung der Aktivität der RNA-Polymerase<br />

auf, wodurch das Gen abgelesen werden kann. Dieser Prozess ist auf den Abbildungen<br />

2.2 und 2.3 veranschaulicht.<br />

2.10.2 Material und Methoden<br />

Mittels des durchgeführten Versuchs sollte die Abhängigkeit der Synthese der β-Galactosidase<br />

vom zugegebenen Zucker nachgewiesen werden. Des Weiteren sollte gezeigt<br />

werden, dass die β-Galactosidase nicht bereits <strong>in</strong> ausreichender Konzentration <strong>in</strong> der<br />

Zelle vorhanden ist, sondern erst bei Glucosemangel und Anwesenheit von Lactose synthetisiert<br />

wird. Die Enzymaktivität wird durch die Zugabe des Farbstoffs o-Nitrophenylβ-D-galactopyranosid<br />

(ONPG), welcher bei der Spaltung durch β-Galactosidase e<strong>in</strong>e gelbe<br />

Färbung hervorruft, nachgewiesen.<br />

Im Versuch wurden drei E. coli K12-Kulturen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em LB-Medium (5 g/l Hefeextrakt,<br />

10 g/l Pepton, 10 g/l NaCl, pH 7,4) herangezüchtet. Je nach Versuchsansatz wurden<br />

2 mM Lactose bzw. 2 mM Lactose und zusätzlich 8 mM Glucose bzw. im dritten Ansatz<br />

2 mM Lactose und Chloramphenicol (2 µg/ml) zugegeben. Anschließend wurden zu den<br />

Zeitpunkten 0 m<strong>in</strong>/15 m<strong>in</strong>/30 m<strong>in</strong>/60 m<strong>in</strong>/120 m<strong>in</strong> pro Kultur je zwei Proben mit dem<br />

Volumen 1 ml entnommen und jeweils die optische Dichte bei e<strong>in</strong>er Wellenlänge von<br />

600 nm (OD600) gemessen, da dieser Wert für die spätere Berechnung der Enzymaktivität<br />

benötigt wird. Danach wurden die Proben abzentrifugiert und <strong>in</strong> flüssigem Stickstoff<br />

45


2 Biotechnologie im Alltag<br />

46<br />

Abbildung 2.3: Regulation des Lactose-Operons.


2.10 Versuch: Quantifizierung der Aktivität der Beta-Galactosidase<br />

schockgefroren. Dieser Teil des Versuches wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Labor vorbereitet; die im<br />

Folgenden beschriebenen Schritte wurden im Kurs durchgeführt.<br />

Zuerst wurden die Zellpellets <strong>in</strong> 1 ml Z-Puffer (60 mM Na2HPO4, 40 mM NaH2PO4,<br />

10 mM KCl, 1 mM MgSO4, 50 mM β-Mercaptoethanol, pH 7,0) resuspendiert und pro<br />

Versuchsansatz (die Kulturen wurden <strong>in</strong> vier Teile aufgeteilt – e<strong>in</strong> Teil davon diente<br />

als Referenzwert für die spätere photometrische Messung) 100 µl Zellsuspension mit<br />

700 µl Z-Puffer verdünnt. Um die Zellen aufzubrechen, wurden daraufh<strong>in</strong> jeweils 20 µl<br />

Chloroform und 20 µl 0,1 % (w/v) SDS zugegeben. Zum Starten der Nachweisreaktion<br />

wurde zu den Ansätzen 200 µl 4 mg/ml ONPG h<strong>in</strong>zugefügt. Sobald e<strong>in</strong> Farbumschlag <strong>in</strong>s<br />

Gelbe stattgefunden hatte, wurde die Reaktion durch Zugabe von 400 µl 1M Natriumcarbonat,<br />

das jegliche Enzymaktivität durch Verschiebung des pH-Werts <strong>in</strong>s Basische<br />

unterb<strong>in</strong>det, gestoppt und die Reaktionszeit gemessen. Für die Kontrollversuche wurde<br />

das Natriumcarbonat vor dem ONPG h<strong>in</strong>zugefügt, damit ke<strong>in</strong>e Reaktion stattf<strong>in</strong>det und<br />

man e<strong>in</strong>en Vergleichswert für die photometrische Messung erhält. Um präzise Ergebnisse<br />

zu erhalten, wurden Dreifachbestimmungen für die verschiedenen Kulturen und<br />

Zeitpunkte durchgeführt. Dazu wurde jeweils mit 1 ml des abgestoppten Reaktionsansatzes<br />

bei 420 nm am Photometer die Absorption gemessen; die Kontrollversuche dienten<br />

dabei als Referenzwerte. Die β-Galactosidase-Aktivität (<strong>in</strong> Miller-Units) wurde dann mit<br />

folgender Formel ermittelt:<br />

MU = 1000A420<br />

OD600 · V · t<br />

(V = Volumen des Reaktionsansatzes <strong>in</strong> mL, t = Reaktionszeit <strong>in</strong> m<strong>in</strong>)<br />

2.10.3 Ergebnisse<br />

Bei den Versuchsansätzen, die nur Lactose enthielten, zeigte sich die größte Enzymaktivität.<br />

Es war deutlich zu erkennen, dass die Enzymaktivität steigt, je länger die Kultur<br />

auf dem Nährmedium mit dem Zucker wachsen konnte. Dies ist darauf zurückzuführen,<br />

dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er längeren Zeitspanne e<strong>in</strong>e größere Enzymmenge produziert werden kann.<br />

In den Versuchsansätzen, die sowohl Lactose als auch Glucose enthielten, zeigte sich e<strong>in</strong>e<br />

deutlich ger<strong>in</strong>gere Enzymaktivität. Auch hier war e<strong>in</strong>e Abhängigkeit der Enzymaktivität<br />

von der Wachstumszeit der Bakterienkultur zu erkennen. In den Proben mit Lactose<br />

und Chloramphenicol ließ sich ke<strong>in</strong>e Enzymaktivität feststellen. Ferner war auch bei<br />

den Kontrollversuchen, die die jeweiligen Referenzwerte lieferten, ke<strong>in</strong>e Enzymaktivität<br />

nachzuweisen, weil der pH-Wert durch die frühzeitige Zugabe des Natriumcarbonats so<br />

stark erhöht wurde, dass die Enzyme denaturiert wurden.<br />

2.10.4 Diskussion<br />

Insgesamt zeigte der Versuch, dass die β-Galactosidase-Aktivität reguliert wird und<br />

ihre Aktivität sowohl vom vorhandenen Zucker als auch von der Wachstumszeit der<br />

Zellkultur auf dem Nährmedium abhängt. So ist wie erwartet bei den Ansätzen mit<br />

Glucose und Chloramphenicol wenig bis gar ke<strong>in</strong>e β-Galactosidase nachzuweisen, da<br />

47


Abbildung 2.4: Galaktosidase-Aktivitäten bei unterschiedlichen Inkubationsbed<strong>in</strong>gungen.<br />

Chloramphenicol die Prote<strong>in</strong>biosynthese verh<strong>in</strong>dert und die Glucose wie vermutet die<br />

Transkription des Lactoseoperons verh<strong>in</strong>dert.<br />

Wie die grafische Darstellung des Versuchsergebnisses (siehe Abbildung 2.4) veranschaulicht,<br />

lieferten die Messungen ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen Werte, sondern zeigten teilweise<br />

hohe Standardabweichungen. Dies ist auf Messfehler bei der Herstellung der verschiedenen<br />

Ansätze bzw. zu lange Reaktionszeiten mit dem ONPG zurückzuführen, wodurch<br />

die Färbung der Lösung zu stark wurde und deswegen <strong>in</strong> manchen Ansätzen verdünnt<br />

werden musste, was zu weiteren Ungenauigkeiten führte.<br />

2.11 Literaturverzeichnis<br />

[1] Antranikian, Garabed: Angewandte Mikrobiologie. Berl<strong>in</strong>/Heidelberg 2005.<br />

[2] Clark, David; Pazdernik, Nanette: Molekulare Biotechnologie. Heidelberg 2009.<br />

[3] Süßbier, Siegfried; Renneberg, Re<strong>in</strong>hard: Biotechnologie für E<strong>in</strong>steiger. Heidelberg<br />

2009.


2.11 Literaturverzeichnis<br />

49


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

3.1 E<strong>in</strong>leitung<br />

Juliane Jäpel und Isabell Woest<br />

Ob Fahrrad fahren, Vokabeln lernen oder den Weg zur Schule f<strong>in</strong>den – <strong>in</strong> allen Lebenslagen<br />

s<strong>in</strong>d wir abhängig von unserem Gedächtnis. Mit eben diesem und den<br />

neurobiologischen Grundlagen des Lernens haben wir uns <strong>in</strong> unserem Kurs beschäftigt.<br />

Nach e<strong>in</strong>er kurzen E<strong>in</strong>führung zu allgeme<strong>in</strong>en Mechanismen wie Ruhe- und Aktionspotential<br />

und zur Neuroanatomie haben wir uns diesem schrittweise genähert. Dabei<br />

haben wir uns anfangs mit der Arbeit des berühmten Neurowissenschaftlers und Nobelpreisträgers<br />

Eric Kandel beschäftigt, der e<strong>in</strong>mal sagte: »Das Gedächtnis ist der Leim,<br />

der unser geistiges Leben zusammenhält.« Es gibt verschiedene Patienten, deren Fälle<br />

veranschaulichen, was bei e<strong>in</strong>em gestörten Gedächtnis passiert. So haben wir uns<br />

beispielsweise <strong>in</strong>tensiv mit dem Patienten H.M. beschäftigt. Zwar konnte er nach e<strong>in</strong>er<br />

Operation neue motorische Fähigkeiten erlernen, sich jedoch nicht mehr daran er<strong>in</strong>nern,<br />

was er zum Frühstück gegessen hatte.<br />

Im Nachfolgenden haben wir Vorträge zu verschiedenen Gedächtnissystemen – dem<br />

räumlichen, episodischen, motorischen und emotionalen Gedächtnis – gehört, und uns<br />

dabei sowohl mit verschiedenen Tiermodellen als auch mit Ergebnissen beim Menschen<br />

ause<strong>in</strong>ander gesetzt. Dabei s<strong>in</strong>d wir auch näher auf die Mechanismen, die dem Lernen<br />

zugrunde liegen, e<strong>in</strong>gegangen.<br />

Weiterh<strong>in</strong> haben wir näher beleuchtet, was die Krankheit Morbus Alzheimer ausmacht<br />

und wie es bei ihr zum Gedächtnisverlust kommt. Abschließend hatten die Teilnehmer<br />

die Möglichkeit sich <strong>in</strong> Gruppenarbeit zu erarbeiten, <strong>in</strong>wiefern das Gedächtnis abhängig<br />

ist von Faktoren wie Genetik, Schlaf und Alter.<br />

Nun können wir zwar nicht besser Fahrrad fahren oder uns besser räumlich orientieren,<br />

aber wir wissen jetzt, welche Gehirnbereiche maßgeblich daran beteiligt s<strong>in</strong>d und<br />

wo sich diese bef<strong>in</strong>den. Durch e<strong>in</strong>e selbst durchgeführte Studie kennen wir nun auch<br />

verschiedene Lernmethoden und haben festgestellt, dass die Loci-Methode, welche auch<br />

von Gedächtnisweltmeistern verwendet wird, am besten zum Lernen geeignet ist.<br />

3.2 Klassische Konditionierung<br />

Bei der klassischen Konditionierung erlernt der Körper, auf e<strong>in</strong>en Reiz e<strong>in</strong>e antra<strong>in</strong>ierte<br />

Reaktion zu zeigen. Der Physiologe Ivan Pawlow entdeckte diese, als er den Speichelfluss<br />

bei Hunden untersuchte: Verstärkter Speichelfluss wird durch Futter ausgelöst. Pawlow<br />

tra<strong>in</strong>ierte die Hunde, <strong>in</strong>dem er vor dem Füttern immer mit e<strong>in</strong>er Glocke läutete. Nach<br />

dem Erlernen des Zusammenhangs zwischen Futter und Glocke, der so genannten<br />

51


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

Konditionierung, produzierten die Hunde schon vermehrt Speichel, sobald die Glocke<br />

läutete, weil sie gelernt hatten, dass sie danach gefüttert werden.<br />

Vor der Konditionierung ist die Fütterung e<strong>in</strong> unkonditionierter Reiz, auf den der Hund<br />

mit Speichelfluss reagiert. Der Speichelfluss ist <strong>in</strong> diesem Fall angeboren und muss<br />

nicht erlernt werden. Glockenläuten ohne anschließende Fütterung ist e<strong>in</strong> neutraler Reiz,<br />

auf den der Hund nicht reagiert. Nach der Konditionierung ist das Glockenläuten e<strong>in</strong><br />

konditionierter Reiz, auf den der Hund mit e<strong>in</strong>er konditionierten, erlernten Reaktion<br />

reagiert, <strong>in</strong>dem er Speichel produziert.<br />

Es gibt sowohl die Appetenzkonditionierung als auch die Aversionskonditionierung. Die<br />

Appetenzkonditionierung ist e<strong>in</strong>e Konditionierung mittels e<strong>in</strong>es positiven Reizes wie<br />

zum Beispiel die Fütterung der Hunde. Die Aversionskonditionierung dagegen erfolgt<br />

beispielsweise durch e<strong>in</strong>en Stromschlag, der e<strong>in</strong>en negativen Reiz darstellt.<br />

Konditionierungen können auch gelöscht werden, sodass der zuvor konditionierte Reiz<br />

abtra<strong>in</strong>iert wird. Bei e<strong>in</strong>em so genannten Pawlowschen Hund müsste man also immer<br />

wieder mit der Glocke läuten, ohne dass die Hunde anschließend Futter bekommen. So<br />

würden sie nach e<strong>in</strong>er gewissen Zeit nicht mehr konditioniert auf das Läuten reagieren,<br />

was bedeutet, dass sie ke<strong>in</strong>en Speichel mehr produzieren.<br />

Die Konditionierung spielt sich unter anderem im Kle<strong>in</strong>hirn, dem Cerebellum, ab. Es<br />

gibt zwei Inputpfade, e<strong>in</strong>en für den konditionierten Reiz und e<strong>in</strong>en für die angeborene<br />

Reaktion. Beide Pfade laufen zu den Purk<strong>in</strong>jezellen <strong>in</strong> der Kle<strong>in</strong>hirnr<strong>in</strong>de und dem<br />

Nucleus <strong>in</strong>terpositus. Hier f<strong>in</strong>det die Verknüpfung zwischen konditioniertem und unkonditioniertem<br />

Reiz statt. Der Befehl für die konditionierte Reaktion auf den Reiz geht<br />

über e<strong>in</strong>en Output-Pfad zurück, der vom Nucleus <strong>in</strong>terpositus zu den entsprechenden<br />

motorischen Arealen führt.<br />

3.3 Aplysia<br />

Die Meeresschnecke Aplysia Californica sorgte <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten für e<strong>in</strong>e neurobiologische<br />

»Weltsensation«. Wie viele andere wirbellose Tiere besitzt sie e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es<br />

Nervensystem mit großen Neuronen. Gepaart mit dem günstigen Preis und der kurzen<br />

Lebenserwartung wurde Aplysia zum perfekten Studienobjekt für Eric Kandel.<br />

Untersucht wurde der Kiemenrückzugsreflex: Wird e<strong>in</strong> röhrenförmiges Organ (Sipho)<br />

mit e<strong>in</strong>em Wasserstrahl gereizt, ziehen sich die Kiemen zurück. Man hat herausgefunden,<br />

dass die Reaktion auf den Reiz mit der Zeit schwächer wird; diese Art des Lernens nennt<br />

man Habituation. Habituation ist e<strong>in</strong>e unbewusste Form des Lernens, bei der die Reaktion<br />

auf e<strong>in</strong>en als ungefährlich erkannten Reiz geschwächt wird. Eric Kandel und se<strong>in</strong> Team<br />

konnten das Motoneuron identifizieren, das den Muskel für das Zurückziehen der<br />

Kiemen <strong>in</strong>nerviert, und nannten es L7. Nicht an den S<strong>in</strong>nesneuronen am Sipho, sondern<br />

an den Synapsen des sensorischen Neurons, welches den Reiz am Sipho aufnimmt, f<strong>in</strong>det<br />

bei der Habituation e<strong>in</strong>e Veränderung statt. Dabei wird die präsynaptische Endigung so<br />

verändert, dass sie weniger Neurotransmitter ausschüttet. Es ist noch nicht bekannt, wie<br />

dies passiert, vermutlich f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Abschwächung der Funktionalität von Ca 2+ -Kanälen<br />

52


3.4 Synaptische Plastizität<br />

Abbildung 3.1: Neben Referaten erarbeiteten wir uns Inhalte auch <strong>in</strong> Gruppenarbeit.<br />

statt. Wurde das Versuchstier habituiert, entsteht e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>geres Aktionspotenzial bei<br />

L7 und letztendlich e<strong>in</strong>e schwächere Reaktion auf den ursprünglichen Reiz. Diese<br />

Habituation hält unterschiedlich lange an. Ungefähr zehn Stimulationen führen zu<br />

e<strong>in</strong>em Kurzzeitgedächtnis für e<strong>in</strong>ige M<strong>in</strong>uten, während vier Sitzungen, die auf mehrere<br />

Tage verteilt s<strong>in</strong>d, zu e<strong>in</strong>em Langzeitgedächtnis führen.<br />

Die Sensitivierung ist das Gegenteil von Habituation, hierbei wird die Reaktion auf<br />

e<strong>in</strong>en Reiz immer stärker. Dabei wird die Synapsenaktivität von Neuronen gesteigert.<br />

Um Aplysia zu sensitivieren, gab Kandel der Schnecke e<strong>in</strong>en leichten Elektroschock<br />

am Kopf, wodurch das Neuron L29 aktiviert wurde. L29 hat e<strong>in</strong>e Synapse mit der<br />

Axonterm<strong>in</strong>ale des sensorischen Neurons, das auch e<strong>in</strong>e Synapse mit L7 besitzt. Wird<br />

L29 gereizt, schüttet es den Neurotransmitter Seroton<strong>in</strong> aus. An der Axonterm<strong>in</strong>ale<br />

gibt es Rezeptoren für Seroton<strong>in</strong>, die an e<strong>in</strong> G-Prote<strong>in</strong> gekoppelt s<strong>in</strong>d. Dieses Prote<strong>in</strong><br />

aktiviert Adenylatcyclase, welche aus ATP den second messenger cAMP herstellt. Es<br />

f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Signalweiterleitung statt, bis schließlich Kaliumkanäle geöffnet werden.<br />

Dies bewirkt e<strong>in</strong> längeres postsynaptisches Potential und somit e<strong>in</strong>e stärkere Reaktion.<br />

Weiterh<strong>in</strong> gibt es auch Unterschiede bei der Sensitivierung bezüglich Langzeit- und<br />

Kurzzeitgedächtnis: Beim Langzeitgedächtnis z. B. werden neue Prote<strong>in</strong>e gebildet, wobei<br />

sich auch neue Synapsen ausbilden. Zusammenfassend lehrt die Forschung an Aplysia<br />

über grundlegende Formen des Lernens.<br />

3.4 Synaptische Plastizität<br />

Die Synapse stellt die Verb<strong>in</strong>dung der Nervenzellen im Gehirn dar. Das Axon b<strong>in</strong>det hier<br />

an Dendriten e<strong>in</strong>er anderen Zelle; dazwischen bef<strong>in</strong>det sich nur der synaptische Spalt.<br />

Die synaptische Plastizität beschreibt, wie sich die Synapse während e<strong>in</strong>es Lernprozesses<br />

verändert. Dabei gibt es zwei generelle Formen von Ereignissen, die zur Veränderung<br />

53


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

der Synapse beitragen: die Langzeitpotenzierung, auch LTP genannt, und die Langzeitdepression,<br />

auch als LTD bekannt. Dabei spielt die Häufigkeit, mit der e<strong>in</strong>e Synapse zur<br />

Reizweiterleitung verwendet wird, e<strong>in</strong>e große Rolle.<br />

Ist die Synapse über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum aktiv, f<strong>in</strong>det LTP statt. Hierfür müssen<br />

zeitgleich e<strong>in</strong>e postsynaptische Depolarisation und e<strong>in</strong>e präsynaptische Freisetzung von<br />

Neurotransmittern stattf<strong>in</strong>den. Zunächst f<strong>in</strong>det die Depolarisation statt; dadurch gibt<br />

das Mg 2+ NMDA-Kanäle frei, durch die nun Na + <strong>in</strong> den postsynaptischen Teil gelangt.<br />

LTP wird von zwei Faktoren aufrecht erhalten: zum e<strong>in</strong>en durch die Ergänzung von<br />

AMPA-Rezeptoren an der Postsynapse, die dadurch mehr Neurotransmitter aufnehmen<br />

kann, zum anderen durch die erhöhte Freisetzung von Glutamat, e<strong>in</strong>em Neurotransmitter,<br />

der an eben jene Rezeptoren anb<strong>in</strong>det und dadurch Reize weiterleitet. Dieser Prozess<br />

tritt beim Lernen auf; wird die Synapse gestärkt, lassen sich Informationen leichter<br />

mite<strong>in</strong>ander verknüpfen.<br />

Die LTD ist das Gegenteil der LTP. Hier s<strong>in</strong>d die Synapsen über längere Zeit kaum oder<br />

gar nicht aktiv. LTD entsteht durch e<strong>in</strong>e Aktivierung von Neuronen, die nicht ausreichend<br />

ist für die Entstehung von LTP. Meist passiert dies durch e<strong>in</strong>e asynchrone Aktivierung<br />

des Neurons durch zwei andere Neurone. Als Folge werden AMPA-Rezeptoren <strong>in</strong> die<br />

Zelle e<strong>in</strong>gezogen. Diesen Vorgang nennt man Internalisierung. Möglicherweise kann es<br />

sogar zu e<strong>in</strong>er Elim<strong>in</strong>ierung der kompletten Synapse kommen.<br />

Die Plastizität der Synapse beschreibt den Prozess des Lernens im Gehirn. Veränderung<br />

der Effizienz von Synapsen ist dabei ursächlich. Das Lernen lässt sich auch mit dem<br />

Muskeltra<strong>in</strong><strong>in</strong>g vergleichen: Häufiges Wiederholen stärkt die Verb<strong>in</strong>dungen.<br />

3.5 Patient H.M.<br />

Im Jahr 1926 wurde e<strong>in</strong> Junge geboren, dessen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart<br />

sich mit 27 Jahren dramatisch verändern sollten. Schon mit neun Jahren war er nicht<br />

mehr der Junge Henry, sondern Patient H.M., der unter den Anfängen e<strong>in</strong>er schwerer<br />

werdenden Epilepsie litt. 18 Jahre später, mit 27, stimmte er, <strong>in</strong> Absprache mit se<strong>in</strong>en<br />

Ärzten, e<strong>in</strong>er schweren Gehirnoperation zu, da er nicht e<strong>in</strong>mal mehr <strong>in</strong> der Lage war zu<br />

arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt vermutete man unter Neurowissenschaftlern, dass e<strong>in</strong><br />

bestimmter Bereich im Gehirn, nämlich Teile des Temporallappen u. a. der Hippocampus,<br />

der Ursprungsort für epileptische Anfälle ist.<br />

Nach vielen fehlgeschlagenen Therapieversuchen blieb H.M. als letzte Option die<br />

Entfernung von Hippocampus und Amygdala, um se<strong>in</strong>e Krankheit zu heilen. Während<br />

e<strong>in</strong>er Operation wurden im Jahr 1953 Teile des Hippocampus und die komplette Amygdala<br />

entfernt. Nach der Operation kamen alle Wissenschaftler zu e<strong>in</strong>em erstaunlichen<br />

Ergebnis. Er war sche<strong>in</strong>bar von der Epilepsie geheilt. Kurze Zeit später hatte man jedoch<br />

e<strong>in</strong>e zweite, tragischere, Erkenntnis. Man stellte fest, dass H.M. ke<strong>in</strong>e neuen Er<strong>in</strong>nerungen<br />

abspeichern konnte. Er er<strong>in</strong>nerte sich an nichts, was er tat, sobald er e<strong>in</strong>mal von<br />

se<strong>in</strong>er aktuellen Tätigkeit abgelenkt war. Dies war e<strong>in</strong> Zeichen dafür, dass das sogenannte<br />

Arbeitsgedächtnis <strong>in</strong>takt war, während die Übertragung <strong>in</strong> das Langzeitgedächtnis<br />

54


3.6 Deklaratives Gedächtnis<br />

ansche<strong>in</strong>end nicht mehr stattf<strong>in</strong>den konnte. Diese Form von Gedächtnisverlust nennt<br />

man anterograde Amnesie. Er<strong>in</strong>nerungen, die vor der Schädigung, also der Operation,<br />

abgespeichert worden waren, konnten teilweise noch abgerufen werden, während der<br />

Patient nicht mehr <strong>in</strong> der Lage war, e<strong>in</strong> Gedächtnis <strong>in</strong> der Zeit nach der Schädigung<br />

aufzubauen.<br />

Das Erstaunliche war, dass er trotz der fehlenden Gedächtnisfähigkeiten motorische<br />

Fertigkeiten erlernen konnte. So erlernte er z. B. das Golfspielen problemlos, war jedoch<br />

jedes Mal davon überzeugt, dass er e<strong>in</strong> Naturtalent war und e<strong>in</strong>e gottgegebene Begabung<br />

besaß, da er sich ja nicht mehr an den Lernvorgang er<strong>in</strong>nern konnte.<br />

H.M. wurde also nicht nur vom kle<strong>in</strong>en Jungen zum Epilepsiepatienten, sondern auch<br />

vom Patienten zum wissenschaftlich hoch<strong>in</strong>teressanten Versuchsobjekt. Er <strong>in</strong>teragierte<br />

mit e<strong>in</strong>er eigenen Psycholog<strong>in</strong>, mehreren Ärzten und Betreuern, doch er konnte sich<br />

nicht e<strong>in</strong>mal an sie er<strong>in</strong>nern. E<strong>in</strong>mal beschrieb er se<strong>in</strong> Leben wie e<strong>in</strong> ständiges Erwachen<br />

aus e<strong>in</strong>em Traum, der se<strong>in</strong>e eigene Vergangenheit verkörperte. Er konnte sich ke<strong>in</strong><br />

wirkliches Hier und Jetzt mehr aufbauen, lebte bis zu se<strong>in</strong>em Tod <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sich ständig<br />

verändernden und alternden Körper, während er die Persönlichkeit se<strong>in</strong>es 27-jährigen<br />

Ichs behielt.<br />

So starb er mit 82 Jahren. Die Wissenschaft jedoch behielt ihn als e<strong>in</strong>en außergewöhnlichen<br />

Patienten <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, der der Neurobiologie viele neue Erkenntnisse rund um<br />

das Gedächtnis brachte.<br />

3.6 Deklaratives Gedächtnis<br />

Das so genannte deklarative oder explizite Gedächtnis speichert Fakten und Ereignisse im<br />

Gehirn. Es lässt sich untergliedern <strong>in</strong> die folgenden beiden Bereiche: Das episodische<br />

Gedächtnis für persönliche Er<strong>in</strong>nerungen und Erlebnisse, beispielsweise e<strong>in</strong>e Geburtstagsfeier<br />

oder e<strong>in</strong>e Unterhaltung, und das semantische Gedächtnis für allgeme<strong>in</strong>e Fakten<br />

über die Welt, zum Beispiel den Namen e<strong>in</strong>es Bekannten oder die Tatsache, dass Rio de<br />

Janeiro <strong>in</strong> Brasilien liegt. Die beiden s<strong>in</strong>d nicht zwangsweise mite<strong>in</strong>ander verknüpft. Es<br />

kommt ja vor, dass man sich nicht er<strong>in</strong>nern kann, woher man etwas weiß; die episodische<br />

Er<strong>in</strong>nerung fehlt also. Andererseits er<strong>in</strong>nert man sich auch häufig an e<strong>in</strong>e Situation, <strong>in</strong><br />

der man bestimmte Fakten erfahren hat, die Fakten an sich jedoch s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>em entfallen.<br />

Hier fehlt die semantische Er<strong>in</strong>nerung.<br />

Das deklarative Gedächtnis ist von dem sogenannten impliziten Gedächtnis abzugrenzen.<br />

Unter diesem Begriff wird Verschiedenes zusammengefasst: E<strong>in</strong>erseits motorisches<br />

oder prozedurales Lernen, also der Erwerb bestimmter Fertigkeiten (wie zum Beispiel<br />

Fahrradfahren), andererseits Vorgänge wie Prim<strong>in</strong>g oder Konditionierung. Beide, das<br />

deklarative und das implizite Gedächtnis, beruhen auf unterschiedlichen Vorgängen im<br />

Gehirn, die auch <strong>in</strong> anderen Bereichen stattf<strong>in</strong>den.<br />

Für deklaratives Lernen, das bedeutet das H<strong>in</strong>zufügen von neuen Informationen<br />

zum deklarativen Gedächtnis, ist der Hippocampus im medialen, also mittig gelegenen,<br />

Temporallappen essentiell. Er ist <strong>in</strong> beiden Hirnhälften vorhanden. Hier werden die neu<br />

55


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

aufgenommenen Informationen zwischengespeichert, bis sie schließlich <strong>in</strong>s Langzeitgedächtnis<br />

übergehen. Diesen Vorgang nennt man Konsolidierung. Der Hippocampus<br />

fungiert dabei als e<strong>in</strong>e Art Knotenpunkt der Verschaltungen zwischen e<strong>in</strong>zelnen Nervenzellen<br />

der Großhirnr<strong>in</strong>de, die für die Speicherung zuständig s<strong>in</strong>d. Ob sich diese Nervenzellen<br />

mit der Zeit auch untere<strong>in</strong>ander stärker vernetzen, sodass der Hippocampus zur<br />

Speicherung dieser Informationen nicht mehr benötigt wird (Konsolidierungstheorie),<br />

oder ob er se<strong>in</strong>e Funktion als Schaltstelle weiter beibehält (Theorie multipler Gedächtnisspuren),<br />

ist noch umstritten. Jedenfalls führt e<strong>in</strong>e Schädigung des Hippocampus zu<br />

erheblichen Gedächtnisproblemen, die vor allem den Übergang zwischen Kurzzeit- und<br />

Langzeitgedächtnis, sowie das Abrufen von Informationen aus diesem betreffen (siehe<br />

auch Patient H.M.).<br />

E<strong>in</strong>e weitere für das deklarative Langzeitgedächtnis sehr wichtige Hirnregion ist der<br />

frontale Cortex, also die R<strong>in</strong>de des Stirnlappens, der die Funktion des Hippocampus<br />

hemmt, um zu verh<strong>in</strong>dern, dass überflüssige Informationen gespeichert oder abgerufen<br />

werden.<br />

Des Weiteren spielen auch Teile des Zwischenhirns e<strong>in</strong>e tragende Rolle beim deklarativen<br />

Lernen und Abrufen. E<strong>in</strong>e Schädigung des Zwischenhirns (zum Beispiel durch<br />

vermehrten Alkoholkonsum) kann zum Korsakow-Syndrom führen, welches gekennzeichnet<br />

ist durch Störungen des Gedächtnisses und Konfabulation, d. h. der Patient erf<strong>in</strong>det<br />

unbewusst Geschichten, um se<strong>in</strong>e Gedächtnislücken zu füllen.<br />

3.7 Amnesien<br />

E<strong>in</strong>e Amnesie beschreibt das Phänomen des Gedächtnisverlusts, welches am häufigsten<br />

aufgrund von Schädel-Hirn-Traumata e<strong>in</strong>tritt. Weitere Möglichkeiten für den E<strong>in</strong>tritt<br />

dieser Störung bestehen bei übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum oder bei bestimmten<br />

Krankheiten, wie unter anderem Epilepsie, Men<strong>in</strong>gitis oder Enzephalitis. Dabei<br />

tritt e<strong>in</strong>e Amnesie grundsätzlich plötzlich e<strong>in</strong> und baut sich nicht über e<strong>in</strong>en längeren<br />

Zeitraum auf. Nach Ausbildung besteht sie entweder für e<strong>in</strong>en begrenzten Zeitraum<br />

oder sogar lebenslang. Je nach Art der Amnesie ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, se<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen<br />

wiederzuerlangen, unterschiedlich. In seltenen Fällen s<strong>in</strong>d die Er<strong>in</strong>nerungen<br />

durch Gedächtnistra<strong>in</strong><strong>in</strong>g oder Psychotherapie wieder aufzubauen. Mögliche emotionale<br />

Folgen für den Patienten s<strong>in</strong>d Angststörungen und Depressionen.<br />

Pr<strong>in</strong>zipiell s<strong>in</strong>d verschiedene Arten von Amnesien zu unterscheiden. Die erste Form<br />

wird als retrograde Amnesie bezeichnet und beschreibt den Verlust der Er<strong>in</strong>nerungen<br />

an e<strong>in</strong>e Zeitspanne vor e<strong>in</strong>er Hirnschädigung. In diesem Fall herrscht e<strong>in</strong>e Störung<br />

des autobiographischen Gedächtnisses vor. Es ist also nicht mehr möglich, sich an e<strong>in</strong><br />

bestimmtes, selbst erlebtes Ereignis zu er<strong>in</strong>nern. So kann man sich beispielsweise nicht<br />

an se<strong>in</strong>e eigene Lebensgeschichte oder an se<strong>in</strong>e Angehörigen er<strong>in</strong>nern. Im Anschluss<br />

an diesen Ausfall ist es bei e<strong>in</strong>er dauerhaften Schädigung der Neuronen meistens unmöglich,<br />

das Gedächtnis wiederzuerlangen. Dies ist auf e<strong>in</strong> Absterben von Nervenzellen<br />

zurückzuführen, welches unter anderem durch Hirnblutungen hervorgerufen werden<br />

kann.<br />

56


3.8 Langzeitpotenzierung im Hippocampus<br />

Abbildung 3.2: Zwischendurch aktivierten wir uns mit verschiedenen kle<strong>in</strong>en Spielen.<br />

E<strong>in</strong>e andere Form der Amnesie ist die anterograde Amnesie, welche ebenfalls bei<br />

Gehirnerschütterungen auftritt. Sie entsteht durch e<strong>in</strong>e Läsion des Hippocampus, sodass<br />

der Mechanismus der Informationsübertragung vom Kurzzeitgedächtnis <strong>in</strong>s Langzeitgedächtnis<br />

gestört ist. Neue Informationen können lediglich für e<strong>in</strong> bis zwei M<strong>in</strong>uten<br />

gespeichert werden und gehen verloren, sobald sich die betroffene Person e<strong>in</strong>em anderen<br />

Thema widmet. Häufig ist e<strong>in</strong>e anterograde Amnesie auch mit e<strong>in</strong>er retrograden Amnesie<br />

verbunden.<br />

Weiterh<strong>in</strong> gibt es die transiente globale Amnesie. Am häufigsten tritt sie im hohen Alter<br />

auf, da sie Folge e<strong>in</strong>es Schlaganfalls se<strong>in</strong> kann, für den die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit mit dem<br />

Alter zunimmt. Dabei stellt sie e<strong>in</strong>e anterograde Amnesie dar, die jedoch für maximal<br />

24 Stunden anhält. Andere Merkmale der transienten globalen Amnesie s<strong>in</strong>d zudem<br />

Orientierungsstörungen <strong>in</strong> Bezug auf Zeit, Situation und Ort. Hieraus ergibt sich, dass<br />

die Patienten oft ratlos wirken und wiederholt die gleichen Fragen stellen, obwohl sie<br />

diese bereits mehrmals beantwortet bekommen haben. Nach solch e<strong>in</strong>em Zeitraum von<br />

ca. 24 Stunden verhalten sie sich jedoch wieder normal und leiden lediglich noch an<br />

e<strong>in</strong>er Gedächtnislücke für die entsprechende Zeit der Amnesie.<br />

Letztendlich ist bei allen Formen der Amnesie jedoch nicht das prozedurale Gedächtnis<br />

betroffen. Somit bleiben alle automatischen motorischen Fähigkeiten erhalten.<br />

3.8 Langzeitpotenzierung im Hippocampus<br />

Der Hippocampus ist Teil des Temporallappens und besteht aus zwei Schichten von neuronalen<br />

Verschaltungen. Dabei handelt es sich um den Gyrus dentatus und das Ammonshorn,<br />

wobei letzteres <strong>in</strong> weitere vier Bereiche gegliedert ist, von denen die Bereiche CA1 und<br />

CA3 die größte Bedeutung <strong>in</strong> der Forschung haben. Der Hippocampus ist wichtig für<br />

die langfristige Speicherung von Informationen, bei der die Reizübertragung durch die<br />

Induktion von LTP bee<strong>in</strong>flusst werden kann.<br />

57


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

Wenn LTP <strong>in</strong>duziert werden soll, müssen gewisse Bed<strong>in</strong>gungen erfüllt se<strong>in</strong>. Dabei<br />

handelt es sich um die Depolarisation der postsynaptischen Membran, welche durch<br />

das E<strong>in</strong>treffen mehrerer Aktionspotentiale ausgelöst wird. Experimentell wird beispielsweise<br />

e<strong>in</strong>e elektrische Reizabfolge gesendet, die der Frequenz der elektrochemischen<br />

Signalübertragung mehrerer Aktionspotenziale entspricht. Dies ermöglicht, dass mehrere<br />

Aktionspotentiale zeitgleich ausgelöst werden und so die Langzeitpotenzierung<br />

ausgelöst wird.<br />

Hierbei dient Glutamat als Transmitter der Synapsen, da er an AMPA-Rezeptoren b<strong>in</strong>det.<br />

Dies löst den E<strong>in</strong>strom von Na + <strong>in</strong> die Zelle aus und es kommt zur Depolarisation.<br />

Dadurch werden blockierende Mg 2+ -Ionen von NMDA-Rezeptoren entfernt, was zudem<br />

dafür sorgt, dass Ca 2+ -Ionen e<strong>in</strong>strömen und von Glutamat aktiviert werden, <strong>in</strong>dem<br />

Glutamat an diesen Rezeptor b<strong>in</strong>det. Aufgrund dieses E<strong>in</strong>stroms werden zwei Prote<strong>in</strong>k<strong>in</strong>asen<br />

aktiviert, Prote<strong>in</strong>k<strong>in</strong>ase C und CaMK2, welche für den weiteren Verlauf von großer<br />

Bedeutung s<strong>in</strong>d, da sie für den E<strong>in</strong>bau weiterer AMPA-Rezeptoren zuständig s<strong>in</strong>d. Der<br />

weitere Verlauf wurde bisher aber noch nicht vollständig erforscht.<br />

Da e<strong>in</strong>e Steigerung der Effizienz der Reizübertragung hervorgerufen werden soll,<br />

werden die AMPA-Rezeptoren von der Prote<strong>in</strong>k<strong>in</strong>ase CaMK2 phosphoryliert, sodass e<strong>in</strong><br />

erhöhter Na + -Ionene<strong>in</strong>strom durch e<strong>in</strong>e größere Ionenleitfähigkeit ermöglicht wird. Es<br />

können des Weiteren neue AMPA-Rezeptoren e<strong>in</strong>gebaut werden, was zu e<strong>in</strong>em erhöhten<br />

Ionene<strong>in</strong>strom führen würde, oder es besteht die Möglichkeit, weitere Synapsen<br />

auszubilden, sodass mehr Aktionspotentiale übertragen werden können.<br />

Aufgrund e<strong>in</strong>es ständigen Austausches an AMPA-Rezeptoren gehen bereits phosphorylierte<br />

Rezeptoren verloren, dennoch ist e<strong>in</strong>e dauerhafte Potenzierung, also Steigerung<br />

der Effizienz e<strong>in</strong>er Reizübertragung, möglich. Dieser Prozess wird ermöglicht, da die<br />

Prote<strong>in</strong>k<strong>in</strong>ase CaMK2 sich selbst phosphorylieren kann, <strong>in</strong>dem sie durch den Ca 2+ -<br />

E<strong>in</strong>strom aktiviert wird. Die neuen AMPA-Rezeptoren werden somit immer wieder neu<br />

phosphoryliert und können den Reizübertragungsprozess <strong>in</strong> Gang halten.<br />

Abschließend kann der Prozess der Langzeitpotenzierung als e<strong>in</strong> Zusammenspiel mehrerer<br />

Faktoren gekennzeichnet werden, bei dem die elektro-chemische Reizübertragung<br />

<strong>in</strong> ihrer Dauer und ihrer Intensität gesteigert wird.<br />

3.9 Räumliches Lernen bei Tieren<br />

Beim räumlichen Lernen wird die Fertigkeit tra<strong>in</strong>iert, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Raum zurechtzuf<strong>in</strong>den.<br />

Von den im Gehirn dafür verantwortlichen Bereichen ist vor allem der Hippocampus<br />

wichtig. Der Hippocampus liegt zentral im Gehirn und ist verantwortlich für den<br />

Transfer von Informationen vom Kurzzeitgedächtnis <strong>in</strong>s Langzeitgedächtnis. Er ist sehr<br />

wichtig für das Speichern von Er<strong>in</strong>nerungen und die Koord<strong>in</strong>ierung verschiedener<br />

Gedächtnis<strong>in</strong>halte.<br />

Die Wichtigkeit des Hippocampus bewies unter anderem der Wissenschaftler Richard<br />

Morris mithilfe des nach ihm benannten Morris-Wasserlabyr<strong>in</strong>ths. Dieses ist e<strong>in</strong> runder,<br />

mit dunkel gefärbtem Wasser gefüllter Behälter, sodass nicht zu sehen ist, was sich<br />

58


3.10 Räumliches Lernen bei Menschen<br />

unter der Oberfläche bef<strong>in</strong>det. In diesen Behälter werden nun Ratten gesetzt, die solange<br />

schwimmen müssen, bis sie e<strong>in</strong> nicht sichtbares Podest gefunden haben, beziehungsweise<br />

bis die Maximalzeit vorbei ist. Vor diese Aufgabe wurden sowohl gesunde Ratten als<br />

auch Ratten mit Schäden am Hippocampus gestellt. Während die gesunden Ratten<br />

schnell lernten und das Podest nach wenigen Übungen sehr schnell fanden, zeigte<br />

sich ke<strong>in</strong> Lernfortschritt bei Ratten mit hippocampalen Schäden. Sie konnten auch nach<br />

mehreren Durchgängen das Podest im Wasser nicht f<strong>in</strong>den. Daraus lässt sich schließen,<br />

dass aufgrund der hippocampalen Schäden ke<strong>in</strong> Lernprozess zu verzeichnen war.<br />

Um Genaueres über das räumliche Lernen zu erfahren, maß man die Neuronenaktivität<br />

der Ratten im Hippocampus. Dabei fand man heraus, dass bestimmte Nervenzellen<br />

auf bestimmte Bereiche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Raum reagieren. Diese Neurone nennt man Ortszellen.<br />

Dabei nennt man die Orte, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Neuron die höchste Aktivität hervorrufen,<br />

Ortsfelder. Die Ratten lokalisieren ihren Standort mithilfe sensorischer, vorwiegend<br />

visueller Reize. Dabei senden bestimmte Neurone Signale an e<strong>in</strong>er bestimmten Stelle<br />

im Raum. Dadurch können sich die Zellen an ihre Umgebung anpassen. Dafür ist der<br />

folgende Versuch e<strong>in</strong> gutes Beispiel.<br />

In e<strong>in</strong>em Raum hat man die Neuronenaktivität e<strong>in</strong>er Ratte an e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Punkt gemessen. Anschließend drehte man den Raum und wiederholte den Versuch.<br />

Die Neuronen der Ratte feuerten wieder an derselben Stelle im Raum, obwohl sich diese<br />

nicht am gleichen Ort befand. Hier haben sich also die Neuronen an die Umgebung<br />

angepasst und mitgelernt. Man schloss daraus, dass der Hippocampus am sogenannten<br />

Ortsgedächtnis beteiligt ist und e<strong>in</strong>e Art räumliche Karte der Umwelt erstellt.<br />

Verhaltenswissenschaftler fanden heraus, dass es zwei Möglichkeiten gibt, wie Er<strong>in</strong>nerungen<br />

im Ortsgedächtnis gespeichert wird. Zum e<strong>in</strong>en die räumliche Karte und<br />

zum anderen das relationale Gedächtnis. Hier werden Verb<strong>in</strong>dungen zwischen verschieden<br />

Assoziationen geknüpft, wobei e<strong>in</strong> verständliches Bild der räumlichen Umgebung<br />

entsteht.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das räumliche Gedächtnis von Verb<strong>in</strong>dungen<br />

verschiedener S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke abhängig ist und dadurch e<strong>in</strong> räumliches Bild entsteht,<br />

welches e<strong>in</strong>e Orientierung ermöglicht. Dabei spielt der Hippocampus e<strong>in</strong>e entscheidende<br />

Rolle.<br />

3.10 Räumliches Lernen bei Menschen<br />

Der Mensch prägt sich D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem das Gehirn S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke verarbeitet. Wir<br />

lernen, wenn es zu e<strong>in</strong>er synaptischen Veränderung im Gehirn kommt. Wichtig für das<br />

räumliche Lernen ist der Hippocampus. Dieser ist <strong>in</strong> beiden Gehirnhälften lokalisiert. Der<br />

h<strong>in</strong>tere Teil wird als posteriorer Hippocampus, der vordere als anteriorer Hippocampus<br />

bezeichnet. Er ist zum Beispiel verantwortlich für die Gedächtniskonsolidierung, der<br />

Überführung von Gedächtnis<strong>in</strong>halten aus dem Kurzzeit- <strong>in</strong> das Langzeitgedächtnis.<br />

Im Jahre 2008 wurde <strong>in</strong> London die Studie »Navigation-related structural change <strong>in</strong><br />

the hippocampi of taxi drivers« durchgeführt. Hierbei wurden die Hippocampi von<br />

59


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

Taxifahrern und e<strong>in</strong>er gleichen Anzahl anderer Testpersonen, die e<strong>in</strong>en anderen Beruf<br />

ausübten, getestet. Die Taxifahrer hatten e<strong>in</strong>e zweijährige Ausbildung absolviert und<br />

dadurch die Fähigkeit erworben zwischen tausenden von Plätzen <strong>in</strong> London zu navigieren.<br />

Die anderen Testpersonen hatten ke<strong>in</strong>e außergewöhnlichen Navigationsfähigkeiten.<br />

Die Untersuchung des Gehirns wurde mithilfe der voxel-basierten Morphometrie (VBM)<br />

durchgeführt. Dies ist e<strong>in</strong>e tomographische Schichtbildaufnahme, welche zum Beispiel<br />

der Charakterisierung von Strukturen im Gehirn dient. So konnten die Formen und<br />

Größen der Hippocampi ermittelt und verglichen werden.<br />

Da die Taxifahrer <strong>in</strong> ihrer Ausbildung sehr präzise die Straßen Londons auswendig<br />

lernen mussten, kam es <strong>in</strong> ihrem posterioren Hippocampus zu e<strong>in</strong>em Lernvorgang, zu<br />

e<strong>in</strong>er synaptischen Veränderung. Der posteriore Hippocampus ist gewachsen, während<br />

der anteriore Hippocampus dagegen kle<strong>in</strong>er geworden ist.<br />

Die Studie bestätigt, dass es im Hippocampus zu e<strong>in</strong>er strukturellen Plastizität kommt.<br />

Wenn wir lernen und bestimmte Bereiche des Gehirns tra<strong>in</strong>ieren, bilden sich weitere<br />

Synapsen aus und diese Bereiche können auch größer werden. Der posteriore Hippocampus<br />

ist hierbei der Bereich des Gehirns, der für das räumliche Lernen und den<br />

Orientierungss<strong>in</strong>n zuständig ist. Somit schnitten die Taxifahrer sehr gut <strong>in</strong> Orientierungsfragen<br />

ab. Sollten sie jedoch Wortpaare bilden, so schnitten sie eher schlechter ab, weil<br />

der posteriore Hippocampus mit dem Navigationslernen auf Kosten des anterioren<br />

Hippocampus wuchs, welcher zum Beispiel für Assoziationen wichtig ist.<br />

Um festzustellen, wie sich Schäden am Hippocampus auf die Fähigkeit räumlich<br />

zu lernen auswirken, testeten Forscher um 2005 den Patienten E.P., der durch e<strong>in</strong>en<br />

Unfall Schäden am Hippocampus erlitt. E.P. konnte sich an se<strong>in</strong>e Heimat vor dem Unfall<br />

er<strong>in</strong>nern und <strong>in</strong> dieser zurechtf<strong>in</strong>den, jedoch nicht mehr an die Orte, die er nach dem<br />

Unfall besucht hat, auch se<strong>in</strong>e eigene Wohnung. Trotz der Schäden am Hippocampus<br />

war es für ihn möglich sich an Sachen zurückzuer<strong>in</strong>nern, jedoch nicht neue Sachen zu<br />

erlernen.<br />

Das räumliche Lernen wird demnach durch den Hippocampus bestimmt. Dieser<br />

verarbeitet und leitet aktuelle Informationen weiter. Dies kann zu e<strong>in</strong>er nachhaltigen<br />

Speicherung führen, wenn der Hippocampus ke<strong>in</strong>e Schädigungen hat. Tra<strong>in</strong>ieren wir<br />

bestimmte Bereiche des Hippocampus sehr stark, so kann es zu e<strong>in</strong>em sichtbaren<br />

Wachstum kommen<br />

3.11 Was ist motorisches Lernen<br />

Motorisches Lernen beschreibt das Erlernen e<strong>in</strong>er Fertigkeit und deren Abspeicherung im<br />

Fertigkeitengedächtnis – auch prozedurales Gedächtnis genannt. Die Fertigkeiten werden<br />

unterteilt <strong>in</strong> sensomotorische und kognitive Fertigkeiten. Sensomotorische Fertigkeiten<br />

be<strong>in</strong>halten jegliche Art von Bewegung und lassen sich noch e<strong>in</strong>mal differenzieren, <strong>in</strong><br />

geschlossene (Bed<strong>in</strong>gungen vorgeschrieben und immer gleich) und offene (veränderbare<br />

Bed<strong>in</strong>gungen) Fertigkeiten. Als gutes Beispiel gilt das Tanzen – zum e<strong>in</strong>en mit fester<br />

Choreographie beim Hip-Hop (geschlossen) und zum anderen mit mehr Freiheit beim<br />

60


3.12 Verarbeitung von motorischem Lernen<br />

Standard-Tanz (offen). Kognitive Fertigkeiten beschreiben das Erlernen von gedanklichen<br />

Vorgängen, wie zum Beispiel das Kopfrechnen oder das Zahlenrätsel Sudoku.<br />

Alle Fertigkeiten lassen sich durch Übung verbessern, jedoch nur bis zu e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Grad. Das Potenzgesetz der Übung legt fest, dass die Fortschritte im Verlauf<br />

e<strong>in</strong>es Lernprozesses immer kle<strong>in</strong>er werden, beziehungsweise es länger dauert ähnlich<br />

große Fortschritte wie zu Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es Lernprozesses zu erreichen. Das Potenzgesetz ist<br />

durch Rückmeldung oder e<strong>in</strong> so genanntes Feedback zu überw<strong>in</strong>den (Beispiel: Tanzen<br />

vor e<strong>in</strong>em Spiegel). Um sich weiter zu verbessern und um kle<strong>in</strong>ste Fehler e<strong>in</strong>zustellen<br />

braucht der Mensch solch e<strong>in</strong> Feedback, da er sich selbst irgendwann nicht mehr genau<br />

reflektieren kann. Hierbei gilt, dass häufiges Feedback e<strong>in</strong>en kurzfristigen Erfolg zur<br />

Folge hat und e<strong>in</strong> eher seltenes Feedback e<strong>in</strong>en langfristigen Erfolg.<br />

Sensomotorische sowie kognitive Fertigkeiten können implizit erlernt werden. Implizites<br />

Lernen beschreibt unbewusstes Erlernen e<strong>in</strong>er Fertigkeit. E<strong>in</strong> geeignetes Beispiel<br />

hierfür ist das selbstständige und eben unbewusste Erlernen der effektivsten Methode<br />

e<strong>in</strong> Fenster zu putzen.<br />

Dies wird anschaulich dargestellt durch das »Drei-Phasen-Modell« des Fertigkeitenerwerbs.<br />

Zu Anfang e<strong>in</strong>es Lernprozesses steht die kognitive Phase, <strong>in</strong> der aktives Denken<br />

erforderlich ist (Aufbau e<strong>in</strong>es neuen Zeltes mit genauem Studieren der Anleitung).<br />

Darauf folgt die assoziative Phase, <strong>in</strong> der man sich an vormals ausgeführte Handlungen<br />

er<strong>in</strong>nert (erneutes Aufbauen des Zeltes mit genauem Er<strong>in</strong>nern an den ersten Aufbau).<br />

Zum Abschluss gelangt man <strong>in</strong> die automatische Phase, <strong>in</strong> der ke<strong>in</strong>e große Aufmerksamkeit<br />

mehr benötigt wird (erneutes Aufbauen, nun jedoch parallel dazu Gespräche oder<br />

anderes möglich). S<strong>in</strong>d diese drei Phasen durchlaufen, nennt man das e<strong>in</strong> motorisches<br />

Programm. Dies ist e<strong>in</strong>e gelernte Handlungsabfolge und nicht zu vergleichen mit e<strong>in</strong>em<br />

Reflex, der e<strong>in</strong>e angeborene Reaktion darstellt.<br />

Den Vorgang des Verlernens und Vergessens e<strong>in</strong>er Fertigkeit nennt man Fertigkeitenzerfall,<br />

wobei sensomotorische länger und besser behalten werden können als kognitive<br />

Fertigkeiten. Das erneute Erlernen der vergessenen Fertigkeit fällt den Menschen dann<br />

aber leichter.<br />

3.12 Verarbeitung von motorischem Lernen<br />

Wie kann man motorische Fähigkeiten erlernen? Hierfür relevante Hirnstrukturen s<strong>in</strong>d<br />

die Basalganglien unterhalb der Großhirnr<strong>in</strong>de, der Cortex und das Cerebellum <strong>in</strong> der<br />

h<strong>in</strong>teren Schädelgrube.<br />

Die Aufgabe der Basalganglien lässt sich mit Hilfe e<strong>in</strong>es Experiments nachvollziehen:<br />

Zunächst wurde e<strong>in</strong>e Ratte <strong>in</strong> e<strong>in</strong> mit Wasser gefülltes Becken gesetzt. Dieses Wasser war<br />

dunkel gefärbt und e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Podest wurde an e<strong>in</strong>em bestimmten Punkt kurz unter der<br />

Wasseroberfläche angebracht. Die Ratte sollte dieses nun f<strong>in</strong>den. Das Experiment wurde<br />

oft wiederholt. Ratten ohne Schädigung im Gehirn lernten nach e<strong>in</strong>iger Zeit, wo sich<br />

das Podest bef<strong>in</strong>det, woh<strong>in</strong>gegen Ratten mit hippocampaler Läsion sich diesen Ort nicht<br />

merken konnten. Die Ratten, die e<strong>in</strong>e Schädigung der Basalganglien aufwiesen, hatten<br />

61


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

Abbildung 3.3: Auch wir übten uns im motorischen Lernen.<br />

h<strong>in</strong>gegen ke<strong>in</strong>e Schwierigkeiten damit. Nun wurde aber der sogenannte Lerntransfer<br />

e<strong>in</strong>gesetzt, d. h. man hat die Plattform während die Ratte sich im Becken befand sichtbar<br />

verschoben. Die Ratte schwamm zunächst zum alten Standort des Podests und lokalisierte<br />

es erst anschließend neu. Sie hatte sich an die Stelle an der sich das Podest befand, den<br />

Ort der Rettung, er<strong>in</strong>nert. Dah<strong>in</strong>gegen nahm die Ratte mit hippocampaler Schädigung<br />

das Podest, das Objekt der Rettung, wahr und steuerte deshalb den neuen Standort<br />

an. Hier wird deutlich, dass die Basalganglien wichtig für die Interaktion zwischen<br />

dem sensorischen und dem motorischen System s<strong>in</strong>d. Sie <strong>in</strong>itialisieren Bewegungen und<br />

steuern z. B. die Geschw<strong>in</strong>digkeit. Das motorische Fertigkeitsgedächtnis wird aufgebaut.<br />

Bei der Krankheit Morbus Park<strong>in</strong>son treten Defizite motorischer Steuerung und Koord<strong>in</strong>ation<br />

auf. Die eigentlich aktivierende Wirkung der Basalganglien auf die Großhirnr<strong>in</strong>de<br />

ist aufgrund von Dopam<strong>in</strong>mangel <strong>in</strong> der Substantia Nigra gestört.<br />

Der cerebrale Cortex ist für die Steuerung und Koord<strong>in</strong>ierung von Bewegungen zuständig<br />

und steuert somit komplexe Handlungen. Im Cortex s<strong>in</strong>d die Neuronenverschaltungen<br />

<strong>in</strong> besonderem Maße auf die häufig ausgeführten Tätigkeiten ausgelegt: Bereiche können<br />

durch spezifisches Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g an Volumen gew<strong>in</strong>nen, die Plastizität spielt also e<strong>in</strong>e große<br />

Rolle.<br />

Das Cerebellum dient zur Koord<strong>in</strong>ation von zeitlichem Ablauf und Bewegungsabfolge<br />

sowie zur Fe<strong>in</strong>abstimmung der Motorik. Die Purk<strong>in</strong>jezellen im Kle<strong>in</strong>hirn sorgen für<br />

dessen Verb<strong>in</strong>dung zu Neuronen anderer Gehirnregionen, was zur Ausführung von<br />

sensomotorischen Fähigkeiten essentiell ist.<br />

Das Erlernen komplexer motorischer Fähigkeiten erfordert demnach die richtige<br />

Funktion aller drei Komponenten. Mite<strong>in</strong>ander verknüpft s<strong>in</strong>d diese größtenteils über<br />

das Rückenmark. Allgeme<strong>in</strong> besteht die Verarbeitung motorischen Lernens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Prozess, der von der Initialisierung <strong>in</strong> den Basalganglien über die Steuerung im Cortex<br />

bis h<strong>in</strong> zur Koord<strong>in</strong>ierung von Zeit und Ablauf im Cerebellum reicht.<br />

62


3.13 LTD im Kle<strong>in</strong>hirn<br />

3.13 LTD im Kle<strong>in</strong>hirn<br />

Im Gegenteil zur Langzeitpotenzierung (LTP), die e<strong>in</strong>e dauerhafte Verstärkung der<br />

synaptischen Übertragung hervorruft, beschreibt das Modell der Langzeitdepression<br />

(LTD) e<strong>in</strong>e beständige Abschwächung der Signalübertragung an den Synapsen von<br />

Nervenzellen.<br />

LTD ist unter anderem im Kle<strong>in</strong>hirn, auch Cerebellum genannt, messbar. Dieses bef<strong>in</strong>det<br />

sich unterhalb der Okzipitallappen, den H<strong>in</strong>terhauptslappen, <strong>in</strong> der h<strong>in</strong>teren Schädelgrube<br />

und ist für die koord<strong>in</strong>ierte, zeitlich präzise Durchführung von Bewegungen<br />

zuständig.<br />

Das Cerebellum lässt sich <strong>in</strong> drei Schichten unterteilen: Die äußerste Schicht, die<br />

Molekularschicht, enthält diverse Zellkörper, die Dendriten der Purk<strong>in</strong>jezellen, Kletterund<br />

Parallelfasern. Die Parallelfasern s<strong>in</strong>d Verzweigungen der Axone der Moosfasern,<br />

welche Informationen über die Stellung von Kopf und Körper und Zustand von Muskeln,<br />

Sehnen und Gelenken vermitteln. Kletterfasern kommen aus der unteren Olive und<br />

»klettern« an den Dendriten der Purk<strong>in</strong>jezellen hoch, wo sie erregende synaptische<br />

Verb<strong>in</strong>dungen e<strong>in</strong>gehen. Die mittlere Schicht, die Purk<strong>in</strong>jezellschicht, besteht aus den<br />

Zellkörpern der gleichnamigen Zellen. Zellkörper von Körner- und Golgizellen bilden<br />

die Körnerschicht.<br />

Ständig erregende Impulse aus dem motorischen System werden von den Zellkörpern<br />

der Molekularschicht an die Dendriten der Purk<strong>in</strong>jezelle weitergeleitet. Danach können<br />

diese Impulse nicht weitergeleitet werden, denn das Axon der Purk<strong>in</strong>jezelle hemmt<br />

durch den Neurotransmitter GABA die Übertragung auf die Kle<strong>in</strong>hirnkerne. Nur wenn<br />

die Purk<strong>in</strong>jezelle durch <strong>in</strong>hibitorischen Neurone, die Stern- und Korbzellen, gehemmt<br />

wird, fällt die <strong>in</strong>hibitorische Wirkung auf die Kle<strong>in</strong>hirnkerne weg. Nun kann e<strong>in</strong> Impuls<br />

weitergeleitet und an weitere motorische Zentren im Gehirn übergeben werden.<br />

LTD im Kle<strong>in</strong>hirn ist <strong>in</strong> der postsynaptischen Membran der Purk<strong>in</strong>jezelle zu lokalisieren.<br />

Dazu kommt e<strong>in</strong> Aktionspotenzial aus der Kletterfaser. Darauf aktivieren<br />

Neurotransmitter spannungsabhängige Natrium- und Calciumkanäle <strong>in</strong> der Membran<br />

der Purk<strong>in</strong>jezelle.<br />

Auch die Parallelfasern, die Axone der Körnerzellen, bilden Synapsen mit den Purk<strong>in</strong>jezellen.<br />

Sie setzen den Neurotransmitter Glutamat frei, welcher dann an die Glutamatrezeptoren<br />

der Purk<strong>in</strong>jezellen andockt. Dadurch kann Natrium durch Kanäle <strong>in</strong> die<br />

Dendriten e<strong>in</strong>strömen.<br />

E<strong>in</strong> weiterer Rezeptor <strong>in</strong> dieser Membran ist der metabotrope Glutamatrezeptor. Metabotropie<br />

bedeutet, dass e<strong>in</strong>em Rezeptor e<strong>in</strong>e weitere <strong>in</strong>trazelluläre Signalkaskade<br />

folgt. Durch Aktivierung des Rezeptors durch Glutamat werden sekundäre Botenstoffe<br />

produziert und die Prote<strong>in</strong>k<strong>in</strong>ase C aktiviert.<br />

LTD beruht auf der Abnahme der postsynaptischen Reaktion auf Glutamat. Die sogenannten<br />

AMPA-Rezeptoren <strong>in</strong> der postsynaptischen Membran werden nach der Induktion von<br />

LTD <strong>in</strong>ternalisiert.<br />

Zusammenfassend festzuhalten ist, dass es im Kle<strong>in</strong>hirn nur zu e<strong>in</strong>em Lernvorgang<br />

kommt, wenn e<strong>in</strong>e synaptische Veränderung stattf<strong>in</strong>det. Dafür müssen die drei vorherig<br />

63


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

aufgeführten Signale gleichzeitig auftreten. So braucht LTD e<strong>in</strong>en Anstieg der <strong>in</strong>ternen<br />

Calcium- und Natriumkonzentration und die Aktivierung der Prote<strong>in</strong>k<strong>in</strong>ase C. LTD ist<br />

die Voraussetzung, dass im Kle<strong>in</strong>hirn zum Beispiel geschickte, präzise Bewegungsabläufe<br />

erlernt werden können.<br />

3.14 Menschliche Emotionen<br />

E<strong>in</strong>e menschliche Emotion ist e<strong>in</strong> Gesamt von drei unterschiedlichen, aber wechselseitig<br />

mite<strong>in</strong>ander verbundenen Reaktionsarten: E<strong>in</strong>er physiologischen Reaktion, e<strong>in</strong>er beobachtbaren<br />

Verhaltensweise und dem bewussten Empf<strong>in</strong>den der Emotion. Es gibt viele<br />

verschiedene Emotionen. Sie werden von allen Menschen empfunden: z. B. Freude, Wut<br />

und Trauer. E<strong>in</strong>e Emotion wird durch e<strong>in</strong>en emotionalen Reiz ausgelöst, der zum Gehirn<br />

weitergeleitet wird. Dort wird der Reiz verarbeitet und es erfolgt e<strong>in</strong>e physiologische<br />

Reaktion, wie zum Beispiel erhöhter Herzschlag, und man bemerkt e<strong>in</strong>e charakteristische<br />

Verhaltensweise bei der Person, die e<strong>in</strong>e bestimmte Emotion verspürt. Beispielsweise<br />

fangen traurige Menschen oft an zu we<strong>in</strong>en. Im Gehirn gibt es verschiedene Bereiche, die<br />

für die Verarbeitung der Emotionen zuständig s<strong>in</strong>d. Der Cortex ist für die Interpretation<br />

des Kontextes und die Überwachung des Emotionsausdruckes verantwortlich, die Amygdala<br />

aktiviert die Stresshormonfreisetzung und ist wichtig bei der Emotionsverarbeitung.<br />

Der Hippocampus ist nötig, damit wir uns später an die emotionsgeladene Situation<br />

er<strong>in</strong>nern können.<br />

Manche Emotionen, etwa Ekel werden mit ansteigendem Alter erlernt, andere Emotionen<br />

s<strong>in</strong>d jedoch von Geburt an bei den Menschen verankert, z. B. Freude und Angst.<br />

Diese nennt man universelle Emotionen. Menschen aller Nationalitäten können sie empf<strong>in</strong>den<br />

und auch die äußeren Merkmale der verschiedenen Emotionen bei anderen<br />

erkennen. Der Umgang mit Emotionen ist allerd<strong>in</strong>gs von Kultur zu Kultur unterschiedlich.<br />

So zeigen Japaner gegenüber e<strong>in</strong>er Autoritätsperson ihre Emotionen nicht offen<br />

und verstecken sie. Jeder Mensch auf der Welt hat dieselben Emotionen, aber die Kultur,<br />

<strong>in</strong> der e<strong>in</strong> Mensch lebt, zeigt eigene Regeln im Umgang mit den Emotionen und ihrer<br />

Zurschaustellung.<br />

E<strong>in</strong>e Tatsache, die Menschen aller Kulturen betrifft, ist, dass emotionsgebundene Er<strong>in</strong>nerungen<br />

länger im Gedächtnis bleiben. E<strong>in</strong>es der bekanntesten Beispiele ist der 11.<br />

September 2001. Fast jeder erwachsene Mensch der westlichen Welt kann sich er<strong>in</strong>nern,<br />

wo er an diesem Tag war, als er die Nachricht des Terroranschlages gehört hat. Wenn<br />

man e<strong>in</strong>en Menschen jedoch fragt, wo er am 14. September war, kann sich fast niemand<br />

daran er<strong>in</strong>nern. Der 11. September ist e<strong>in</strong> Ereignis, dass sehr tief <strong>in</strong> unserem Gedächtnis<br />

verankert ist, da dieser Tag e<strong>in</strong>en hohen Emotionsgehalt hat. Emotionsgeladene Er<strong>in</strong>nerungen<br />

lassen wir sehr viel häufiger als gewöhnliche Tage vor unserem <strong>in</strong>neren Auge<br />

Revue passieren und wir unterhalten uns häufig über sie. Dies wird zudem durch die<br />

Medien verstärkt, die oft über emotionale Ereignisse berichten. Abschließend kann man<br />

sagen, dass Ereignisse, die für e<strong>in</strong>e Person emotional bedeutsam s<strong>in</strong>d, ihr länger <strong>in</strong><br />

Er<strong>in</strong>nerung bleiben.<br />

64


3.15 Wie erlernen Tiere emotionale Reaktionen?<br />

3.15 Wie erlernen Tiere emotionale Reaktionen?<br />

Um e<strong>in</strong>e möglichst sichtbare emotionale Reaktion bei Tieren hervorzurufen, wird meistens<br />

mit Angst gearbeitet. Es bestehen gewisse Verständnisprobleme zwischen Mensch<br />

und Tier, aber die biologische Angstreaktion ist oft ähnlich. E<strong>in</strong> Beispiel dafür ist der<br />

schnellere Herzschlag <strong>in</strong> Angstsituationen. Diese Angstsituationen eignen sich deshalb<br />

gut, weil ihre Reaktion e<strong>in</strong>fach hervorzurufen und zu beobachten ist.<br />

Im Folgenden soll auf drei verschiedene Arten der erlernten emotionalen Reaktionen<br />

e<strong>in</strong>gegangen werden.<br />

Als erste wird die konditionierte Angstreaktion (LeDoux 1933), die auf der Klassischen<br />

Konditionierung beruht, vorgestellt. Hierbei wurde e<strong>in</strong>er Ratte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geschlossen<br />

Raum e<strong>in</strong> 10 Sekunden andauernder Ton vorgespielt. Im Anschluss wurde der Ratte<br />

e<strong>in</strong> Elektroschock versetzt, was ihren Herzschlag erhöhte und sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schockstarre<br />

fallen ließ. Dies wurde e<strong>in</strong>ige Male wiederholt. Als die Forscher daraufh<strong>in</strong> alle<strong>in</strong> den<br />

Ton abspielten, lernte die Ratte den Ton mit ihrer Angst vor e<strong>in</strong>em Elektroschock zu<br />

verb<strong>in</strong>den und zeigte dieselbe Angstreaktion wie zuvor.<br />

Auf dieser Reaktion baut die konditionierte Vermeidung auf. Dabei wird zum Beispiel der<br />

Ratte versucht e<strong>in</strong>e Abneigung gegenüber e<strong>in</strong>em dunklen Raum beizubr<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong>dem<br />

man das Betreten dieses Raumes mit e<strong>in</strong>em Elektroschock begleitet. So wurde der Ratte<br />

durch Angst e<strong>in</strong>e Vermeidung dieses Raumes antra<strong>in</strong>iert.<br />

Der dritte Versuch kommt von den Forschern Seligman und Maier und wurde 1967<br />

durchgeführt. In diesem Experiment befand sich e<strong>in</strong> Hund <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geschlossenen<br />

Raum, <strong>in</strong> dem er, wie die Ratten im ersten Experiment, e<strong>in</strong>en Ton hörte und e<strong>in</strong>en<br />

darauf folgenden Stromstoß erhielt. Diesen Vorgang wiederholte man mehrmals. Dabei<br />

versuchte der Hund immer aus dem Raum zu entkommen, scheiterte aber jedes Mal.<br />

Da der Hund merkte, dass se<strong>in</strong>e Bemühen aus dem Raum zu fliehen unnütz waren,<br />

f<strong>in</strong>g er an zu jaulen und setzte sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ecke. Als der Hund konditioniert war,<br />

stellte man e<strong>in</strong>e Trennmauer zwischen dem e<strong>in</strong>en Raum mit den Stromstößen und<br />

e<strong>in</strong>em anderen Zufluchtsraum. Obwohl der Hund den Stromstößen nun mühelos hätte<br />

entfliehen können, blieb er währenddessen nur jaulend <strong>in</strong> der Ecke sitzen. Selbst als<br />

die Trennwand weggenommen wurde und der Hund sogar mit Futter aus dem Raum<br />

gelockt wurde, blieb er an se<strong>in</strong>er Stelle.<br />

Als Ursache hierfür ist e<strong>in</strong>e gesenkte Motivation des Hundes neue Techniken zu erlernen<br />

anzusehen, da er <strong>in</strong> der vorherigen Situation auch nichts machen konnte, um sich zu<br />

befreien. Durch dieses Experiment wurde se<strong>in</strong>e Motivation ohne Stromstöße zu leben<br />

gesenkt und ihm e<strong>in</strong>e Hilflosigkeit antra<strong>in</strong>iert, auch konditionierte Hilflosigkeit genannt.<br />

Im weiteren Verlauf des Experimentes ist der Hund erst eigenständig <strong>in</strong> den anderen<br />

Raum gegangen, nachdem die Forscher ihn dort wiederholt h<strong>in</strong>getragen hatten.<br />

Diese Experimente zeigen, dass emotionales Lernen sehr schnell stattf<strong>in</strong>det, da sich<br />

unser Gedächtnis dies besser merken kann als zum Beispiel nicht emotional gebundenes<br />

Faktenwissen. Außerdem ist am Beispiel des Hundes klar geworden, dass diese Form<br />

von Lernen lange anhält und schwer wieder weg zu tra<strong>in</strong>ieren ist.<br />

65


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

3.16 Was ist Alzheimer<br />

Die Krankheit Alzheimer wurde 1901 von Dr. Alois Alzheimer entdeckt. Se<strong>in</strong>e Beschreibung<br />

bildet noch heute die Grundlage für die Charakterisierung von Alzheimer. Alzheimer<br />

ist die häufigste Form der Demenz, welche durch Nervenzellensterben charakterisiert<br />

wird. Zu den Symptomen der Demenz gehören Störungen von Gedächtnis, Orientierung,<br />

<strong>in</strong>tellektuellen Fähigkeiten und Wortf<strong>in</strong>dung. Bei der vaskulären Demenz kommt es<br />

auch zu Wahrnehmungsproblemen. Patienten mit Alzheimer können außerdem Persönlichkeitsänderungen<br />

erfahren und werden zunehmend pflegebedürftig.<br />

Die Krankheit Alzheimer entsteht aufgrund von Neuronenverlust, bed<strong>in</strong>gt durch e<strong>in</strong>e<br />

Ablagerung von Fibrillen und Plaques zwischen Neuronen. Dies hat e<strong>in</strong>en Mangel von<br />

Acetylchol<strong>in</strong> zur Folge, welcher wiederum zu e<strong>in</strong>er schlechteren Reizweiterleitung im<br />

Nervensystem führt. E<strong>in</strong>e autosomal-dom<strong>in</strong>ante Vererbung ist möglich, wobei es dann<br />

schon früher zu e<strong>in</strong>em Ausbruch kommt. Von 1 200 000 Demenzerkrankten <strong>in</strong> Deutschland<br />

(weltweit s<strong>in</strong>d es 24 Millionen) haben ca. 2/3 Alzheimer und die Anzahl der<br />

jährlichen Neuerkrankungen (280 000) wird vermutlich immer weiter steigen. Das Risiko<br />

zu erkranken liegt bei e<strong>in</strong>em Alter von über 65 Jahren bei 6–9 %, bei Jüngeren bei unter<br />

0,1 %.<br />

Um e<strong>in</strong>e Diagnose stellen zu können, führt man bei potenziellen Alzheimerpatienten<br />

e<strong>in</strong>fache Gedächtnistests und e<strong>in</strong>e Elektroenzephalographie durch, welche die summierte<br />

elektrische Aktivität des Gehirns anzeigt. Außerdem untersucht man die Veränderungen<br />

des Großhirns mittels Computertomographie oder Magnetresonanztomographie. Durch<br />

Blutuntersuchungen kann man feststellen, ob es sich um vaskuläre Altersdemenz oder<br />

Alzheimer handelt, da sich bei der vaskulären Altersdemenz bestimmte Prote<strong>in</strong>e verändern,<br />

die bei Alzheimer aber gleich bleiben.<br />

Es gibt mehrere mögliche Therapien, von denen aber ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>e Heilung ermöglicht,<br />

sondern nur den Lauf der Erkrankung verlangsamt. Neben dem Verabreichen bestimmter<br />

Medikamente werden Alzheimerpatienten dazu angehalten, sich Notizen zu machen und<br />

viel Kontakt zu anderen Menschen zu haben (da das Gehirn so »fit« bleibt). Auch körperliche<br />

Betätigung und Teilnahme an Selbsthilfegruppen, besonders da Depressionen<br />

bei Alzheimerpatienten häufig vorkommen, werden empfohlen.<br />

3.17 Wie entsteht Alzheimer?<br />

Alzheimer ist e<strong>in</strong>e Demenzerkrankung, die zum Verlust von Nervenzellen führt. Die<br />

Betroffenen s<strong>in</strong>d meistens über 65 Jahre alt. In Deutschland leben 750 000 Erkrankte.<br />

Das Typische bei dieser Erkrankung ist, dass Nervenzellen durch Plaques und Neurofibrillen<br />

absterben. Die Plaques bestehen aus fehlerhaft gefalteten Prote<strong>in</strong>en. Das Amyloid-<br />

Precursor-Prote<strong>in</strong> (APP) wird durch Alpha-, Beta- und Gammasekretase zu Aß-40 und<br />

Aß-42. Diese beiden s<strong>in</strong>d neurotoxisch und bilden Plaques. Plaques führen zu e<strong>in</strong>er<br />

66


3.18 Glossar<br />

Störung der Synapsenfunktion, weil sie an diesen anlagern. Das bedeutet, dass die<br />

Reizweiterleitung gestört ist. Außerdem kommt es dabei zu e<strong>in</strong>er Entzündungsreaktion.<br />

Dazu kommt, dass Aß die Phosphorylierung von Tauprote<strong>in</strong>en beschleunigt. Tau<br />

b<strong>in</strong>det normalerweise an sogenannte Mikrotubuli und stabilisiert sie. Mikrotubuli s<strong>in</strong>d<br />

wichtig für die Stabilität der Zelle, <strong>in</strong>dem sie das Zytoskelett, also das Skelett der Zelle,<br />

bilden. Phosphoryliertes Tau verschlechtert se<strong>in</strong>e B<strong>in</strong>dungsaff<strong>in</strong>ität zu den Mikrotubuli,<br />

wodurch weniger Tau an die Mikrotubuli b<strong>in</strong>det und nicht nur die Mikrotubli, sondern<br />

auch das Zytoskelett und Transportprozesse <strong>in</strong> der Zelle gestört werden. Dies führt zu<br />

e<strong>in</strong>er schlechteren Weiterleitung von Informationen <strong>in</strong> den betroffenen Nervenzellen,<br />

weil die Axone geschädigt s<strong>in</strong>d.<br />

Durch das Sterben der Nervenzellen und die gestörte chemische Weiterleitung von<br />

Reiz<strong>in</strong>formationen kommt es zu e<strong>in</strong>er Schrumpfung des Gehirns um bis zu 20 % und<br />

damit zur Degeneration der Hirnr<strong>in</strong>de.<br />

Alzheimer ist e<strong>in</strong>e u. a. genetisch bed<strong>in</strong>gte Krankheit. Zu den betroffenen Genen gehört<br />

das APP. Bei e<strong>in</strong>er Mutation kommt es zu e<strong>in</strong>er Veränderung der Aß-Prozessierung.<br />

Daneben gibt es weitere Risikogene, zu welchen auch das Apolipoprote<strong>in</strong> E (ApoE)<br />

gehört. Es bewirkt e<strong>in</strong> erhöhtes Auftreten von Aß.<br />

Die Faktoren, die diese Krankheit auslösen, werden bis jetzt nur vermutet. Dazu<br />

gehören Tuberkulose, Fieber, Parodontose, Stress, Bluthochdruck, Alkohol und der<br />

Konsum von Tabak. Die Ursache für diese Krankheit ist bis zum heutigen Tag noch nicht<br />

geklärt, weshalb sich die Wissenschaftler bemühen, diese Krankheit weiter zu erforschen,<br />

um so e<strong>in</strong> Medikament zu f<strong>in</strong>den, welches den Zerfall der Neuronen verh<strong>in</strong>dert.<br />

3.18 Glossar<br />

– Acetylchol<strong>in</strong>: Neurotransmitter<br />

– Adenylatcyclase: e<strong>in</strong> Enzym, das die Umwandlung von Adenos<strong>in</strong>triphosphat <strong>in</strong><br />

cAMP katalysiert<br />

– Aktionspotential: kurze Veränderung des Membranpotentials, verursacht durch das<br />

schnelle Öffnen und Schließen von spannungsabhängigen Ionenkanälen<br />

– AMPA-Rezeptor: e<strong>in</strong> Subtyp des Glutamatrezeptors; e<strong>in</strong> glutamatabhängiger Ionenkanal,<br />

der für Na + und K + durchlässig ist<br />

– Amygdala: e<strong>in</strong> mandelförmiger Kern im Temporallappen, von dem man annimmt,<br />

dass er an der Empf<strong>in</strong>dung von Gefühlen, bestimmten Formen des Lernens und<br />

am Gedächtnis beteiligt ist<br />

– anterior: vorne<br />

– autosomal-dom<strong>in</strong>ante Vererbung: geschlechtsunabhängige Vererbung, bei der e<strong>in</strong><br />

Merkmal auftritt, wenn e<strong>in</strong> Elternteil das dafür zugehörige Gen besitzt<br />

– Axon: langer, faserartiger Fortsatz e<strong>in</strong>er Nervenzelle, der auf die Leitung von<br />

Nervenimpulsen spezialisiert ist<br />

67


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

68<br />

– Axonterm<strong>in</strong>ale: Ende des Axons, das den präsynaptischen Teil der Synapse bildet<br />

– Basalganglien: e<strong>in</strong>e Reihe von assoziierten Zellgruppen im basalen Großhirn<br />

– cAMP: cyclisches Adenos<strong>in</strong>monophosphat; e<strong>in</strong> Botenstoff, der für die Weiterleitung<br />

von Signalen <strong>in</strong> der Zelle verantwortlich ist<br />

– Cerebellum: Kle<strong>in</strong>hirn; mit dem Hirnstamm verbunden und wichtiges Zentrum für<br />

die Kontrolle von Bewegungen<br />

– Cortex: äußere Schicht des Großhirns, reich an Nervenzellen<br />

– Computertomographie: bildgebende Verfahren zur Darstellung von Weichteilstrukturen<br />

mit Hilfe von Röntgenstrahlung<br />

– Demenz: Erkrankung im Gehirn, bei der e<strong>in</strong>e Gehirnatrophie auftritt, wodurch je<br />

nach H<strong>in</strong>region verschiedene Fähigkeiten bzw. Eigenschaften verändert werden<br />

– Dendrit: Nervenfortsatz, der auf die Aufnahme von synaptisch übertragenen Informationen<br />

durch andere Neuronen spezialisiert ist<br />

– Depolarisation: Änderung des Membranpotentials <strong>in</strong> Richtung positiverer Werte<br />

– Epilepsie: e<strong>in</strong>e chronische Störung im Gehirn, die durch wiederholt auftretende<br />

Krämpfe gekennzeichnet ist<br />

– Enzephalitis: e<strong>in</strong>e durch Viren oder Bakterien bed<strong>in</strong>gte Entzündung des Gehirns<br />

– Fibrillen: fe<strong>in</strong>e Muskel- und Nervenfäserchen<br />

– Hippocampus: e<strong>in</strong>e Region der Hirnr<strong>in</strong>de, die <strong>in</strong> Nachbarschaft zur Riechr<strong>in</strong>de liegt<br />

und vermutlich e<strong>in</strong>e große Rolle beim Lernen und der Gedächtnisbildung spielt<br />

– G-Prote<strong>in</strong>: e<strong>in</strong> membrangebundenes Prote<strong>in</strong>, das durch e<strong>in</strong>en Rezeptor aktiviert<br />

wird und andere Prote<strong>in</strong>e stimulieren oder <strong>in</strong>hibieren kann<br />

– Ionenkanal: e<strong>in</strong> membrandurchspannendes Prote<strong>in</strong>, das e<strong>in</strong>e Pore bildet, die e<strong>in</strong>en<br />

Durchtritt von Ionen durch die Membran erlaubt<br />

– Läsion: Schädigung oder Verletzung<br />

– Langzeitdepression: e<strong>in</strong> Prozess, <strong>in</strong> dem die synaptische Transmission aufgrund kurz<br />

vorangehender Aktivität weniger wirksam wird<br />

– Langzeitpotenzierung: e<strong>in</strong> Prozess, <strong>in</strong> dem die synaptische Transmission aufgrund<br />

kurz vorangehender Aktivität wirksamer wird<br />

– Magnetresonanztomographie: bildgebendes Verfahren zur Darstellung von Weichteilstrukturen<br />

mit Hilfe hochfrequenter Magnetfelder<br />

– Morbus Alzheimer: Demenzerkrankung, bei der e<strong>in</strong>e Gehirnatrophie auftritt und<br />

die kognitiven Fertigkeiten e<strong>in</strong>geschränkt s<strong>in</strong>d


3.18 Glossar<br />

– Morbus Park<strong>in</strong>son: e<strong>in</strong>e Bewegungsstörung, die durch Schädigung der Substantia nigra<br />

verursacht wird und die durch Bewegungsarmut, Probleme bei der Ausführung<br />

von willkürlichen Bewegungen und Ruhetremor gekennzeichnet ist<br />

– Neuron: die <strong>in</strong>formationsverarbeitende Zelle des Nervensystems<br />

– Neurotransmitter: chemische Substanz, die durch e<strong>in</strong> präsynaptisches Element nach<br />

Stimulierung freigesetzt wird und postsynaptisch Rezeptoren aktiviert<br />

– NMDA-Rezeptor: e<strong>in</strong> Subtyp des Glutamatrezeptors; e<strong>in</strong> glutamatabhängiger Ionenkanal,<br />

der für Na + , K + und Ca 2+ durchlässig ist und spannungsabhängig durch<br />

Magnesium geblockt wird<br />

– Nucleus <strong>in</strong>terpositus: e<strong>in</strong>er der Tiefenkerne des Cerebellums<br />

– Plaques: Ablagerungen<br />

– post: nach<br />

– posterior: h<strong>in</strong>ten<br />

– prä: vor<br />

– Prim<strong>in</strong>g: Phänomen, bei dem e<strong>in</strong>e vorherige Darbietung e<strong>in</strong>es Reizes die Fähigkeit<br />

e<strong>in</strong>es Organismus fördern kann, diesen Reiz später zu erkennen<br />

– prozedurales Gedächtnis: das Gedächtnis für Fertigkeiten, im Unterschied zu anderen<br />

Gedächtnis<strong>in</strong>halten wie Ereignissen oder Sachwissen<br />

– Purk<strong>in</strong>je-Zelle: e<strong>in</strong>e Zelle <strong>in</strong> der Kle<strong>in</strong>hirnr<strong>in</strong>de, deren Axon <strong>in</strong> die tiefen Kle<strong>in</strong>hirnkerne<br />

projiziert<br />

– Rezeptor: e<strong>in</strong> Prote<strong>in</strong>, das chemische Signalsubstanzen wie Neurotransmitter wahrnimmt<br />

und e<strong>in</strong>e zelluläre Reaktion e<strong>in</strong>leitet<br />

– Substantia nigra: e<strong>in</strong>e Zellgruppe im Mittelhirn, deren Neurotransmitter Dopam<strong>in</strong><br />

ist<br />

– Synapse: der Kontaktbereich, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> Neuron Information auf e<strong>in</strong> anderes<br />

Neuron überträgt<br />

– synaptischer Spalt: der Bereich, der bei Neuronen die präsynaptische von der postsynaptischen<br />

Membran trennt<br />

– Temporallappen: der Bereich des Großhirns, der sich unter dem Schläfenbe<strong>in</strong> bef<strong>in</strong>det<br />

69


3 Auf der Suche nach dem Gedächtnis<br />

3.19 Literaturverzeichnis<br />

[1] Ashe, Karen; Zahs, Kathlee: Prob<strong>in</strong>g the biology of Alzheimer’s disease <strong>in</strong> mice. In:<br />

Neuron Vol. 65 2010, 631-345.<br />

[2] Bear, Mark; Connors, Barry; Paradiso, Michael: Neurowissenschaften - E<strong>in</strong> grundlegendes<br />

Lehrbuch für Biologie, Mediz<strong>in</strong> und Psychologie. Heidelberg 2008.<br />

[3] Ballard, Clive et al.: Alzheimer’s disease. In: The Lancet Vol. 377 <strong>2011</strong>, 1019-1031.<br />

[4] Berlit, Peter: Kl<strong>in</strong>ische Neurologie. Heidelberg 2005.<br />

[5] Bertram, Lars; Lill, Christiane; Tanzi, Rudolph: The genetics of Alzheimer’s disease:<br />

Back to the future. In: Neuron Nr. 68 2010, 270-281.<br />

[6] Essig, Marco; Reith, Wolfgang: Morbus Alzheimer – Die Geschichte e<strong>in</strong>er Erkrankung<br />

und die Rolle der modernen diagnostischen Radiologie. In: Radiologe Nr. 43 2003, 511-512.<br />

[7] Gazzaniga, Michael; Ivry, Richard; Mangun, Georg: Cognitive Neuroscience: The<br />

Biology of M<strong>in</strong>d. Norton 2008.<br />

[8] Gluck, Mark; Mercado, Eduardo; Myers, Cather<strong>in</strong>e: Lernen und Gedächtnis: Vom<br />

Gehirn zum Verhalten. Heidelberg 2010.<br />

[9] Ittner, Lars; Götz, Jürgen: Amyloid-beta and tau – a toxic pas de deux <strong>in</strong> Alzheimer’s<br />

disease. In: Nature Reviews Neuroscience Vol. 12 <strong>2011</strong>, 65-72.<br />

[10] Kandel, Eric; Schwartz, James; Jesse, Thomas: Pr<strong>in</strong>ciples of Neural Science. McGraw-<br />

Hill Professional 2000.<br />

[11] Maguire, Eleanor et al.: Navigation-related structural change <strong>in</strong> the hippocampi of taxi<br />

drivers. In: PNAS Vol. 97 2000, 4398-4403.<br />

[12] Masuhr, Karl; Neumann, Marianne: Duale Reihe – Neurologie. Stuttgart 2007.<br />

[13] Sweatt, David: Mechanism of Memory. Academic Press 2008.<br />

[14] Teng, Edmond; Squire, Larry: Memory for places learned long ago is <strong>in</strong>tact after<br />

hippocampal damage. In: Nature Vol. 400 1999, 675-677.<br />

[15] Thompson, Richard: Das Gehirn. Heidelberg 2010.<br />

[16] Woollett, Kather<strong>in</strong>e; Maguire, Eleanore: Navigational expertise may compromise anterograde<br />

associative memory. In: Neuropsychologia Vol. 47 2009, 1088-1095.<br />

70


Abbildung 3.4: Erarbeitung des Glossars im Kurs.


4 Onkologie<br />

4.1 E<strong>in</strong>leitung<br />

Johanna Kuhnt und Wiebke Nadler<br />

Im Kurs »Onkologie« erarbeiteten wir geme<strong>in</strong>sam die molekularen und mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Grundlagen der Tumorbiologie. Nach e<strong>in</strong>er kurzen Übersicht über Verbreitung und<br />

Risikofaktoren von Krebs bekam der Kurs Besuch von Solveig und Christian – zwei<br />

Ärzten, die uns so E<strong>in</strong>iges zu berichten hatten: vom Umgang mit Patienten, vom Alltag<br />

auf der Palliativstation und von sehr konkreten Fallbeispielen. Wie wichtig, aber auch<br />

wie schwierig die erste Konfrontation mit der Diagnose »Krebs« se<strong>in</strong> kann, wurde bei<br />

der Simulation e<strong>in</strong>es Patientengesprächs schnell deutlich.<br />

Von der Patientenperspektive wechselten wir nun zurück zu den molekularbiologischen<br />

Aspekten. Was macht Tumorzellen so besonders? Wieso s<strong>in</strong>d sie nur so schwer<br />

anzugreifen? Und welche Theorien erklären die Existenz von Krebs? E<strong>in</strong>e auch von der<br />

neusten Forschung noch nicht abschließend beantwortete Reihe von Fragen, mit denen<br />

wir uns beschäftigten, bevor wie e<strong>in</strong>en Blick auf die Vielfalt möglicher Krebserkrankungen<br />

wagten.<br />

Für manche Tumorarten gibt es spezielle Vorsorgemöglichkeiten, etwa für Brustkrebs,<br />

Prostatakarz<strong>in</strong>ome oder Darmkrebs. Zur Diagnosestellung benötigt man spezielle<br />

bildgebende Verfahren, wie Röntgen, Magnetresonanztomographie oder Positronenemissionstomographie,<br />

die es ermöglichen, Lokalisierung und Ausdehnung e<strong>in</strong>es Tumors zu<br />

bestimmen. Wie aber therapiert man kranke Zellen s<strong>in</strong>nvoll, ohne die gesunden Zellen<br />

zu stark zu bee<strong>in</strong>trächtigen? Die Standardverfahren Chemotherapie, Strahlenbehandlung<br />

und chirurgische E<strong>in</strong>griffe bilden zweifellos die drei Säulen der Krebstherapie. Aber<br />

besonders immuntherapeutische Ansätze und zielgerichtete Therapien bee<strong>in</strong>flussen<br />

mittlerweile die Forschung und zeigen großes Potenzial. Neben den klassischen schulmediz<strong>in</strong>ischen<br />

Ansätzen vertrauen sich viele Patienten alternativen Heilverfahren an.<br />

Die Diskussion über die Problematik zwischen Selbstbestimmung des Patienten und der<br />

Fürsorgepflicht des Arztes bildete den Abschluss des Kurses. Für die motivierte Mitarbeit<br />

und die spannenden Diskussionen möchten wir uns herzlich bei den Teilnehmern<br />

bedanken.<br />

4.2 Epidemiologie<br />

Obwohl oder vielmehr gerade weil die Mediz<strong>in</strong> <strong>in</strong> den letzten Jahren große Fortschritte<br />

verzeichnen konnte, nehmen die Inzidenzen (Krebsneuerkrankungen) stetig zu. Diese<br />

auf den ersten Blick paradoxe Ersche<strong>in</strong>ung ist auf die Entwicklung und den Gebrauch<br />

e<strong>in</strong>er Vielzahl von diagnostischen Verfahren zurückzuführen sowie auf den Anstieg der<br />

durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen <strong>in</strong> den Industrienationen.<br />

73


4 Onkologie<br />

Das Bundeskrebsregisterdatengesetz verpflichtete die Bundesländer 1995–1999 dazu,<br />

das Krebsgeschehen flächendeckend zu erfassen und an das »Zentrum für Krebsregisterdaten«<br />

des Robert-Koch-Instituts weiterzuleiten. Diese zentrale Krebsregisterstelle<br />

untersucht anhand der e<strong>in</strong>gehenden Daten <strong>in</strong> epidemiologischen Studien die Häufigkeit,<br />

die Verteilung, den Verlauf und die Ursachen von Krebs <strong>in</strong> Deutschland, um ihre Ergebnisse<br />

zu publizieren und <strong>in</strong>ternationale Vergleiche zu ermöglichen. Hierbei betrachten<br />

alle Krebsregisterstellen die Inzidenz, die Mortalität (Krebssterblichkeit), sowie die 5-<br />

Jahres-Prävalenz, also die Zahl der im Zeitraum von 5 Jahren an Krebs Erkrankten, der<br />

e<strong>in</strong>zelnen Tumorarten und der Krankheit Krebs im Allgeme<strong>in</strong>en. Die Epidemiologie bedient<br />

sich der Altersstandardisierung als Methode, um vergleichbare Aussagen machen<br />

zu können. Altersstandardisierung bedeutet, dass die Zahlenangaben zu Inzidenz und<br />

Mortalität auf e<strong>in</strong>e festgehaltene Altersstruktur der Bevölkerung bezogen werden, um<br />

die Effekte der steigenden Lebenserwartung auf die Krebshäufigkeit herauszurechnen.<br />

Im Jahr 2010 erkrankten den Studien zufolge 450 000 Menschen an Krebs. Das s<strong>in</strong>d<br />

etwa 30 % mehr als im Jahr 1980. Schätzungen zufolge starben im Jahr 2010 ca. 210 000<br />

Menschen an Krebs – ungefähr 20 % weniger als im Jahr 1980. Das Durchschnittsalter<br />

der Erkrankung liegt bei Männern momentan bei 68 Jahren und bei Frauen bei 69 Jahren.<br />

Somit handelt es sich bei Krebs um e<strong>in</strong>e Krankheit, die vermehrt im Alter auftritt. Auf<br />

e<strong>in</strong>en unter 15-jährigen Erkrankten kommen den epidemiologischen Analysen zufolge<br />

200–300 Tumorpatienten, die das 80. Lebensjahr vollendet haben. Bei Männern führt<br />

Krebs im Durchschnitt im Alter von 72 Jahren und bei Frauen im Alter von 76 Jahren<br />

zum Tode.<br />

Indem die Krebsregister ihre Daten auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene mite<strong>in</strong>ander vergleichen,<br />

werden Regionen auffällig, <strong>in</strong> denen gewisse Krebsarten ungewöhnlich häufig auftreten,<br />

sogenannte Cluster. Beispielsweise ist die Häufigkeit des schwarzen Hautkrebs regional<br />

sehr unterschiedlich. Bei der hellhäutigen Bevölkerung Australiens ist das Lebenszeitrisiko<br />

im Vergleich zu Europäern etwa vierfach erhöht. Forscher erklären dies über den<br />

E<strong>in</strong>fluss der Sonnene<strong>in</strong>strahlung. Da das zentrale Krebsregister <strong>in</strong> Deutschland erst seit<br />

e<strong>in</strong>em Jahrzehnt existiert und mit teilweise fehlerhaft erfassten Daten aus den letzten<br />

Jahren arbeiten muss, sollten die veröffentlichten Ergebnisse stets genau betrachtet und<br />

e<strong>in</strong>e Ungenauigkeit der Werte <strong>in</strong> Betracht gezogen werden.<br />

H<strong>in</strong>sichtlich der immer besser vernetzten Datenerfassung hat die Bedeutung der epidemiologischen<br />

Auswertungen für die Qualitätskontrolle der Krebstherapie <strong>in</strong> Deutschland<br />

zugenommen. Auch zukünftig sollen die Krebsregister weiter vere<strong>in</strong>heitlicht und ausgebaut<br />

werden, um »langfristig die Qualität der onkologischen Versorgung besser zu<br />

dokumentieren« (KID).<br />

4.3 Risikofaktoren<br />

Die verschiedenen bekannten Krebsformen können durch viele verschiedene Faktoren<br />

verursacht werden. Bei der Diagnosestellung s<strong>in</strong>d die Ursachen der jeweiligen<br />

Erkrankung oft unklar. Zur Erforschung der häufigsten Krebsauslöser wurden bereits<br />

74


4.3 Risikofaktoren<br />

viele wissenschaftliche Studien durchgeführt. Die Umsetzung der daraus resultierenden<br />

Ergebnisse konnte schon zahlreiche Krebsfälle verh<strong>in</strong>dern.<br />

Rauchen bildet den ersten wichtigen Risikofaktor. Besonders bei Langzeitrauchern mit<br />

e<strong>in</strong>em hohen täglichen Zigarettenkonsum steigt die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>er (Lungen-)<br />

Krebserkrankung. So erkranken ungefähr 10 % der Raucher circa 30–40 Jahre nach<br />

Beg<strong>in</strong>n des Rauchens an Lungenkrebs. Durch den Konsum e<strong>in</strong>er Schachtel Zigaretten<br />

am Tag kann sich das Risiko e<strong>in</strong>er Erkrankung 10–20-fach erhöhen.<br />

Die Ernährung stellt neben dem Rauchen e<strong>in</strong> Hauptgefährdungsgebiet dar. In 30–<br />

35 % der Krebserkrankungen ist e<strong>in</strong>e falsche Ernährung an der Entstehung des Tumors<br />

beteiligt. Beispielsweise können beim Grillen oder Räuchern fetthaltiger Fleischwaren<br />

krebsauslösende Stoffe (Kanzerogene) entstehen. Solche karz<strong>in</strong>ogenen Stoffe s<strong>in</strong>d etwa<br />

polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), die e<strong>in</strong>e Tumorbildung begünstigen.<br />

Übergewicht kann ebenfalls das Erkrankungsrisiko vieler Krebsarten fördern. Ab<br />

e<strong>in</strong>em Body Mass Index von 40 erhöht sich die Erkrankungswahrsche<strong>in</strong>lichkeit im<br />

Vergleich zu Normalgewichtigen bei Männern um über 50 %, bei Frauen um über 60 %.<br />

Die vermehrte Hormonproduktion oder Hormonveränderung des Fettgewebes kann das<br />

Krebswachstum fördern.<br />

Alkohol bed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e weitere Krebsgefahr, speziell für Erkrankungen des Verdauungstraktes<br />

sowie der Leber. Der Anteil der durch Alkoholkonsum verursachten malignen<br />

Tumoren an allen Krebserkrankungen beträgt circa 3 %. Schon durch ger<strong>in</strong>ge Mengen<br />

und besonders <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit Rauchen kann Alkoholkonsum das Risiko stark<br />

erhöhen.<br />

Virale und bakterielle Infektionen können ebenfalls an der Entstehung e<strong>in</strong>es Tumors<br />

beteiligt se<strong>in</strong>. Die Anfälligkeit des Körpers für Tumoren kann durch e<strong>in</strong>e Schwächung<br />

des Immunsystems oder DNA-Schäden zunehmen. Durch Infektionen bed<strong>in</strong>gte maligne<br />

Tumoren s<strong>in</strong>d oft <strong>in</strong> Mundhöhle, Kehlkopf, Rachen, Speiseröhre, etc. vorzuf<strong>in</strong>den.<br />

Krebsfördernde Gene treten oft bei Personen mit e<strong>in</strong>er hohen familiären Krebserkrankungsrate<br />

auf. Durch diese Gene werden besonders Darm- und Brustkrebserkrankungen<br />

begünstigt. Für 5–10 % der Darmkrebserkrankungen und 5–20 % der Brustkrebserkrankungen<br />

können die Erbanlagen die Ursache se<strong>in</strong>.<br />

E<strong>in</strong>e erhöhte Strahlenbelastung löst bis zu 2 % aller Krebserkrankungen aus. Maligne<br />

Tumoren bilden sich vorzugsweise <strong>in</strong> Knochenmark, Brust, Schilddrüse und Weichteilgewebe.<br />

10 % der Krebserkrankungen s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong>e starke natürliche oder künstliche<br />

(Solarien) Sonnene<strong>in</strong>strahlung bed<strong>in</strong>gt. Diese Art maligner Tumoren befallen oft die<br />

Haut und bilden Melanome.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Risiko e<strong>in</strong>er Erkrankung durch<br />

e<strong>in</strong>e gesunde Lebensweise und das Umgehen vermeidbarer Risikofaktoren deutlich<br />

reduzieren lässt.<br />

75


4 Onkologie<br />

Abbildung 4.1: Melanie erklärt anhand e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Gruppenarbeit gestalteten Grafik den Zellzyklus.<br />

4.4 Molekulare Grundlagen<br />

4.4.1 Tumordef<strong>in</strong>ition und Mutationstheorie<br />

Was ist eigentlich e<strong>in</strong> Tumor? – Als Tumor bezeichnet man e<strong>in</strong>e Ansammlung von Zellen,<br />

die bestimmte Eigenschaften erlangt haben, wodurch sie sich von gesunden Körperzellen<br />

unterscheiden. Nach dem neuesten Stand der Forschung ergeben sich wenigstens acht<br />

wichtige Eigenschaften: das Vermeiden der Erkennung durch das Immunsystem, das<br />

fehlende Ansprechen auf negative Wachstumssignale, die Apoptoseresistenz, e<strong>in</strong> gesteigertes<br />

proliferatives Signal<strong>in</strong>g, die potenzielle Unsterblichkeit, genomische Instabilität,<br />

e<strong>in</strong> verstärkter (und veränderter) Metabolismus, sowie die vermehrte Angiogenese.<br />

Im E<strong>in</strong>zelnen bedeutet dies, dass Tumorzellen das Immunsystem umgehen können,<br />

<strong>in</strong>dem sie für die Immunantwort wichtige Signale nicht oder nicht mehr aussenden.<br />

Manche Tumorzellen können daher von Zellen der Immunabwehr nicht von gesundem<br />

Gewebe unterschieden werden. Zusätzlich können sie mit der Mobilisation regulatorischer<br />

T-Zellen (»T-regs«) der Immunreaktion entgegenwirken. Im Allgeme<strong>in</strong>en<br />

reagieren Tumorzellen nicht auf wachstumse<strong>in</strong>schränkende Signale umliegender Zellen<br />

und vermehren sich unkontrolliert. Sogenannte Tumorsuppressor-Prote<strong>in</strong>e dienen<br />

als Kontrollmechanismen im Zellzyklus (siehe Abbildung 4.1) und bei der Prote<strong>in</strong>synthese.<br />

E<strong>in</strong>ige Mutationen bewirken e<strong>in</strong>e defekte oder ausbleibende Synthese dieser<br />

Tumorsuppressor-Prote<strong>in</strong>e, wodurch es zu unkontrolliertem Zellwachstum kommen<br />

kann. E<strong>in</strong>es der bekanntesten Tumorsuppressor-Prote<strong>in</strong>e ist p53, das e<strong>in</strong>e steuernde<br />

Funktion beim programmierten Zelltod (Apoptose) (siehe Abbildung 4.2) e<strong>in</strong>nimmt. p53<br />

ist <strong>in</strong> vielen Tumoren defekt oder <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Konzentration stark herabreguliert, sodass<br />

76


4.4 Molekulare Grundlagen<br />

Abbildung 4.2: Alex veranschaulicht die Apoptose anhand e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Gruppenarbeit gestalteten<br />

Grafik.<br />

Tumorzellen gegenüber den Apoptose auslösenden Faktoren (z. B. DNA-Schäden) resistenter<br />

s<strong>in</strong>d als gesunde Zellen. Jede Zelle exprimiert Rezeptoren, die durch die B<strong>in</strong>dung<br />

der von umliegenden Zellen sezernierten Signalmoleküle Wachstumsprozesse e<strong>in</strong>leiten.<br />

Durch die Überproduktion oder Mutation dieser Rezeptoren erhalten viele Tumorzellen<br />

permanent das Signal zur Proliferation und werden so zum unkontrollierten Wachstum<br />

angeregt. E<strong>in</strong>e weitere wichtige Eigenschaft von Tumorzellen ist die potenzielle<br />

Unsterblichkeit. Jedes Chromosom besitzt an se<strong>in</strong>en Enden sogenannte Telomere. Dies<br />

s<strong>in</strong>d sich wiederholende DNA-Abschnitte, die nicht für Prote<strong>in</strong>e kodieren und sich bei<br />

jeder DNA-Verdoppelung verkürzen. Ist e<strong>in</strong>e gewisse M<strong>in</strong>destlänge unterschritten, wird<br />

die Apoptose (siehe Abbildung 4.2) e<strong>in</strong>geleitet oder die Zelle geht <strong>in</strong> die Ruhephase<br />

über. So bleibt die Anzahl an Zellteilungen, die e<strong>in</strong>e Zelle durchführen kann, begrenzt.<br />

Tumorzellen exprimieren häufig das Enzym Telomerase. Die Telomerase ist <strong>in</strong> der Lage,<br />

die verkürzten Telomere wieder zu verlängern und so die Krebszelle unsterblich zu<br />

machen. Zellen deren Genom bereits <strong>in</strong>stabil ist, s<strong>in</strong>d anfälliger für Mutationen. Da<br />

sowohl Kontrollmechanismen des Zellzyklus (siehe Abbildung 4.1) als auch die Möglichkeit<br />

der Apoptose bei Tumorzellen e<strong>in</strong>geschränkt s<strong>in</strong>d, wird das Genom durch die<br />

Ansammlung weiterer DNA-Schäden zunehmend <strong>in</strong>stabiler. Aus der unkontrollierten<br />

Zellvermehrung resultiert e<strong>in</strong> verstärkter Metabolismus, so dass Tumorgewebe e<strong>in</strong>en<br />

höheren Energieverbrauch als gesundes Gewebe aufweist. Die achte Eigenschaft, die<br />

Angiogenese, bezeichnet die Fähigkeit von Tumorzellen, Signale zur E<strong>in</strong>sprossung neuer<br />

Blutgefäße auszusenden, wodurch sich Tumoren <strong>in</strong> gewisser Weise selbst die Infrastruk-<br />

77


4 Onkologie<br />

Abbildung 4.3: Martim verdeutlicht Zellteilung und Mitose anhand e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Gruppenarbeit<br />

gestalteten Grafik.<br />

tur für e<strong>in</strong> übermäßiges Wachstum schaffen. Bösartige Tumoren besitzen die Fähigkeit<br />

zur Metastasenbildung. Das heißt, dass Tumorzellen <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, sich über die<br />

Blut- oder Lymphbahnen im Körper zu verteilen und Tochtergeschwülste <strong>in</strong> anderen<br />

Geweben auszubilden.<br />

Doch wie kommt es überhaupt zur Entartung von Zellen? – Vorweg soll erwähnt werden,<br />

dass es bislang ke<strong>in</strong>e exakte Erklärung für dieses Phänomen gibt. Die seit 25 Jahren<br />

gängigste Theorie ist die klassische Mutationstheorie. Sie besagt, dass durch Schäden <strong>in</strong><br />

der DNA, die das Ergebnis zufälliger Mutationen s<strong>in</strong>d, ganze Gene <strong>in</strong>aktiviert oder verändert<br />

werden. Die Prote<strong>in</strong>synthese auf Basis veränderter DNA führt zu Veränderungen<br />

der Konzentrationen verschiedener Prote<strong>in</strong>e. Besonders schädlich s<strong>in</strong>d die Mutationen<br />

<strong>in</strong> Tumorsuppressorgenen, deren Prote<strong>in</strong>e die Zellvermehrung regulieren, sowie Proto-<br />

Onkogenen, deren Prote<strong>in</strong>e die <strong>in</strong> Abbildung 4.3 veranschaulichte Zellteilung fördern.<br />

Durch jede neue zufällige Mutation kann e<strong>in</strong>e Tumorzelle e<strong>in</strong>e weitere der oben genannten<br />

acht Eigenschaften erlangen. Zur Entartung e<strong>in</strong>er Zelle s<strong>in</strong>d ca. 4–10 Mutationen<br />

nötig. Allerd<strong>in</strong>gs lässt sich mit dieser Theorie nur die Entstehung von ca. 1/3 aller<br />

Krebserkrankungen erklären. Andere Hypothesen, wie die Theorie der Aneuploidie und<br />

die Tumorstammzelltheorie versuchen bestimmte Teilaspekte der Tumoreigenschaften<br />

noch differenzierter zu erfassen. Die Theorie der Aneuploidie besagt, dass es durch<br />

Chromosomen-Aberrationen (Verlust oder Verdopplung ganzer Chromosomen) oder<br />

fehlende, zusätzliche und möglicherweise auch vertauschte DNA-Fragmente auf Chromosomen<br />

zu Konzentrationsveränderungen verschiedener Prote<strong>in</strong>e kommt. Demgegenüber<br />

geht die Tumorstammzelltheorie davon aus, dass nur e<strong>in</strong>e sehr begrenzte Teilpopulation<br />

der Zellen e<strong>in</strong>es Tumors <strong>in</strong> der Lage ist, e<strong>in</strong>en Tumor neu entstehen zu lassen, also das<br />

Potenzial hat, Metastasen zu bilden.<br />

78


4.5 Tumorentitäten<br />

4.5.1 Leukämien und Lymphome<br />

4.5 Tumorentitäten<br />

Die Leukämie ist e<strong>in</strong>e Krankheit des blutbildenden Systems, bei der der Reifeprozess<br />

der weißen Blutkörperchen unterbrochen ist. Die unreifen Leukozyten breiten sich im<br />

Knochenmark und im Blut aus und <strong>in</strong>filtrieren auch weitere Organe. E<strong>in</strong>e Leukämie<br />

verläuft <strong>in</strong> 3 Phasen. In der aleukämischen Phase f<strong>in</strong>det die Proliferation von entarteten<br />

Zellen nur im Knochenmark statt. Während der subleukämischen Phase s<strong>in</strong>d schon erste<br />

unreife Vorstufen im Blut nachweisbar, deren Anzahl <strong>in</strong> der leukämischen Phase deutlich<br />

ansteigt. Man unterteilt Leukämien nach dem Verlauf <strong>in</strong> akute und chronische Leukämien.<br />

Akute Leukämien s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong>en raschen Krankheitsverlauf gekennzeichnet, der<br />

mit schweren Symptomen e<strong>in</strong>hergeht. Dagegen verlaufen chronische Leukämien schleppend<br />

und s<strong>in</strong>d am Anfang oft asymptomatisch. Außerdem unterteilt man Leukämien<br />

noch nach der Art der betroffenen weißen Blutkörperchen <strong>in</strong> myeloische Leukämien<br />

(Granulozyten) und lymphatische Leukämien (Lymphozyten). Als Ursachen für die<br />

Entstehung e<strong>in</strong>er Leukämie gelten ionisierende Strahlen, Chemikalien, Viren, Zytostatika<br />

und genetische Faktoren, wie etwa Chromosomenmutationen. Symptome e<strong>in</strong>er<br />

Leukämie s<strong>in</strong>d z. B. e<strong>in</strong>e Anämie, Blutungen, Infektanfälligkeit und Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

der Organfunktionen. Anhand e<strong>in</strong>er Blut- und Knochenmarkuntersuchung werden<br />

Leukämien diagnostiziert und anschließend je nach Art und Stadium der Erkrankung<br />

behandelt. Dies erfolgt z. B. durch Chemotherapie oder Hochdosis-Chemotherapie mit<br />

anschließender Stammzelltransplantation.<br />

Lymphome s<strong>in</strong>d Krebserkrankungen des lymphatischen Systems. Man unterteilt sie<br />

<strong>in</strong> zwei Gruppen. Zum e<strong>in</strong>en gibt es das klar abgegrenzte Hodgk<strong>in</strong>-Lymphom, auch<br />

Morbus Hodgk<strong>in</strong> genannt, bei dem <strong>in</strong> den Lymphknoten Hodgk<strong>in</strong>- und Sternberg-<br />

Reed-Zellen nachweisbar s<strong>in</strong>d. Zum anderen unterscheidet man die große Gruppe der<br />

Non-Hodgk<strong>in</strong>-Lymphome (NHL), bei der diese Zellen nicht nachgewiesen werden können.<br />

Die Ursachen der Erkrankung s<strong>in</strong>d noch weitgehend unbekannt. Umwelte<strong>in</strong>flüsse<br />

und Viren (z. B. Epste<strong>in</strong>-Barr-Virus) werden aber mit der Entstehung von Lymphomen <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung gebracht. Symptomatisch s<strong>in</strong>d Lymphome durch Lymphknotenschwellungen<br />

und e<strong>in</strong>e sogenannte B-Symptomatik mit Fieber, Nachtschweiß und Gewichtsverlust<br />

gekennzeichnet. Bei Verdacht auf e<strong>in</strong> Lymphom wird e<strong>in</strong> Lymphknoten entnommen<br />

und untersucht. Ist die Diagnose abgesichert, erfolgen verschiedene Untersuchungen<br />

zur E<strong>in</strong>schätzung der Bösartigkeit der Tumorzellen. Therapiert wird die Krankheit<br />

durch Bestrahlung, Chemotherapie oder Hochdosis-Chemotherapie mit anschließender<br />

Stammzelltransplantation.<br />

4.5.2 Mammakarz<strong>in</strong>om<br />

Das Mammakarz<strong>in</strong>om ist die häufigste Krebsart bei Frauen. Weltweit erkrankt jede 14.<br />

Frau an Brustkrebs und alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Deutschland treten jährlich bis zu 40 000 Neuerkrankungen<br />

auf.<br />

79


4 Onkologie<br />

Bei Mammakarz<strong>in</strong>omen handelt es sich um maligne Tumoren, die die Brustdrüsen<br />

befallen. Der Tumor ist e<strong>in</strong>e Agglomeration von bösartig mutierten Zellen <strong>in</strong> den Brustdrüsen<br />

und weist e<strong>in</strong> unkontrolliertes Wachstum auf. Das Wachstum wird im Falle e<strong>in</strong>es<br />

Brustkrebses maßgebend von Hormonen, wie Östrogenen und Progesteronen, bee<strong>in</strong>flusst.<br />

Hierbei handelt es sich um zwei Hormone, die während des Menstruationszyklus<br />

<strong>in</strong> den Eierstöcken vermehrt produziert werden.<br />

Zu den Risikofaktoren zählen zudem auch e<strong>in</strong> erhöhtes Alter, Übergewicht, K<strong>in</strong>derlosigkeit,<br />

E<strong>in</strong>nahme von Hormonen (Pille, Tabletten während des Klimakteriums),<br />

mangelhafte Bewegung, Mastopathie (gutartige Strukturveränderung der Brustdrüsen),<br />

Rauchen und ionisierende Strahlung. 4–9 % aller Brustkrebse s<strong>in</strong>d erblich. BCR1 und BCR2<br />

(Breast Cancer) s<strong>in</strong>d wichtige Beispiele für brustkrebsassoziierte Mutationen. Bei familiärer<br />

Disposition steigt das Risiko des Entstehens e<strong>in</strong>es bösartigen Brusttumors. Deshalb<br />

werden Risikopatient<strong>in</strong>nen zeitige und häufigere Vorsorgeuntersuchungen empfohlen.<br />

Häufig auftretende Symptome s<strong>in</strong>d Knoten bzw. Verhärtungen <strong>in</strong> der Brust, Austreten<br />

von Flüssigkeiten aus e<strong>in</strong>er Brustwarze, unterschiedliche Brustbewegungen beim Anheben<br />

der Arme, Form- bzw. Größenveränderung, brennender Schmerz e<strong>in</strong>er Brust und<br />

E<strong>in</strong>ziehen der Brustwarze. Auch geschwollene Lymphknoten im Achselbereich können<br />

auf e<strong>in</strong> mögliches Mammakarz<strong>in</strong>om h<strong>in</strong>deuten. Dies kann zum e<strong>in</strong>en Ausdruck der<br />

Immunantwort des Körpers se<strong>in</strong> und zum anderen Zeichen e<strong>in</strong>er bereits e<strong>in</strong>setzenden<br />

Metastasierung. Häufigste Metastasierungsorte s<strong>in</strong>d Lymphknoten, Knochen, Haut, Leber,<br />

Lunge und Gehirn. Trotz ihres langsamen Wachstums streuen Mammakarz<strong>in</strong>ome <strong>in</strong><br />

der Regel früh <strong>in</strong> andere Organe.<br />

Frauen ab dem 50. Lebensjahr werden Mammographien als Vorsorgeuntersuchung im<br />

Abstand von zwei Jahren empfohlen, um Diagnosen frühzeitig stellen zu können. Zeitig<br />

entdeckte Tumoren haben bessere Therapiemöglichkeiten und e<strong>in</strong>e bessere Prognose. Die<br />

wichtigsten Therapieoptionen s<strong>in</strong>d der chirurgische E<strong>in</strong>griff, Chemotherapie und Strahlentherapie.<br />

Zusätzlich können <strong>in</strong> ausgewählten Fällen Hormon- und Antikörpertherapie<br />

e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

Allgeme<strong>in</strong> gilt das Mammakarz<strong>in</strong>om als Krebs mit guten Heilungschancen. Die 5-<br />

Jahres-Überlebensrate nach erfolgter Therapie beträgt 83–87 %. Ab diesem Zeitpunkt<br />

verr<strong>in</strong>gert sich das Risiko e<strong>in</strong>es Rezidivs kont<strong>in</strong>uierlich.<br />

4.5.3 Melanome und Glioblastome<br />

Das Melanom ist der häufigste Hautkrebs. Es entsteht durch Mutationen der pigmentbildenden<br />

Zellen, den Melanozyten. Diese Tumorerkrankung hat <strong>in</strong> den letzten 20 Jahren<br />

stark zugenommen. Die Inzidenzen (Neuerkrankungen) s<strong>in</strong>d regional sehr verschieden,<br />

was auf ethnische und geografische Faktoren zurückgeführt werden kann. Die<br />

Spitzenreiter s<strong>in</strong>d Australien und Neuseeland mit 50 Melanompatienten auf 100 000<br />

E<strong>in</strong>wohner. Dagegen erkranken <strong>in</strong> Deutschland nur ca. 15 Menschen von 100 000 E<strong>in</strong>wohnern.<br />

Weltweit ist e<strong>in</strong>e größere Anfälligkeit von hellhäutigen ethnischen Gruppen<br />

erkennbar. Insgesamt erkranken Frauen im Durchschnitt früher und doppelt so häufig<br />

wie Männer.<br />

80


4.5 Tumorentitäten<br />

Ursachen für die Erkrankung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e hohe Dosis UV-Strahlung, Sonnenbrände,<br />

e<strong>in</strong>e große Anzahl von Pigmentflecken und die familiäre Prädisposition (genetische<br />

Vorbelastung). H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong> Melanom s<strong>in</strong>d Farb- und Formveränderungen von Leberflecken<br />

und Blutungen dieser. Anhand der A(Asymmetrie) B(Begrenzung) C(Colour)<br />

D(Durchmesser) E(Erhabenheit)-Regel lässt sich abschätzen, ob e<strong>in</strong> Leberfleck krebsverdächtig<br />

ist. E<strong>in</strong>e Biopsie und histologische Untersuchungen erlauben e<strong>in</strong>e genauere<br />

Diagnose. Positive Befunde haben weitere Untersuchungen (Röntgen-Thorax, MRT,<br />

Abdomen-Sonographie) zur Detektion und Lokalisierung möglicher Metastasen zur Folge.<br />

Da das Melanom früh zur Metastasierung neigt, muss es schnellstmöglich behandelt<br />

werden.<br />

Die vier häufigsten Arten des Melanoms s<strong>in</strong>d das Superfiziell-spreitende Melanom<br />

(SSM; 60 %), das Noduläre M. (NM; 20 %), das Lentigo-maligna-M. (LMN; 15 %) und das<br />

Akrolentig<strong>in</strong>öse M. (ALM; 5 %). Nach erfolgreicher Typisierung wird die direkte Therapie<br />

(chirurgischer E<strong>in</strong>griff, Radio-Therapie, Hyperthermie und Palliativtherapie) e<strong>in</strong>geleitet,<br />

die durch <strong>in</strong>direkte Therapieansätze (z. B. Stärkung des Immunsystems) unterstützt wird.<br />

Trotz e<strong>in</strong>er hohen Erkennungsrate im nicht<strong>in</strong>vasiven Stadium (85 %) werden nur 45 %<br />

der Patienten rechtzeitig behandelt. Die Nachsorge umfasst psychosoziale Hilfestellung<br />

sowie e<strong>in</strong>e ständige mediz<strong>in</strong>ische Überwachung, welche dem hohen Rückfallrisiko<br />

entgegenwirken soll.<br />

Das Glioblastom ist die häufigste Hirntumorerkrankung. Dennoch treten Tumoren des<br />

Zentralen Nervensystems mit ca. 6000 Neuerkrankungen jährlich <strong>in</strong> Deutschland relativ<br />

selten auf. Glioblastome f<strong>in</strong>den sich vorwiegend im Frontal- und im Temporallappen. An<br />

dem sich aggressiv ausbreitenden und nur schwer prognostizierbaren Tumor erkranken<br />

vor allem Erwachsene zwischen 50 und 60 Jahren.<br />

Ursachen für die Entstehung e<strong>in</strong>es Glioblastoms s<strong>in</strong>d unter anderem ionisierende Strahlen<br />

und e<strong>in</strong>e familiäre Prädisposition. Symptome des Tumors s<strong>in</strong>d akute Beschwerden<br />

wie Kopfschmerzen, Erbrechen oder epileptische Anfälle. Später können neurologische<br />

Ausfälle und e<strong>in</strong> Anstieg des Hirn<strong>in</strong>nendrucks auftreten. Bildgebende Verfahren wie MRT<br />

und CT ergeben e<strong>in</strong>e erste Diagnose. Die vom Glioblastom gebildeten Metastasen s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> der Regel auf das Nervensystem beschränkt.Die Komplexität des Gehirns erschwert<br />

die Entfernung des Tumors erheblich, sodass Therapieversuche bislang ke<strong>in</strong>e Heilung<br />

versprechen.<br />

4.5.4 Lungen- und Magenkarz<strong>in</strong>om<br />

Lungenkrebs (Lungenkarz<strong>in</strong>om) ist die dritthäufigste bösartige Tumorerkrankung, an der<br />

mehr Männer als Frauen erkranken. In der Todesursachenstatistik (von 2005) stellt diese<br />

bei Männern die häufigste und bei Frauen die dritthäufigste krebsbed<strong>in</strong>gte Todesursache<br />

dar.<br />

E<strong>in</strong> Lungenkarz<strong>in</strong>om ist e<strong>in</strong>e bösartige Geschwulst <strong>in</strong> der Lunge, die sich im Verlauf<br />

auch auf andere Organe ausbreiten kann. Die wichtigsten Risikofaktoren s<strong>in</strong>d Aktivsowie<br />

Passivrauchen. Auch der Kontakt mit Schadstoffen <strong>in</strong> der Luft und vorhandenes<br />

Narbengewebe können krebsauslösende Zellmutationen hervorrufen. Lungentumore<br />

werden oft erst im späten Stadium erkannt, da die Symptompe sehr unspezifisch s<strong>in</strong>d.<br />

81


4 Onkologie<br />

Symptomatiken, die auf e<strong>in</strong>en Lungentumor deuten können, s<strong>in</strong>d beispielsweise ungewollter<br />

Gewichtsverlust, Erkältungen, die über mehrere Wochen trotz Antibiotika nicht<br />

besser werden, Schmerzen <strong>in</strong> der Brust und Atemnot oder anhaltender Husten.<br />

Zur Diagnosestellung des Lungenkrebses werden Röntgen, Computertomographie,<br />

Bronchoskopie und histologische Gewebeuntersuchungen genutzt. Die wichtigsten<br />

Lungenkrebsformen s<strong>in</strong>d das nichtkle<strong>in</strong>zellige (80 %) und das kle<strong>in</strong>zellige (20 %) Lungenkarz<strong>in</strong>om.<br />

Das kle<strong>in</strong>zellige Lungenkarz<strong>in</strong>om hat e<strong>in</strong>e schlechtere Prognose, da es<br />

schnell wächst und bei Diagnosestellung <strong>in</strong> 80 % der Fälle bereits metastasiert hat. Zu den<br />

Therapiemöglichkeiten gehören Chemotherapie, Strahlentherapie sowie e<strong>in</strong>e operative<br />

Entfernung des Tumors. Je nach Tumorstadium werden entweder nur das Tumorgewebe<br />

plus Sicherheitsabstand oder Lungenlappen bzw. e<strong>in</strong> Lungenflügel entnommen. E<strong>in</strong>e<br />

vollständige Heilung ist nur <strong>in</strong> wenigen Fällen möglich. Die Fünf-Jahres-Überlebensrate<br />

liegt zwischen 5–10 %.<br />

Etwa 8 % aller bösartigen Krebserkrankungen kommen im Magen vor. Glücklicherweise<br />

s<strong>in</strong>kt die Anzahl der Neuerkrankungen <strong>in</strong> den letzten Jahren. Die Tumorzellen<br />

haben ihren Ursprung meistens <strong>in</strong> der Magenschleimhaut und breiten sich von dort<br />

aus aus. Die wichtigsten Risikofaktoren zur Entstehung e<strong>in</strong>es Magenkarz<strong>in</strong>oms s<strong>in</strong>d<br />

schlechte Ernährung und Magenschleimhautentzündung, vor allem durch das Bakterium<br />

Helicobacter pylori. Auch die Symptome dieser Krebsart s<strong>in</strong>d unspezifisch.<br />

Häufig berichtet werden Oberbauchbeschwerden, ungewollter Gewichtsverlust, Schluckbeschwerden,<br />

Appetitlosigkeit, e<strong>in</strong> »empf<strong>in</strong>dlicher« Magen, Abneigung gegen Fleisch<br />

und Völlegefühl nach dem Essen. Zur Diagnosestellung werden speziell die Gastroskopie<br />

(Magenspiegelung) und die Endosonographie angewandt. Zu den Therapiemöglichkeiten<br />

gehören Chemotherapie, Strahlentherapie, endoskopische sowie operative Entfernung<br />

des Tumors. Bei der Operation können entweder nur Teile oder der ganze Magen<br />

entfernt werden. Nach e<strong>in</strong>em solchen E<strong>in</strong>griff ist es möglich, weitgehend normal zu leben.<br />

Die Essgewohnheiten müssen jedoch angepasst werden. Die Fünf-Jahres-Überlebensrate<br />

beträgt je nach Stadium der Erkrankung zwischen 80 und 5 %.<br />

4.6 Therapie und Diagnostik<br />

4.6.1 Anamnese und Untersuchung<br />

Jeder kennt diese Situation: Man ist krank, weiß aber nicht genau, was e<strong>in</strong>em fehlt. Also<br />

geht man zum Arzt. Was erwartet man nun von ihm? E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Diagnose des<br />

Krankheitsbefundes und e<strong>in</strong>e Heilung, denn das ist ja se<strong>in</strong> Beruf. In der Kurse<strong>in</strong>heit<br />

»Anamnese und Untersuchung« setzten wir uns damit ause<strong>in</strong>ander, wie man als Arzt<br />

vorgeht, um diesen Erwartungen gerecht zu werden.<br />

Der Arzt erhebt e<strong>in</strong>e Anamnese, <strong>in</strong> der er den jetzigen Zustand des Patienten, die<br />

mediz<strong>in</strong>ische Vorgeschichte bzw. Familiengeschichte und das soziale Umfeld erfasst.<br />

E<strong>in</strong>e sorgfältige Datenerhebung hilft, e<strong>in</strong>e genaue Diagnose zu stellen und die richtige<br />

Therapie auszuwählen. Bei der Befragung des Patienten muss der Arzt auf bestimmte<br />

D<strong>in</strong>ge achten:<br />

82


4.6 Therapie und Diagnostik<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n des Arztbesuches ist es erwünscht, dass der Patient eigenständig und frei<br />

von se<strong>in</strong>en Symptomen erzählt. Daher leitet der Arzt das Gespräch häufig mit Worten<br />

wie »Was führt Sie heute zu uns?« e<strong>in</strong>. Die offen formulierte Frage erleichtert es dem<br />

Patienten, von sich zu erzählen. Wichtig ist auch das »Heute«, da der Arzt wissen will,<br />

ob der Patient akute Beschwerden und Symptome hat. Dennoch wird e<strong>in</strong> Patient bei<br />

der Konsultation im Durchschnitt bereits nach 18 Sekunden wieder unterbrochen. Von<br />

großer Bedeutung ist auch das aktive Zuhören.<br />

Mit den berühmten W-Fragen kann der Arzt anfangen, die auftretenden Symptome<br />

spezifischer festzuhalten: »Wann«, »Wo«, »Wie« und »Was«. Dabei liegt die Schwierigkeit<br />

dar<strong>in</strong>, die subjektive Beschreibung des Patienten richtig e<strong>in</strong>zuschätzen. Auffälligkeiten<br />

wie Gewichts- und Appetitverlust, Brechreiz, Alkoholkonsum und Rauchen s<strong>in</strong>d<br />

ebenfalls wichtige Aspekte zur Diagnosestellung. Es ist erforderlich zu wissen, welche<br />

Medikamente der Patient schon genommen hat und welche davon die Symptome l<strong>in</strong>dern<br />

konnten.<br />

Mit diesen gesammelten Informationen hat der Arzt häufig bereits e<strong>in</strong>e Vermutung, die<br />

er dann mit Hilfe verschiedener Tests und Untersuchungen zu bestätigen versucht. Dazu<br />

<strong>in</strong>spiziert der Arzt se<strong>in</strong>en Patienten erst e<strong>in</strong>mal gründlich, hört Herzschlag und Atmung<br />

ab und kann bestimmte Regionen abtasten und abklopfen. E<strong>in</strong>e Bestimmung bestimmter<br />

Laborparameter <strong>in</strong> der Blutabnahme br<strong>in</strong>gt zudem häufig wichtige Zusatz<strong>in</strong>formationen.<br />

Hat der Arzt e<strong>in</strong>e Diagnose gestellt, so kann er e<strong>in</strong>en Therapieplan erstellen.<br />

4.6.2 Bildgebende Verfahren I (CT und MRT)<br />

Es gibt verschiedene bildgebende Verfahren <strong>in</strong> der Mediz<strong>in</strong>, die uns e<strong>in</strong>en Blick <strong>in</strong> das<br />

Innere unseres Körpers werfen lassen, ohne diesen aufschneiden zu müssen.<br />

E<strong>in</strong>es dieser Verfahren ist das Röntgen. Hierbei wird Röntgenstrahlung auf den zu<br />

untersuchenden Bereich des Körpers geschickt. Sie kann Materie durchdr<strong>in</strong>gen und wird<br />

83


4 Onkologie<br />

von verschiedenem Gewebe unterschiedlich stark absorbiert. Mit e<strong>in</strong>er Röntgenkamera<br />

wird die verbleibende Strahlung aufgefangen und als Röntgenbild wiedergegeben. Auf<br />

diesem ist nun Gewebe mit e<strong>in</strong>er hohen Dichte hell und Gewebe mit e<strong>in</strong>er niedrigen<br />

Dichte dunkel abgebildet. E<strong>in</strong>e Röntgenuntersuchung ist im Vergleich zu anderen<br />

bildgebenden Verfahren kostengünstig und liefert e<strong>in</strong> schnelles Ergebnis. Besondere<br />

Bedeutung hat das Verfahren <strong>in</strong> der Darstellung des Skelettapparates und der weiblichen<br />

Brust.<br />

Um suspekte Strukturen genauer zu untersuchen, s<strong>in</strong>d häufig weitere Untersuchungen<br />

wie Computertomographie (CT) und Magnetresonanztomographie (MRT) <strong>in</strong>diziert:<br />

Die CT beruht auch auf Röntgenstrahlung. Hierbei drehen sich die Röntgenröhre, die<br />

die Strahlung emittiert, und der Detektor um den Patienten; es werden Aufnahmen<br />

aus verschiedenen Richtungen gemacht und e<strong>in</strong> Computer errechnet aus diesen e<strong>in</strong><br />

Schnittbild durch den Körper. Ebenso ist mit dem Computer e<strong>in</strong>e dreidimensionale<br />

Darstellung am Bildschirm möglich. Die CT wird aufgrund der kurzen Untersuchungszeit<br />

<strong>in</strong> Notfallsituationen und bei Patienten, die nicht lange still liegen können, genutzt.<br />

Außerdem bietet sie bei der Tumorerkennung durch e<strong>in</strong>e höhere Auflösung genauere<br />

Ergebnisse als das Röntgen. Es können Tumore sowie Metastasen dargestellt werden.<br />

Mithilfe von Kontrastmitteln, die oral sowie <strong>in</strong>travenös verabreicht werden können,<br />

lassen sich Gewebe noch detaillierter darstellen.<br />

E<strong>in</strong> Nachteil von Röntgen und CT ist die ionisierende Strahlung, die erbgutverändernd<br />

wirken kann und somit auch krebsauslösend ist. Dies ist beim folgenden bildgebenden<br />

Verfahren nicht der Fall:<br />

Die MRT arbeitet mit e<strong>in</strong>em starken Magnetfeld und nutzt den Effekt des Kernsp<strong>in</strong>s.<br />

Durch den Effekt des Kernsp<strong>in</strong>s, die Eigenrotation des Atomkerns, entsteht bei bestimmten<br />

Atomen e<strong>in</strong> Magnetfeld. Dieses richtet sich nach dem starken Magnetfeld des MRT<br />

aus und kann durch e<strong>in</strong>en elektromagnetischen Impuls ausgelenkt werden. Dabei gibt<br />

es e<strong>in</strong>e Magnetfeldänderung und messbarer Strom wird <strong>in</strong>duziert. Die MRT zeichnet<br />

sich durch e<strong>in</strong>en sehr hohen Weichteilkontrast aus und eignet sich dadurch besonders<br />

zur Darstellung von Organen. Dies ermöglicht die Diagnosestellung verschiedenster<br />

Tumorentitäten. Durch die Möglichkeit von Echtzeitaufnahmen kann beispielsweise e<strong>in</strong><br />

schlagendes Herz <strong>in</strong> Bewegung beobachtet werden. Die Untersuchungsdauer ist mit<br />

etwa 30 M<strong>in</strong>uten relativ lang und kann nicht von jedem Patienten toleriert werden. Die<br />

MRT ist das Schonendste der drei vorgestellten bildgebenden Verfahren, da sie ke<strong>in</strong>e<br />

Strahlenbelastung darstellt.<br />

4.6.3 Bildgebende Verfahren II (Positronen-Emissions-Tomographie)<br />

Bei der Positronen-Emissions-Tomographie, kurz PET, handelt es sich um e<strong>in</strong> bildgebendes<br />

Verfahren der Mediz<strong>in</strong>, das zur Diagnostik e<strong>in</strong>gesetzt wird. Es f<strong>in</strong>det größtenteils<br />

Verwendung <strong>in</strong> der Onkologie um Tumorgewebe zu lokalisieren. Es bestehen auch<br />

andere E<strong>in</strong>satzmöglichkeiten wie beispielsweise e<strong>in</strong>e Messung der Herzdurchblutung.<br />

Bei e<strong>in</strong>er PET wird der Stoffwechsel des untersuchten Organismus gemessen und<br />

visualisiert. Dies geschieht, <strong>in</strong>dem dem Patienten e<strong>in</strong> Radiopharmakon, auch Tracer<br />

84


4.6 Therapie und Diagnostik<br />

genannt, <strong>in</strong>jiziert wird. Dabei handelt es sich um e<strong>in</strong> Radionuklid, das e<strong>in</strong>zeln oder mit<br />

e<strong>in</strong>em Carrier-Molekül verabreicht werden kann. Verwendet wird meistens der Tracer<br />

FDG (Fluordesoxyglucose) mit dem Radionuklid Fluor-18. Da es sich bei FDG um e<strong>in</strong><br />

Zuckermolekül handelt, wird dieses vermehrt von Gewebe mit hohem Metabolismus<br />

aufgenommen. Dazu zählen Tumore, aber auch das Gehirn und Entzündungsherde.<br />

Um e<strong>in</strong>e optimale Wirkung zu erreichen, sollte vor der Behandlung e<strong>in</strong>ige Stunden<br />

ke<strong>in</strong> Zucker e<strong>in</strong>genommen werden. Das verwendete Fluorisotop hat die Eigenschaft,<br />

beim Zerfall e<strong>in</strong> Positron und e<strong>in</strong> Neutr<strong>in</strong>o zu emittieren; die entscheidende Rolle spielt<br />

hierbei Ersteres. Da es sich bei Positronen um das Antiteilchen der Elektronen handelt,<br />

reagieren emittierte Positronen mit Elektronen und setzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vernichtungsreaktion<br />

Gammastrahlung frei. Hier wird nach dem Pr<strong>in</strong>zip der Energie-Masse-Äquivalenz,<br />

E = mc 2 , die gesamte Masse der zwei Teilchen vernichtet und <strong>in</strong> Strahlung umgesetzt, die<br />

zwei entstehenden Photonen werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em W<strong>in</strong>kel von 180 ◦ emittiert. Die freigesetzte<br />

Strahlung wird von e<strong>in</strong>em Detektorr<strong>in</strong>g aufgefangen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong> elektrisches Signal<br />

umgesetzt; dazu wird e<strong>in</strong> Photomultiplier e<strong>in</strong>gesetzt. Gemessen werden nur Photonen<br />

mit e<strong>in</strong>er Energie von 511 keV. Das Ziel ist es, ko<strong>in</strong>zident – also gleichzeitig – e<strong>in</strong>treffende<br />

Photonen zumessen, sogenannte »trues«, da so der Weg dieser Photonen bis zum<br />

Ursprung ermittelt werden kann. Da dieser Prozess sehr oft abläuft, kann gemessen<br />

werden, <strong>in</strong> welchen Gebieten viele dieser trues auftreten. Daraus resultiert, dass dort e<strong>in</strong><br />

Gewebe mit hohem Stoffwechsel vorliegt, beispielsweise e<strong>in</strong> Tumor. Obwohl nicht alle<br />

Photonen gemessen werden können, da der Körper sie absorbieren oder streuen kann<br />

oder sie möglicherweise außerhalb des detektierten Bereichs austreten, zählt die PET zu<br />

den genausten Bildgebenden Verfahren.<br />

Noch bessere Ergebnisse werden erzielt, wenn PET-Geräte mit der Computertomographie<br />

oder der Magnetresonanztomographie komb<strong>in</strong>iert werden.<br />

Da bei der PET e<strong>in</strong> Radionuklid verwendet wird, ist der Patient e<strong>in</strong>er Strahlenbelastung<br />

ausgesetzt. Dieses Risiko überwiegt der Nutzen jedoch bei weitem. E<strong>in</strong>e andere<br />

Problematik besteht <strong>in</strong> den hohen Kosten e<strong>in</strong>er PET-Untersuchung und dem Aufwand bei<br />

der Herstellung des Radiopharmakons. Zugunsten der Patienten sollten diese Probleme<br />

jedoch ke<strong>in</strong>e Rolle spielen.<br />

4.6.4 Chemotherapie<br />

E<strong>in</strong>e der wichtigsten Therapien gegen Krebs ist die Chemotherapie. Durch sogenannte<br />

Zytostatika werden dabei bösartige Tumorzellen abgetötet oder deren unkontrolliertes<br />

Wachstum gehemmt.<br />

Tumorzellen haben e<strong>in</strong>e sehr hohe Teilungsrate, daher kommt es dort häufig zu<br />

Mitosen. Da Zytostatika eben diesen Teilungsprozess angreifen, wirken sie auf bösartiges<br />

Tumorgewebe stärker als auf gesundes Gewebe, wo es vergleichsweise selten zu Mitosen<br />

kommt. Es gibt jedoch auch verschiedene gesunde Gewebearten (z. B. Schleimhäute<br />

und Knochenmark), <strong>in</strong> denen die Teilungsrate sehr hoch ist. Diese Zellen werden dann<br />

ebenso stark angegriffen, wodurch es zu erheblichen Nebenwirkungen kommt.<br />

85


4 Onkologie<br />

Zu den Zytostatika gehören u. a. die sogenannten Antimetabolite, wie 5-Fluoruracil.<br />

Aufgrund der Strukturähnlichkeit dieses Wirkstoffes mit den Basen Uracil, Cytos<strong>in</strong><br />

und Thym<strong>in</strong> wird 5-Fluoruracil während der Replikation der DNA und auch während<br />

der Transkription fälschlicherweise anstelle der Basen e<strong>in</strong>gebaut. Die auf diese Weise<br />

entstehende fehlerhafte RNA hemmt das Wachstum der Zelle. E<strong>in</strong>e weitere Wirkung der<br />

Antimetabolite ist die Hemmung e<strong>in</strong>es Enzyms, das die Synthese von dTMP katalysiert.<br />

Das für die DNA-Reparatur und die DNA-Synthese wichtige dTMP kann dann nicht<br />

synthetisiert werden, so dass letztlich die Zellteilung <strong>in</strong>hibiert wird.<br />

E<strong>in</strong>e weitere Gruppe der Zytostatika s<strong>in</strong>d die Taxane. Zu ihnen gehört der Arzneistoff<br />

Paclitaxel, der ursprünglich <strong>in</strong> der R<strong>in</strong>de der Pazifischen Eibe gefunden wurde. Während<br />

der Metaphase der Mitose s<strong>in</strong>d die Sp<strong>in</strong>delfasern dafür zuständig, die beiden Schwesterchromosomen<br />

vone<strong>in</strong>ander zu trennen und zu den Sp<strong>in</strong>delpolen zu ziehen. Durch<br />

Paclitaxel wird dieser Mechanismus unterbunden. Die Mitose läuft nicht vollständig ab,<br />

was zum Tod der Tumorzelle führt.<br />

Zu den Zytostatika gehören außerdem die sogenannten Alkylanzien. Diese Wirkstoffe,<br />

wie zum Beispiel Nimust<strong>in</strong>, s<strong>in</strong>d Zellzyklusunabhängig, wirken also weniger spezifisch<br />

auf Tumorzellen. Sie schädigen die DNA der Zellen durch e<strong>in</strong>e Modifizierung der<br />

Basenpaare, die Alkylierung. Bei der Alkylierung werden zwei Basen durch e<strong>in</strong>e Kohlenwasserstoffkette<br />

verknüpft. Diese Basen können im selben (Intrastrang-Quervernetzung)<br />

oder <strong>in</strong> gegenüberliegenden DNA-E<strong>in</strong>zelsträngen liegen (Interstrang-Quervernetzung).<br />

Aufgrund dieser Modifikation kann die DNA nicht mehr repliziert werden. Der Zellstoffwechsel<br />

kommt zum Erliegen und die Apoptose wird e<strong>in</strong>geleitet. E<strong>in</strong>e ähnliche<br />

Wirkung besitzen Plat<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dungen, zum Beispiel Cis-Plat<strong>in</strong>. Auch hier kommt durch<br />

e<strong>in</strong>e irreversible B<strong>in</strong>dung des Moleküls an die DNA zu Quervernetzungen.<br />

Bei der Chemotherapie werden meist verschiedene Wirkstoffe komb<strong>in</strong>iert und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

geplanten zeitlichen Abfolge verabreicht. Die Behandlung folgt also e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>dividuellen<br />

Schema, <strong>in</strong> welchem Faktoren wie die Wirkdauer der Medikamente und die Regenerationszeit<br />

des Körpers berücksichtigt werden. Der Erfolg e<strong>in</strong>er Chemotherapie hängt<br />

auch davon ab, wie gut die Wirkstoffe die Krebszellen im Körper erreichen können. E<strong>in</strong>e<br />

wichtige Rolle spielt weiterh<strong>in</strong> die Abbaugeschw<strong>in</strong>digkeit des Medikaments und die<br />

mögliche Resistenz von Tumorzellen gegen das Zytostatikum.<br />

4.6.5 Strahlentherapie<br />

Die »Strahlentherapie« ist e<strong>in</strong> modernes Fachgebiet der Mediz<strong>in</strong>, welches sich mit dem<br />

E<strong>in</strong>satz von ionisierender und somit hochenergetischer Strahlung auf Menschen und<br />

Tiere beschäftigt. Hierbei ist das Ziel, verschiedene Krankheitstypen vollständig zu<br />

heilen (kurative Bestrahlung), deren weiteren Fortschritt zu verh<strong>in</strong>dern oder bei nicht<br />

zu erwartender Heilung die Krankheitssymptome durch e<strong>in</strong>e palliative Bestrahlung zu<br />

l<strong>in</strong>dern.<br />

Der grundsätzliche Wirkungsmechanismus der Strahlentherapie beruht auf der Energieübertragung<br />

der e<strong>in</strong>gesetzten Strahlung auf das bestrahlte Gewebe. Durch diese kommt<br />

es zu verschiedenen Folgereaktionen: Zum e<strong>in</strong>en kann die Zell-DNA durch direkte Treffer<br />

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4.6 Therapie und Diagnostik<br />

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Abbildung 4.4: Intensitätsvergleich zwischen Elektronen-/Röntgenbremsstrahlung und Protonen<br />

<strong>in</strong> Abhängigkeit von der Gewebetiefe. Quelle: Wikipedia [44].<br />

der Strahlung stark geschädigt werden, was auf das Brechen von E<strong>in</strong>zelsträngen oder<br />

dem gesamten Doppelstrang zurückzuführen ist. Zum anderen können freie Radikale<br />

durch die Ionisierung von Wassermolekülen entstehen. Da freie Radikale e<strong>in</strong> oder mehrere<br />

ungepaarte Elektronen besitzen, s<strong>in</strong>d diese Moleküle sehr reaktionsfreudig, sodass<br />

sie durch sofortige Reaktionen mit der Zell-DNA diese akut schädigen.Die verursachten<br />

Schäden übersteigen die ohneh<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ge Reparaturfähigkeit e<strong>in</strong>er Tumorzelle, sodass<br />

die Mitose und somit die weitere Vermehrung der Zellen verh<strong>in</strong>dert wird und bei<br />

übermäßigen Schäden an der DNA der Tumorzelle die Apoptose e<strong>in</strong>geleitet wird.<br />

Um nun noch die Intensität der verwendeten Strahlung quantitativ beschreiben zu<br />

können, wurde e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit e<strong>in</strong>geführt, welche die »durch ionisierende Strahlung verursachte<br />

( . . .) und ( . . .) [folglich] pro Masse absorbierte Energie« (Wikipedia [43]) angibt.<br />

Diese Energiemenge wird <strong>in</strong> J/kg angegeben.<br />

Betrachtet man nun die angewandten Therapieformen, so lassen sich drei Haupttherapien<br />

unterscheiden: Die Teletherapie, die Partikel-/Schwerionentherapie und die<br />

Brachytherapie.<br />

In der Teletherapie wird die benötigte Strahlung <strong>in</strong> L<strong>in</strong>earbeschleunigern erzeugt.<br />

Hierbei handelt es sich entweder um Elektronenstrahlung, Photonenstrahlung oder<br />

Röntgenbremsstrahlung. Charakteristisch für die Teletherapie ist das auftretende Spektrum<br />

der Strahlung wie es <strong>in</strong> Abbildung 4.4 zu erkennen ist. Das Dosismaximum der<br />

Strahlung liegt relativ am Anfang der Flugbahn, anschließend baut sich die Intensität nur<br />

langsam ab, sodass auf den Tumor folgendes Gewebe ebenfalls hohe Strahlungsdosen<br />

erfährt.<br />

87


4 Onkologie<br />

Im Gegensatz hierzu werden <strong>in</strong> der Partikel-/Schwerionentherapie Schwerionen verwendet,<br />

die auf sehr hohe Geschw<strong>in</strong>digkeiten beschleunigt werden und den Tumor irreparabel<br />

schädigen. Dies liegt an der <strong>in</strong> der Abbildung 4.4 zu erkennenden Dosisverteilung,<br />

nach der das Dosismaximum kurz vor dem Ende der Flugbahn liegt. Hierduch kann der<br />

Tumor noch effektiver bestrahlt werden, während benachbartes Gewebe geschont wird.<br />

Die dritte Therapieform ist die Brachytherapie, bei der zum e<strong>in</strong>en die Möglichkeit besteht,<br />

kle<strong>in</strong>e Strahlungskörper (Seeds) zu implantieren, die dann im Patienten verbleiben<br />

und ihre Strahlung abgeben. Zum anderen können während e<strong>in</strong>er Operation Hohlnadeln<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Körperhohlraum e<strong>in</strong>gebracht werden, <strong>in</strong> denen dann Strahlenquellen e<strong>in</strong>zelne<br />

Positionen der Nadel abfahren und den Tumor bestrahlen. In beiden Fällen wird der<br />

Tumor direkt vom Körper<strong>in</strong>neren her bestrahlt.<br />

4.6.6 Monoklonale Antikörper<br />

Monoklonale Antikörper stellen neben der Chemo- und Strahlentherapie e<strong>in</strong>e zukunftsweisende<br />

Therapiemöglichkeit <strong>in</strong> der Onkologie dar.<br />

Bei der natürlichen Immunantwort produzieren die B-Zellen des Immunsystems Antikörper,<br />

welche jeweils def<strong>in</strong>ierte B<strong>in</strong>dungsstellen (Epitope) ihrer Antigene erkennen.<br />

Über das Hybridom-Verfahren lassen sich sogenannte monoklonale Antikörper künstlich<br />

herstellen. Monoklonale Antikörper gehen auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Zelll<strong>in</strong>ie von B-Lymphozyten<br />

(Zellklon) zurück. Bei der Hybridom-Technik werden B-Zellen mit sich schnell teilenden<br />

Myelomzellen fusioniert. Man erhält sogenannte Hybridomzellen, die Antikörper produzieren.<br />

Nach Auswahl der geeignetsten Zellen werden diese <strong>in</strong> Kultur gehalten und<br />

als Vorrat tiefgefroren. Da die B-Zellen der Milz e<strong>in</strong>er Maus entommen wurden, müssen<br />

monoklonale Antikörper vor dem E<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> der Therapie humanisiert werden, sodass<br />

sie nicht als Fremdkörper vom Immunsystem aufgefasst werden.<br />

Monoklonale Antikörper werden <strong>in</strong> Bezug auf Tumorerkrankungen sowohl <strong>in</strong> der<br />

Diagnostik als auch <strong>in</strong> der Therapie e<strong>in</strong>gesetzt. So ist es beispielsweise durch radioaktive<br />

Markierung e<strong>in</strong>es monoklonalen Antikörpers möglich, ihn zu detektieren, nachdem er<br />

»se<strong>in</strong>« tumorspezifisches Prote<strong>in</strong> erkannt hat. Somit kann man e<strong>in</strong>en Tumor markieren<br />

und lokalisieren. In der Therapie können monoklonale Antikörper auch die Übertragung<br />

zellulärer Signale hemmen. Dazu b<strong>in</strong>den sie an die entsprechenden, auf Tumorzellen<br />

vermehrt vorkommenden Rezeptoren und blockieren deren Weiterleitung spezifischer<br />

Signale. Diese Therapie wird häufig bei Brustkebs angewandt und führt schließlich zum<br />

Anhalten des Tumorwachstums. E<strong>in</strong> ähnlicher Effekt wird erreicht, wenn monoklonale<br />

Antikörper e<strong>in</strong>gesetzt werden, um die für die Angiogenese verantwortlichen Signalmoleküle<br />

zu blockieren. Dadurch erhält der Tumor ke<strong>in</strong>en zusätzlichen Zugang zu<br />

Sauerstoff und Nährstoffen, die über die Blutgefäße verteilt werden.<br />

Um e<strong>in</strong>en Tumor gezielt töten zu können, werden die Antikörper mit Giften oder<br />

radioaktiven Substanzen komb<strong>in</strong>iert. Der Giftstoff bef<strong>in</strong>det sich dann – aufgrund der<br />

Antikörperb<strong>in</strong>dung an e<strong>in</strong> Oberflächenprote<strong>in</strong> – <strong>in</strong> direkter Nähe zur Tumorzelle und<br />

kann diese selektiv töten.<br />

E<strong>in</strong> weiterer Ansatz besteht dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en monoklonalen Antikörper mit e<strong>in</strong>em Enzym<br />

zu komb<strong>in</strong>ieren. Diese Therapie bezeichnet man als Antibody-directed-enzyme-prodrug-<br />

88


4.6 Therapie und Diagnostik<br />

therapy oder kurz ADEPT. Hierbei werden dem Patienten mit dem Enzym Cytos<strong>in</strong>deam<strong>in</strong>ase<br />

komb<strong>in</strong>ierte Antikörper gespritzt, welche an Rezeptoren b<strong>in</strong>den, die hauptsächlich<br />

an Tumoren zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. In e<strong>in</strong>em zweiten Schritt wird dem Patienten die<br />

zunächst wirkungslose Prodrug 5-Fluorcytos<strong>in</strong> gegeben. Wenn diese den am Tumor<br />

bef<strong>in</strong>dlichen Antikörper-Enzym-Komplex erreicht, katalysiert die Cytos<strong>in</strong>deam<strong>in</strong>ase die<br />

Umwandlung der Prodrug <strong>in</strong> das Zellgift 5-Fluoruracil. Im Gegensatz zu verschiedenen<br />

Chemotherapeutika, die gegen alle sich teilenden Zellen gerichtet s<strong>in</strong>d, ermöglichen<br />

antikörperbasierte Ansätze e<strong>in</strong>e zielgerichtetere Therapie mit weniger Nebenwirkungen.<br />

Insgesamt steckt <strong>in</strong> den unterschiedlichen Forschungsansätzen mit monoklonalen<br />

Antikörpern daher e<strong>in</strong> großes Potential für die Krebstherapie.<br />

4.6.7 Alternative Therapien – Misteltherapie<br />

E<strong>in</strong> kontrovers diskutiertes Thema <strong>in</strong> der modernen Krebsforschung stellen die alternativen<br />

Therapien dar. E<strong>in</strong>e der bekanntesten ist die Behandlung mit Mistelpräparaten,<br />

die hauptsächlich von Vertretern der anthroposophischen Mediz<strong>in</strong> angewandt wird.<br />

Dabei handelt es sich um e<strong>in</strong>e alternative Richtung, welche die Persönlichkeit des Patienten<br />

bei der Behandlung berücksichtigt. Ihr Begründer, der österreichische Philosoph<br />

und Esoteriker Rudolf Ste<strong>in</strong>er (1861 – 1925), beschrieb Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

das mediz<strong>in</strong>ische Potenzial der Mistel, e<strong>in</strong>es Halbschmarotzers, der auf Bäumen und<br />

Sträuchern lebt. Misteln wurden schon zuvor als Hausmittel gegen hohen Blutdruck,<br />

Epilepsie und Asthma angewendet. Spätere Nachforschungen brachten zwei für Misteln<br />

spezifische Inhaltsstoffe ans Licht, denen Anthroposophen große Bedeutung für die<br />

Krebstherapie zuschreiben. Dabei handelt es sich e<strong>in</strong>erseits um die Mistellekt<strong>in</strong>e, zuckerhaltige<br />

Eiweißstoffe, die das Immunsystem anregen, das Wachstum von Krebszellen<br />

stoppen und durch das Auslösen des »Zellselbstmordes« sogar Tumore zerstören können<br />

sollen. Andererseits be<strong>in</strong>halten Misteln sogenannte Viscotox<strong>in</strong>e. Diese eiweißhaltigen<br />

Verb<strong>in</strong>dungen ähneln <strong>in</strong> ihrer chemischen Struktur Schlangengiften und sollen ebenfalls<br />

das Immunsystem stimulieren und Krebszellen durch Auflösen der Zellwand zerstören<br />

können.<br />

Für die Therapie werden die Mistelpräparate zwei- bis dreimal pro Woche an Bauch<br />

oder Oberschenkel unter die Haut gespritzt. Der Preis für e<strong>in</strong>e dieser Dosen variiert<br />

zwischen 6 und 10 Euro. In Ausnahmefällen kann das Präparat auch direkt <strong>in</strong> den Tumor<br />

gespritzt werden oder per Infusion verabreicht werden.<br />

Die Verfechter dieser komplementär zur konventionellen Behandlung ablaufenden Therapie<br />

räumen ihr das Potenzial e<strong>in</strong>, Tumore zu zerstören oder zum<strong>in</strong>dest ihr Wachstum<br />

zu verlangsamen; das Immunsystem zu stimulieren und vor allem die Lebensqualität<br />

der Patienten zu erhöhen. Kritiker entgegnen, diese Wirkung habe <strong>in</strong> repräsentativen<br />

Studien nicht bestätigt werden können. Als gesichert gilt demgegenüber, dass die Misteltherapie<br />

verschiedene Nebenwirkungen auslösen kann. E<strong>in</strong>e allergische Reaktion auf<br />

die Präparate kann zudem lebensgefährlich se<strong>in</strong>.<br />

Letztlich ist es vor allem e<strong>in</strong>e Grundsatzfrage für den Patienten, ob er der ausführlich<br />

erforschten, konventionellen Behandlung (Operation, Chemo-/Strahlentherapie) folgt<br />

oder sich auch auf die viel diskutierte, alternative Misteltherapie e<strong>in</strong>lässt.<br />

89


4 Onkologie<br />

4.7 Palliativmediz<strong>in</strong> und Patientenumgang<br />

4.7.1 Palliativmediz<strong>in</strong><br />

Wenn bei Tumorpatienten die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Heilung ausgeschlossen wird, der Tumor<br />

also <strong>in</strong>kurabel ist, werden diese nicht mehr kurativ, sondern palliativ behandelt. Das<br />

Ziel der Palliativmediz<strong>in</strong> ist es dabei, nicht nur mehr Lebenszeit für den Patienten,<br />

sondern auch die bestmögliche Lebensqualität zu erreichen. Neben der L<strong>in</strong>derung<br />

von Leiden und Schmerzen gehört zur palliativen Behandlung auch das Stoppen des<br />

Tumorwachstums, die Wiederherstellung von wichtigen Körperfunktionen und die<br />

psychologische Betreuung.<br />

Das weitere Tumorwachstum wird z. B. durch e<strong>in</strong>e abgeschwächte Chemo- oder Strahlentherapie<br />

bekämpft. Um die Leiden e<strong>in</strong>es Patienten abzumildern, bekommt er vor allem<br />

Schmerzmittel verabreicht, es s<strong>in</strong>d jedoch auch Operationen und leichte Chemotherapien<br />

möglich. Bei Operationen werden beispielsweise Umgehungsgefäße (Blutgefäße oder<br />

Verdauungsgänge) und Stents gelegt und Embolisationen durchgeführt, also Verödungen<br />

von Blutgefäßen, die zum Tumor h<strong>in</strong>führen. In Studien hat sich <strong>in</strong>teressanterweise<br />

gezeigt, dass sich durch diese palliativmediz<strong>in</strong>ischen Maßnahmen die Lebensdauer der<br />

behandelten Patienten gegenüber der prognostizierten Lebensdauer erhöht.<br />

Anders als auf den gewöhnlichen Stationen im Krankenhaus, wird auf den Palliativstationen<br />

großer Wert auf e<strong>in</strong>e wohnliche E<strong>in</strong>richtung gelegt. Neben der mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Behandlung erhalten die Patienten auch Physio- und Ergotherapie zur Wiedererlangung<br />

ihrer Mobilität und psychologische Unterstützung; denn für den Erfolg der Behandlung<br />

ist auch die mentale Stärke und Akzeptanz entscheidend. Bei der Verarbeitung der<br />

Krankheit benötigen nicht nur die Patienten und deren Angehörige psychologische<br />

Betreuung, sondern auch alle Mitarbeiter der Palliativstation.<br />

Auch das Geme<strong>in</strong>schaftsgefühl zwischen Mitarbeitern und Patienten wird auf der<br />

Palliativstation stärker gefördert, als auf anderen Stationen e<strong>in</strong>es Krankenhauses. Dies<br />

geschieht beispielsweise durch die regelmäßige geme<strong>in</strong>same Nutzung der Küche.<br />

Ungewöhnlich ist auf der Palliativstation auch, die verhältnismäßig niedrige Patientenrate<br />

pro Arzt. Die unheilbar kranken Patienten werden wenn möglich auf der Palliativstation<br />

behandelt bis sich ihr Zustand soweit stabilisiert, dass sie die Zeit bis zu ihrem Tod<br />

entweder zu Hause, im Pflegeheim oder im Hospiz verbr<strong>in</strong>gen. Die Erkrankten werden<br />

außerdem auf die Zeit nach der Palliativstation vorbereitet. So beraten beispielsweise<br />

Mitarbeiter des Sozialdienstes der Palliativstation die Patienten und ihre Angehörigen<br />

über die praktischen Fragen der Betreuung und organisieren für später e<strong>in</strong>en ambulanten<br />

palliativen Pflegedienst, falls der Wunsch danach besteht.<br />

Sowohl für die Patienten als auch für die mitarbeitenden Ärzte, Pfleger und Psychologen<br />

ist es während der gesamten Arbeit äußerst wichtig, niemals das große Ziel aller<br />

palliativen Maßnahmen und Betreuung aus den Augen zu verlieren:<br />

Nicht dem Leben mehr Tage h<strong>in</strong>zuzufügen, sondern dem Tag mehr Leben.<br />

90


4.7.2 Psychologische Aspekte<br />

4.7 Palliativmediz<strong>in</strong> und Patientenumgang<br />

Neben den starken körperlichen Schmerzen werden Krebspatienten auch von psychischen<br />

Belastungen gequält. Im e<strong>in</strong>en Moment noch erfüllt von Angst, Verzweiflung<br />

und Hilflosigkeit, fühlen sie sich im nächsten Moment gestärkt von Mut, Zuversicht und<br />

Entschlossenheit. Elisabeth Kübler-Ross teilt die Verarbeitung e<strong>in</strong>er Krankheit <strong>in</strong> fünf<br />

Stadien e<strong>in</strong>: »The Five Stages Of Grief«: Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression und<br />

schließlich Akzeptanz.<br />

Nicht nur für den Patienten selbst ist die Diagnose Krebs e<strong>in</strong>e psychische Belastung,<br />

sondern auch für die Angehörigen. Christoph Schl<strong>in</strong>gensief, e<strong>in</strong> berühmter deutscher<br />

Regisseur, beschreibt diese Situation <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Krebstagebuch wie folgt: »Nicht der<br />

Leidende ist der, der e<strong>in</strong>e Prüfung macht, sondern der, der auf den Leidenden trifft.<br />

Deshalb ziehen sich auch manche Leute zurück, weil dieses Aufe<strong>in</strong>andertreffen bedeutet,<br />

dass man sich über manche D<strong>in</strong>ge Gedanken machen muss, die man im Normalfall<br />

lieber verschiebt. [ . . .] Es tut e<strong>in</strong>em Leid, weil man mit existentiellen Problemen nichts<br />

anfangen kann oder will« (Schl<strong>in</strong>gensief 2005). Das Zitat zeugt von der Hilflosigkeit und<br />

Unsicherheit der Angehörigen, wenn sie Zeit mit e<strong>in</strong>em Todkranken verbr<strong>in</strong>gen.<br />

Im Alltag sieht man sich nur äußerst selten mit existenziellen Fragen konfrontiert.<br />

Oftmals möchte man sich nicht mit der Endlichkeit des Lebens beschäftigen. Tritt nun<br />

jedoch e<strong>in</strong>e Krankheit <strong>in</strong>nerhalb des sozialen Umfeldes auf, so wird man von der<br />

erschreckenden Realität des Todes e<strong>in</strong>geholt. Man wird sich der Tatsache bewusst, dass<br />

mit dem Tod e<strong>in</strong>es geliebten Menschen e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Leben endet. Dieser E<strong>in</strong>schnitt<br />

<strong>in</strong> die Normalität kann beängstigend se<strong>in</strong>. Zudem kann Angst vor dem Schmerz der<br />

Trauer und vor der anstehenden Veränderung entstehen. Häufig reagieren Angehörige<br />

aus Unsicherheit mit e<strong>in</strong>er abwehrenden Haltung. Diese Distanz kann <strong>in</strong> manchen Fällen<br />

dazu beitragen, dass Patienten ke<strong>in</strong>e Möglichkeit sehen, ihren tiefsten Ängsten und<br />

Wünschen Ausdruck zu verleihen, weil sie sich niemandem anvertrauen können.<br />

»Damit wir begreifen lernen, dass es im Kern um e<strong>in</strong>e Beziehung zum Leben geht,<br />

die nicht nur von Schönheit und Erfolg ausgeht, sondern auch mit Hässlichkeit und<br />

Misserfolg rechnen lernt. Dass man sich dem Zöllner und der Hure näher fühlen sollte<br />

als dem Pharisäer« (Schl<strong>in</strong>gensief 2005). Schl<strong>in</strong>gensiefs Worte beschreiben die Mentalität<br />

unserer Gesellschaft. Es geht um Leistung, Erfolg, Makellosigkeit und Perfektionismus.<br />

Solch’ e<strong>in</strong>e Gesellschaft besitzt ke<strong>in</strong>en Platz für chronisch Kranke. Dies kann zu e<strong>in</strong>er<br />

Ausgrenzung des Kranken aus der Masse führen.<br />

Um den Patienten auf körperlicher und seelischer Ebene zu unterstützen, sollten wir<br />

offener über Themen wie Krebs, Tod und Verlust sprechen. Dies würde e<strong>in</strong>e Verbesserung<br />

bzw. Erleichterung der Situation auf beiden Seiten bedeuten. Zudem wäre es<br />

wünschenswert, wenn die Gesellschaft für die Bedürfnisse chronisch Kranker mehr Platz<br />

schaffen würde.<br />

91


4 Onkologie<br />

4.8 Literaturverzeichnis<br />

Epidemiologie<br />

[1] http://www.krebs<strong>in</strong>formationsdienst.de/themen/grundlagen/krebsregister.php<br />

Deutsches Krebsforschungszentrum (KID): Krebsregister: Warum zählen so wichtig ist.<br />

[2] Robert Koch Institut und Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister <strong>in</strong> Deutschland<br />

e. V: Krebs <strong>in</strong> Deutschland 2005/2006 - Häufigkeiten und Trends. Berl<strong>in</strong> 2010.<br />

Risikofaktoren<br />

[3] http://www.onkologie.hexal.de/krebs/lungenkrebs/gefaehrdet/<br />

Hexal AG: Lungenkrebs - Ursachen und Risiko.<br />

[4] www.chirurgie-frankfurt.com/de/pdfs/Krebsvorsorge.pdf<br />

Kl<strong>in</strong>ik für Allgeme<strong>in</strong>-, Viszeral-, und M<strong>in</strong>imal Invasive Chirurgie – Patienten<strong>in</strong>formation:<br />

Kann man sich vor Krebs schützen?<br />

[5] http://www.med.uni-goett<strong>in</strong>gen.de/media/global/tag_der_mediz<strong>in</strong>/<br />

tdm_2006_krebs_unduebergewicht.pdf<br />

Raddatz, Dirk: Krebs und Übergewicht, Gött<strong>in</strong>gen 2006.<br />

[6] Rechkemmer, Gerhard: Krebs - auch e<strong>in</strong> Ernährungsproblem. In: Spektrum der Wissenschaft,<br />

Spezial: Krebsmediz<strong>in</strong> II, Spezial 3/2003, 40–44.<br />

Molekulare Grundlagen<br />

[7] http://www.krebs<strong>in</strong>formationsdienst.de/themen/grundlagen/immunsystem.php#<br />

immunsystem-und-krebs<br />

Deutsches Krebsforschungszentrum (KID): Immunsystem und Krebs: Kompliziertes<br />

Wechselspiel.<br />

[8] Gibbs, W. Wayt: Chaos <strong>in</strong> der Erbsubstanz. In: Spektrum der Wissenschaft Spezial:<br />

Krebsmediz<strong>in</strong> II Spezial 3/2003, 12–22.<br />

[9] Hanahan, Douglas und We<strong>in</strong>berg, Robert A.: Hallmarks of Cancer: The Next Generation.<br />

In: Cell Vol. 144 (5) <strong>2011</strong>, 646.<br />

[10] http://uni-protokolle.de/nachrichten/id/44808/<br />

Müller-Hermel<strong>in</strong>k, Hans Konrad: Genomische Instabilität als Ursache der Krebsentstehung.<br />

Leukämien und Lymphome<br />

[11] http://www.dkv.com/gesundheit-krebs-leukaemie-beschreibung-12310.html<br />

Larisch, Kathar<strong>in</strong>a: Leukämie und Lymphome – Beschreibung.<br />

[12] Leischner, Hannes: Basics Onkologie. München 2010.<br />

92


4.8 Literaturverzeichnis<br />

Mammakarz<strong>in</strong>om<br />

[13] http://www.frauenaerzte-im-netz.de/de_brustkrebs-risikofaktoren-vorbeugung_367.<br />

html#Alter<br />

Berufsverband der Frauenärzte e. V.: Brustkrebs: Risikofaktoren und Vorbeugung.<br />

[14] http://www.netdoktor.de/Krankheiten/Brustkrebs/Wissen/Brustkrebs-<br />

Mammakarz<strong>in</strong>om-92.html<br />

Buschek, N<strong>in</strong>a: Brustkrebs (Mammakarz<strong>in</strong>om).<br />

[15] http://www.krebs<strong>in</strong>formationsdienst.de/themen/risiken/gutartige-brustveraenderungen.<br />

php<br />

Deutsches Krebsforschungszentrum (KID): Gutartige Veränderungen <strong>in</strong> der Brust.<br />

[16] http://edoc.hu-berl<strong>in</strong>.de/dissertationen/richard-frank-1999-12-13/PDF/Richard.pdf<br />

Richard, Frank: Chromosomale Imbalancen <strong>in</strong>vasiv duktaler und <strong>in</strong>vasiv lobulärer<br />

Mammakarz<strong>in</strong>ome detektiert mittels komparativer genomischer Hybridisierung (CGH),<br />

Berl<strong>in</strong> 1999.<br />

Melanome und Glioblastome<br />

[17] Altmeyer, P. und Reich, S.: Hautkrebs - E<strong>in</strong> oft unterschätztes Risiko: Risikofaktoren,<br />

Diagnostik, Therapie & Prognose. Stuttgart 2006.<br />

[18] Leischner, H., siehe [12].<br />

[19] Sauer, R: Strahlentherapie und Onkologie. München 2010.<br />

[20] http://www.glioblastom.org/<br />

Weiberg, Horst: Glioblastom (Glioblastoma multiforme).<br />

Lungen- und Magenkarz<strong>in</strong>om<br />

[21] Deutsche Krebsgesellschaft e. V.: Der blaue Ratgeber, Magenkrebs. Berl<strong>in</strong> <strong>2011</strong>.<br />

[22] Deutsche Krebsgesellschaft e. V.: Patientenratgeber Lungekrebs. Berl<strong>in</strong> 2009.<br />

[23] http://www.medicoconsult.de/wiki/Magenkarz<strong>in</strong>om<br />

Medicoconsult Facharztwissen: Magenkarz<strong>in</strong>om, Häufigkeit.<br />

[24] http://de.wikipedia.org/wiki/Bronchialkarz<strong>in</strong>om<br />

Anamnese und Untersuchung<br />

[25] http://www.patientenanwalt.com/fileadm<strong>in</strong>/dokumente/04_publikationen/<br />

expertenletter/komunikation/upatzent0512_DrDegn.pdf<br />

Degn, Barbara: Das Arzt-Patienten Gespräch.<br />

Bildgebende Verfahren I (CT und MRT)<br />

[26] http://www.welt.de/gesundheit/article4895003/Roentgen-CT-MRT-wie-wir-<strong>in</strong>-unser-<br />

Inneres-sehen.html<br />

93


4 Onkologie<br />

Bisculm, Mart<strong>in</strong>a: Bilgebende Verfahren: Röntgen, CT, MRT – wie wir <strong>in</strong> unser Inneres<br />

sehen.<br />

[27] http://www.krebs<strong>in</strong>formationsdienst.de/themen/untersuchung/roentgen.php<br />

Deutsches Krebsforschungszentrum (KID): Röntgen: Den Körper durchleuchten.<br />

[28] http://www.roe.med.tu-muenchen.de/download/vorlesung/Kurzscript\%20<br />

zum\%20Radiologiekurs\%20MRT.pdf<br />

Kurzscript zum Radiologiekurs »MRT + Skelettdiagnostik«.<br />

[29] http://www.medical.siemens.com/siemens/de_DE/rg_marcom_FBAs/files/<br />

Patienten<strong>in</strong>formationen/CT_Patienten<strong>in</strong>fo.pdf<br />

Siemens AG, Medicial Solutions: Computertomographie – Informationen für Patienten.<br />

[30] http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/krebs/diagnose/tid-6503/<br />

krebsdiagnose_aid_62475.html<br />

Uhlmann, Berit: Kernsp<strong>in</strong>tomografie (MRT).<br />

Bildgebende Verfahren II (Positronen-Emissions-Tomographie)<br />

[31] www.mediz<strong>in</strong>-netz.de<br />

[32] www.ogn.at<br />

[33] www.pet.at<br />

Chemotherapie<br />

[34] http://www.krebs-bei-k<strong>in</strong>dern.de/<strong>in</strong>fo/fach<strong>in</strong>fo/chemotherapie/chemotherapie.php<br />

Artner, Juraj: Chemotherapie maligner Erkrankungen.<br />

[35] http://www.krebs<strong>in</strong>formation.de/themen/behandlung/chemotherapie-wirkungresistenz.php<br />

Deutsches Krebsforschungszentrum (KID): Chemotherapie: Resistenz und Wirkungsverlust.<br />

[36] http://www.mediz<strong>in</strong>fo.de/arzneimittel/arzneimittelklassen/antimetabolite.shtml<br />

Wehner, Jürgen: Antimetabolite.<br />

[37] http://de.wikipedia.org/wiki/Taxane<br />

Strahlentherapie<br />

[38] http://www.meduniwien.ac.at/typo3/?id=739<br />

[39] http://www.operation.de/brachytherapie<br />

Neubauer, Stephan und Derakhshani, Pedram: Brachytherapie / Seed-Implantation /<br />

Afterload<strong>in</strong>g Therapie – die Operation.<br />

94


4.8 Literaturverzeichnis<br />

[40] http://www.uni-heidelberg.de/presse/news03/2312ione.html<br />

Schwarz, Michael: Heidelberger Schwerionen-Therapieanlage schließt Versorgungslücke<br />

bei unheilbaren Tumoren.<br />

[41] van den Berg, Franz: Angewandte Physiologie 2: Organsysteme verstehen und bee<strong>in</strong>flussen:<br />

Band 2. Stuttgart 2005.<br />

[42] http://de.wikipedia.org/wiki/Gray<br />

[43] http://de.wikipedia.org/wiki/Strahlentherapie<br />

[44] http://de.wikipedia.org/w/<strong>in</strong>dex.php?title=Datei:Tiefendosiskurven.svg<br />

Monoklonale Antikörper<br />

[45] http://zlp.charite.de/forschung/pathobiochemiezellbiologie/ag_fuchs/projekte/adept/<br />

Fuchs, Hendrik: ADEPT.<br />

[46] http://www.kl<strong>in</strong>iken.de/lexikon/Mediz<strong>in</strong>/Immunologie/Monoklonaler_<br />

Antik\%C3\%B6rper.html<br />

[47] http://www.mediz<strong>in</strong>-aspekte.de/2010/09/brustkrebs_trastuzumab_11941.html<br />

[48] http://www.nuvomanufactur<strong>in</strong>g.de/wundheilung/<strong>in</strong>formationen.html<br />

[49] Purves et al.: Biologie. Heidelberg 2010.<br />

[50] Stryer et al.: Biochemie. Heidelberg 2010.<br />

Alternative Therapien – Misteltherapie<br />

[51] http://www.mistel-therapie.de/mistel.html<br />

Kienle, Gunver S. und Bopp, Annette: Die Mistel <strong>in</strong> der Krebstherapie.<br />

[52] http://www.test.de/themen/gesundheit-kosmetik/meldung/Misteltherapiebei-Krebs-Mythen-und-Tatsachen-1294947-2294947/<br />

Stiftung Warentest (Berl<strong>in</strong>): Misteltherapie bei Krebs - Mythen und Tatsachen.<br />

Psychologische Aspekte<br />

[53] http://bit.ly/pULTBG<br />

[54] Schl<strong>in</strong>gensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht se<strong>in</strong>! München<br />

2009.<br />

95


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

5.1 E<strong>in</strong>leitung<br />

Andreas Schlüter und Johannes Waldschütz<br />

»Die Geschichte ist ke<strong>in</strong> Friedhof«, hat der französische Philosoph Paul Ricoeur e<strong>in</strong>mal<br />

gesagt – »nur die lebendige Er<strong>in</strong>nerung« der Zeitzeugen gebe den Blick frei auf die<br />

»Träume, hochfliegende[n] Hoffnungen, Projekte« der historischen Akteure (Ricoeur<br />

1998). Und nicht nur die Beliebtheit von Geschichtsdokumentationen im Fernsehen zeigt,<br />

dass die Beschäftigung mit Er<strong>in</strong>nern und Vergessen <strong>in</strong> den letzten beiden Jahrzehnten<br />

immer stärker zugenommen hat. Die meisten Historiker im Wissenschaftsbetrieb<br />

s<strong>in</strong>d dagegen deutlich skeptischer, was die Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit solcher<br />

Er<strong>in</strong>nerungen betrifft. In diesem Spannungsfeld zwischen lebendigem E<strong>in</strong>tauchen <strong>in</strong><br />

das Vergangene und nüchterner Distanz bewegte sich unser Kurs. Das gab uns die<br />

Möglichkeit, Grundlagen und Methoden der Geschichtswissenschaft zu diskutieren und<br />

so zu verstehen, was Wissenschaftlichkeit ausmacht.<br />

Im ersten Teil erarbeiteten wir uns geme<strong>in</strong>sam die <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Grundlagen:<br />

Wir bekamen e<strong>in</strong>en Überblick, was <strong>in</strong> den Naturwissenschaften und der Psychologie,<br />

<strong>in</strong> der Philosophie und unter Historikern über das Er<strong>in</strong>nern herausgefunden und<br />

gedacht worden ist. Zentral ist die Erweiterung des Er<strong>in</strong>nerungsbegriffs vom Gedächtnis<br />

E<strong>in</strong>zelner auf Gruppen und ganze Gesellschaften, die so an e<strong>in</strong>em kollektiven Gedächtnis<br />

teilhaben können. Und durch Friedrich Nietzsche machten wir uns damit vertraut, dass<br />

auch das Vergessen se<strong>in</strong>en Nutzen haben kann.<br />

So gerüstet, nahmen wir im zweiten, genu<strong>in</strong> historischen Teil den Umgang mit<br />

Er<strong>in</strong>nern und Vergessen <strong>in</strong> verschiedenen Zeiten und Kulturen <strong>in</strong> den Blick: Die mittelalterliche<br />

Memorialkultur rückte angesichts der tief verankerten Frömmigkeit das Jenseits<br />

ständig <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong>. Wie das Er<strong>in</strong>nern <strong>in</strong> den Dienst der Macht treten kann, zeigte<br />

uns z. B. der kreative Rückgriff von Adligen auf verme<strong>in</strong>tliche Ahnen zur eigenen<br />

Herrschaftssicherung. Die immer wieder verfe<strong>in</strong>erte damnatio memoriae bediente sich als<br />

Herrschaftstechnik auch des Vergessens. Es zeigte sich, dass im Lauf der Geschichte<br />

ganz unterschiedlich mit Gedenken und Vergessen umgegangen wurde, was auf uns<br />

heute fremd und unverständlich wirken kann.<br />

Mit diesem Wissen betrachteten wir im dritten Kursteil Er<strong>in</strong>nerungsformen und<br />

-konstruktionen der Gegenwart, u. a. die Inszenierung von Geschichte <strong>in</strong> Museen und<br />

Medien, den Stellenwert historischer Er<strong>in</strong>nerung beim Umgang mit historischem Unrecht<br />

oder die Bedeutung von Geschichtspolitik <strong>in</strong> demokratischen wie totalitären Gesellschaften.<br />

Als Klammer dienten dabei Fragen, die das Thema Er<strong>in</strong>nerung im H<strong>in</strong>blick auf die<br />

wissenschaftliche Praxis zu verorten versuchten: Wie bee<strong>in</strong>fluss(t)en historische Prozesse<br />

die <strong>in</strong>dividuelle und kollektive Er<strong>in</strong>nerung? Wie kann die (historische) Wissenschaft mit<br />

97


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

sich wandelnder Er<strong>in</strong>nerung umgehen? Gibt es e<strong>in</strong>e von der Er<strong>in</strong>nerung unabhängige<br />

»objektive Geschichte«? So unterschiedlich die Antworten der Teilnehmenden dabei auch<br />

ausgefallen s<strong>in</strong>d, so deutlich wurde es, dass dabei e<strong>in</strong> Prozess des Nachdenkens und<br />

H<strong>in</strong>terfragens e<strong>in</strong>gesetzt hatte – die Grundlage jeder wissenschaftlichen Beschäftigung.<br />

5.2 Neurologische und psychologische Grundlagen des Er<strong>in</strong>nerns<br />

Für das Er<strong>in</strong>nern spielt das menschliche Gedächtnis e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Es gibt drei<br />

Unterteilungen des Gedächtnisses: das Ultrakurzzeitgedächtnis, das Arbeitsgedächtnis<br />

und das Langzeitgedächtnis. Das Langzeitgedächtnis nimmt allerd<strong>in</strong>gs als e<strong>in</strong>ziges die<br />

Rolle der wirklichen Speicherung e<strong>in</strong>, woh<strong>in</strong>gegen die anderen sich mit der Verarbeitung<br />

von kurzfristigen Reizen beschäftigen. Auch das Langzeitgedächtnis lässt sich <strong>in</strong><br />

zwei Bereiche unterteilen: das explizite und das implizite Gedächtnis. Zum expliziten<br />

Gedächtnis gehört das semantische Gedächtnis, das für Faktenwissen zuständig ist, und<br />

das episodische Gedächtnis, das speziell für Er<strong>in</strong>nerungen zuständig ist. Der zweite<br />

Bereich, das implizite Gedächtnis, setzt sich zusammen aus dem prozeduralen Gedächtnis,<br />

das für Bewegungsabläufe zuständig ist, und dem Prim<strong>in</strong>g-Gedächtnis, das für die<br />

Wiedererkennung von Reizen sorgt (Piefke, Markowitsch 2010: 11–13).<br />

Während der Speicherung von Daten im Langzeitgedächtnis f<strong>in</strong>det auf neuronaler<br />

Ebene e<strong>in</strong>e Genaktivierung statt, die die Bildung e<strong>in</strong>es Prote<strong>in</strong>s zur Folge hat, das<br />

wiederum die Strukturen der Synapsen ändert. Diese Genaktivierung kann z. B. durch<br />

häufige Wiederholung oder durch e<strong>in</strong>e starke emotionale B<strong>in</strong>dung mit dem Erlebten<br />

zustande kommen. Sollte die Er<strong>in</strong>nerung jedoch erst e<strong>in</strong>mal im Langzeitgedächtnis<br />

festgehalten worden se<strong>in</strong>, kann sie theoretisch zeitlich unbegrenzt dort fortbestehen.<br />

Da sich allerd<strong>in</strong>gs die Synapsen im Gehirn ständig verändern, kann die Er<strong>in</strong>nerung <strong>in</strong><br />

Vergessenheit geraten, wenn sie nicht mehr durch Reize angeregt wird. Auch ähnliche<br />

Er<strong>in</strong>nerungen oder etwas, das mit der Er<strong>in</strong>nerung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zusammenhang steht, kann<br />

e<strong>in</strong>en Reiz auslösen. Bei der langfristigen Wiederholung von Er<strong>in</strong>nerungen kann es<br />

problematisch se<strong>in</strong>, dass die Er<strong>in</strong>nerungen sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Maß verändern. So<br />

kann es se<strong>in</strong>, dass der sich Er<strong>in</strong>nernde völlig vom Ablauf der Er<strong>in</strong>nerung und den<br />

Details überzeugt ist, obwohl der eigentliche Hergang möglicherweise anders gewesen<br />

ist. Des Weiteren spielt beim Er<strong>in</strong>nern auch immer der aktuelle persönliche Kontext e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Rolle (Piefke, Markowitsch 2010: 17).<br />

Durch diese Abänderung oder Verfälschung besteht die Gefahr, dass Vergangenes<br />

anders <strong>in</strong>terpretiert oder gewertet werden kann. Dieser Effekt kann besonders beim<br />

kommunikativen Gedächtnis (Assmann 2006) auftreten, da neben der Verfälschung<br />

durch die Er<strong>in</strong>nerung auch e<strong>in</strong>e mögliche Verfälschung durch die kommunikative<br />

Weitergabe entstehen kann. Ger<strong>in</strong>ger ist dieser Effekt beim kulturellen Gedächtnis<br />

(Assmann 2006), da sich dieses durch e<strong>in</strong>e Speicherung des zu Er<strong>in</strong>nernden mittels<br />

der Kultur auszeichnet. Das kulturell Festgehaltene kann zwar aufgrund e<strong>in</strong>es anderen<br />

zeitlichen und sozialen Kontextes »falsch« neu<strong>in</strong>terpretiert werden, jedoch entsteht dabei<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>malige Verfälschung, während beim kommunikativen Gedächtnis die m<strong>in</strong>imalen<br />

Abänderungen aufe<strong>in</strong>ander aufbauen und sich somit selbst verstärken.<br />

98


5.3 Glücklich ohne Er<strong>in</strong>nerung?<br />

5.3 Glücklich ohne Er<strong>in</strong>nerung? Philosophische Betrachtungen Nietzsches<br />

über den »Nutzen der Historie«<br />

Nietzsche wurde 1844, im Zeitalter des Historismus, geboren. Im gesamten westlichen<br />

Kulturkreis suchte man <strong>in</strong> dieser Zeit nach se<strong>in</strong>en ethnischen Wurzeln; Geschichte wurde<br />

zur wichtigsten Wissenschaft. Diesem Gesellschaftsbild stellte Nietzsche im zweiten<br />

Teil se<strong>in</strong>er »Unzeitgemäßen Betrachtungen« (erschienen 1874) e<strong>in</strong>e neue Theorie des<br />

Vergessens gegenüber.<br />

»Es ist möglich, fast ohne Er<strong>in</strong>nerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier<br />

zeigt, es ist aber ganz und gar unmöglich ohne Vergessen überhaupt zu leben« (Nietzsche<br />

1954: 213). Wenn wir nur er<strong>in</strong>nern, unterdrücken wir nach Nietzsche unsere Triebe des<br />

Vergessens, was heißt, dass die Historie uns zw<strong>in</strong>gt, uns selbst zu verleugnen. Jenes<br />

Übermaß an Historie erzeuge e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Konflikt und schwäche die Persönlichkeit.<br />

Des Weiteren lasse es uns <strong>in</strong> der Vergangenheit leben und die Gegenwart »vergessen«<br />

(Nietzsche 1954: 219–221).<br />

Doch auch Nietzsche sah <strong>in</strong> der Historie nicht nur etwas Negatives, sondern hielt<br />

sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewissen Maß für s<strong>in</strong>nvoll. Hierfür schlägt er e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation aus drei<br />

verschiedenen Betrachtungsweisen vor: die monumentale, die antiquarische und die<br />

kritische Historie (Nietzsche 1954: 219–238). Der monumentale Mensch sehe Geschichte<br />

als e<strong>in</strong>en sich wiederholenden Kreislauf, als etwas Besonderes, und nutze sie als Mittel<br />

gegen Resignation. Das berge die Gefahr, dass man nach der Vergangenheit lebe und<br />

handele; deshalb benötige man die antiquarische Betrachtungsweise. Der antiquarische<br />

Mensch sehe sich als Teil der Geschichte, ohne dass er E<strong>in</strong>fluss auf sie hätte. Gefährlich<br />

sei hier, dass man <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er »kle<strong>in</strong>en Welt« lebe und die Übersicht verliere. Deswegen<br />

bestehe die Notwendigkeit der kritischen Historie, die über die Vergangenheit richte und<br />

selektiv entscheide, was vergessen werde und was nicht. Nur wenn man Historie so <strong>in</strong><br />

den »Dienst des Lebens« stelle, sei sie s<strong>in</strong>nvoll.<br />

Man könnte Nietzsches Gedanken, dass das Vergessen der Vergangenheit wichtig<br />

sei, um die Gegenwart wahrzunehmen, mit der Theorie von Jan und Aleida Assmann<br />

vergleichen. Diese teilt unser »gesellschaftliches Gedächtnis« <strong>in</strong> zwei Gedächtnisse:<br />

<strong>in</strong> das kommunikative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative<br />

Gedächtnis habe e<strong>in</strong>e Dauer von etwa 80 Jahren und beruhe auf sozialer Interaktion.<br />

Das kulturelle Gedächtnis sei wiederum <strong>in</strong> zwei Gedächtnisse unterteilt: Funktions- und<br />

Speichergedächtnis. Im Funktionsgedächtnis befänden sich alle Informationen, die im<br />

Moment für unsere Kultur wichtig seien, während im Speichergedächtnis unser gesamtes<br />

historisches Wissen (Archive etc.) gespeichert seien (Assmann 2006: 5). Man könnte also<br />

sagen, dass das, was Nietzsche als »s<strong>in</strong>nvolles Vergessen« bezeichnet, eigentlich nur e<strong>in</strong><br />

Verschieben von irrelevanten Informationen vom Funktions- <strong>in</strong>s Speichergedächtnis ist.<br />

Nietzsches Werke im Gesamtbild kann man kontrovers sehen, da sie im frühen<br />

Stadium historienkritisch und im mittleren und späten historienfreundlich s<strong>in</strong>d (Ottmann<br />

2000: 255). Daraus kann man schließen, dass Nietzsche selbst im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens<br />

se<strong>in</strong>e historienkritische Theorie des Vergessens relativiert hat. Diese viel diskutierte<br />

Theorie eröffnete die Sicht auf die positiven Seiten des Vergessens, weshalb sich die<br />

Ansätze vieler heutiger Historiker auf Nietzsche zurückverfolgen lassen.<br />

99


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

5.4 Das kollektive Gedächtnis nach Maurice Halbwachs<br />

Der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs (1877–1945) stellte 1925<br />

<strong>in</strong> Les Cadres sociaux de la mémoire die These auf, der Mensch könne sich nicht ohne<br />

Anb<strong>in</strong>dung an die Gesellschaft an etwas er<strong>in</strong>nern. Jeder Mensch sei fest <strong>in</strong> gesellschaftlichen<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen, den »cadres sociaux« verankert, die durch kommunikative<br />

Teilnahme an bestimmten Gruppen entstünden. Die wichtigsten Er<strong>in</strong>nerungsrahmen<br />

seien Sprache, Zeit, Raum und Erfahrung.<br />

Die Abhängigkeit von der Gesellschaft bezeichnet Halbwachs als kollektives Gedächtnis<br />

– kollektiv im Gegensatz zum <strong>in</strong>dividuellen Gedächtnis. E<strong>in</strong> solches sei jedoch nur<br />

bei e<strong>in</strong>em komplett isoliert aufgewachsenen Menschen zu f<strong>in</strong>den oder im Traum (Halbwachs<br />

1985: 366–367). Denn nur die unmittelbaren Wahrnehmungen und Empf<strong>in</strong>dungen<br />

e<strong>in</strong>es Menschen s<strong>in</strong>d nach Halbwachs <strong>in</strong>dividuell. Sobald er beg<strong>in</strong>ne, zu verstehen,<br />

benennen oder auszudrücken, nehme er Bezug auf die ihn umgebenden Rahmen, wobei<br />

die Sprache der hauptsächlichste sei (Pethes 2008: 53).<br />

Diese durch Bee<strong>in</strong>flussung e<strong>in</strong>er Gruppe gebildete Er<strong>in</strong>nerung werde beim Er<strong>in</strong>nerungsprozess<br />

leicht verformt, da der Mensch bei jedem Reproduktionsvorgang den Wert<br />

der e<strong>in</strong>zelnen Aspekte anders gewichte (Halbwachs 1985: 381–382).<br />

E<strong>in</strong> Beispiel hierfür gibt Halbwachs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er empirischen Studie La Topographie légendaire<br />

des Evangiles en Terre Sa<strong>in</strong>te (1941), <strong>in</strong> der er die Verbreitung und die Wirkung<br />

kollektiver Glaubensvorstellungen im Wandel der Zeit erforscht. Gemäß Halbwachs s<strong>in</strong>d<br />

»Er<strong>in</strong>nerungen an die Vergangenheit wesentlich [. . .] Rekonstruktionen im Lichte der<br />

Gegenwart« (Wetzel 2009: 61). Das Gedächtnis der religiösen Gruppe werde somit zum<br />

religiösen Gedächtnis, <strong>in</strong>dem die geme<strong>in</strong>samen Traditionen und Riten, die e<strong>in</strong>e symbolische<br />

Kraft besäßen, sich dauerhaft im kollektiven Gedächtnis verankerten (Wetzel 2009:<br />

69–70; 74–75).<br />

Des Weiteren ergänzt Halbwachs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em posthum veröffentlichten Werk La mémoire<br />

collective se<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition des kollektiven Gedächtnisses <strong>in</strong>sofern, als er ihm e<strong>in</strong>e soziale<br />

Funktion beimisst. Dadurch und durch anerkannte Werte und Standards würde das<br />

kollektive zum kulturellen Gedächtnis und somit zur Sammelstelle für Er<strong>in</strong>nerungen<br />

(Wetzel 2009: 76–77).<br />

Trotz dieser Funktion als e<strong>in</strong>e Art Archiv unterscheide sich das kollektive Gedächtnis<br />

von der Geschichte: Es gebe mehrere zeitlich und räumlich begrenzte kollektive Gedächtnisse,<br />

die im Gegensatz zur Gesamtgeschichte nicht <strong>in</strong> künstliche Epochen e<strong>in</strong>geteilt<br />

seien (Wetzel 2009: 78–79).<br />

Halbwachs’ Theorie wurde von Jan und Aleida Assmann aufgegriffen und weiterentwickelt.<br />

Laut diesen unterteilt sich das kollektive Gedächtnis <strong>in</strong> das kommunikative<br />

und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis setze sich aus den Erzählungen<br />

und mündlichen Überlieferungen zusammen und umfasst nach Assmann<br />

ungefähr 80 Jahre (ca. drei Generationen). Im kulturellen Gedächtnis h<strong>in</strong>gegen seien<br />

alle Er<strong>in</strong>nerungen e<strong>in</strong>er Kultur gesammelt sowie alle für diese Kultur wichtigen Ereignisse,<br />

Symbole etc. Dieses Gedächtnis sei wiederum unterteilt <strong>in</strong> Funktions- und<br />

100


5.5 Oral History<br />

Abbildung 5.1: Auf Plakaten dargestellt: Was Philosophen über Er<strong>in</strong>nerung sagen. Hier: Hegel.<br />

Speichergedächtnis: Im Funktionsgedächtnis seien alle Informationen vorhanden, die im<br />

Augenblick wichtig für die Gesellschaft seien. Wenn diese an Bedeutung verlören, würde<br />

sie <strong>in</strong>s Speichergedächtnis wandern, von wo sie bei Bedarf wieder hervorgeholt werden<br />

könnten. Somit entstünde e<strong>in</strong> permanenter Austausch von Er<strong>in</strong>nerungen zwischen<br />

Speicher- und Funktionsgedächtnis (Assmann 2006).<br />

5.5 Oral History<br />

5.5.1 Der Zeitzeuge als Fe<strong>in</strong>d des Historikers?<br />

Der Begriff »Oral History« bezeichnet e<strong>in</strong>e geschichtswissenschaftliche Methode, Zeitzeugen<br />

zu befragen. Die Befragung f<strong>in</strong>det immer <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Interviews statt und<br />

zeichnet sich dadurch aus, dass man den Interviewten möglichst frei erzählen lässt. Auf<br />

diese Weise sollen die Er<strong>in</strong>nerungen des Zeitzeugen und se<strong>in</strong>e persönliche Sichtweise<br />

möglichst unverfälscht erforscht werden. Beschäftigt man sich mit der Thematik des<br />

Er<strong>in</strong>nerns und Vergessens, spielt die »Oral History« schon alle<strong>in</strong> deswegen e<strong>in</strong>e Rolle,<br />

weil sie vollständig auf diese angewiesen ist.<br />

Gerade deswegen ist die »Oral History«-Methode unter Historikern sehr umstritten.<br />

Befürworter sehen sie als Chance, die Sicht der Individuen auf die Weltpolitik zu<br />

101


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

erforschen und sie zur Kontrolle und Korrektur von schriftlichen Quellen zu nutzen<br />

(von Plato 2000: 26). Als Argument wird angeführt, dass mündliche Quellen denselben<br />

Quellenwert besäßen wie schriftliche, da auch diese von subjektiven Autoren stammten,<br />

die unter dem E<strong>in</strong>fluss ihrer Umgebung, Zeit und Kultur stünden (von Plato 2000: 9).<br />

Obwohl versucht wird, Zeitzeugen möglichst wenig zu bee<strong>in</strong>flussen, sehen Kritiker der<br />

»Oral History« Zeitzeugen als für wissenschaftliche Quellenarbeit nicht geeignet an<br />

(Welzer 2000: 61). Hauptsächlich wird darauf verwiesen, dass Zeugen Situationen oft<br />

wesentlich anders beschreiben als sich diese objektiv betrachtet zugetragen haben. Dies<br />

habe jedoch nichts damit zu tun, dass die Zeugen das Erlebte »falsch« darstellen wollten,<br />

sondern vielmehr damit, dass ihre Er<strong>in</strong>nerung so vielen äußeren E<strong>in</strong>flüssen ausgesetzt<br />

sei, dass diese sich unbewusst verändere (Welzer 2000: 60).<br />

Um dieser Kritik zu begegnen, wurden spezielle Interviewtechniken entwickelt (von<br />

Plato 2000: 21–22), bei denen das Interview <strong>in</strong> vier Phasen e<strong>in</strong>geteilt wird:<br />

1. die freilaufende Phase: Die <strong>in</strong>terviewte Person erzählt weitgehend ununterbrochen<br />

von ihrem Leben.<br />

2. die Nachfrage-Phase: Der Interviewer fragt gezielt nach nicht verstandenen Details.<br />

3. die Fragelisten-Phase: E<strong>in</strong>e vorher erarbeitete Frageliste wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesprächssituation<br />

abgearbeitet.<br />

4. die Streit-Phase: Differenzen zwischen den Interviewpartnern werden angesprochen.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus existiert <strong>in</strong> der Fachwelt e<strong>in</strong>e weitere Position, welche die »Oral<br />

History« als Möglichkeit wahrnimmt, die Er<strong>in</strong>nerungen und kollektiven Gedächtnisse<br />

von M<strong>in</strong>derheiten und Unterschichten zu berücksichtigen. Im Gegensatz zur Oberschicht<br />

würden diese seltener schriftliche Quellen h<strong>in</strong>terlassen, wodurch sie das kulturelle<br />

Gedächtnis (Erll 2005: 27–30) nicht so entscheidend prägen würden wie gesellschaftliche<br />

Mehrheiten (Dejung 2008: 114). Entsprechend würde die Zulassung mündlicher Quellen<br />

also auch e<strong>in</strong>e Erweiterung des kulturellen Gedächtnisses ermöglichen bzw. vorantreiben.<br />

Doch auch unter den Befürwortern des »Oral History«-Konzepts wird ke<strong>in</strong>e bl<strong>in</strong>de<br />

Glaubwürdigkeit gegenüber Zeitzeugenaussagen verlangt (Hockerts 2001: 20). Deshalb<br />

herrscht <strong>in</strong> der Fachwelt immerh<strong>in</strong> dar<strong>in</strong> E<strong>in</strong>igkeit, dass Interviews mit (m<strong>in</strong>destens)<br />

derselben wissenschaftlich distanzierten Haltung betrachtet werden müssen wie jede<br />

andere Quelle auch.<br />

5.6 Les lieux de mémoire<br />

Pierre Nora (geb. 7. 11. 1931), e<strong>in</strong> französischer Historiker, war der Erste, der sich der<br />

Frage angenommen hat, welche Veränderungen die Vergangenheits- und Zukunftsentwürfe<br />

der Nationen im Laufe der Zeit erfahren und wor<strong>in</strong> der geme<strong>in</strong>same Besitz e<strong>in</strong>es<br />

reichen Erbes an Er<strong>in</strong>nerungen (und Vergessenem) besteht. Dieses reiche Erbe, das die<br />

102


5.7 »Die Gegenwart der Toten« – mittelalterliche Gedächtniskultur<br />

Identität der Nationen ausmacht, ist die Grundlage se<strong>in</strong>es Werks »Les lieux de mémoire«<br />

(1984–1992).<br />

Unter e<strong>in</strong>em Er<strong>in</strong>nerungsort versteht Nora etwas Materielles oder Immaterielles, das<br />

die Er<strong>in</strong>nerungsbilder der französischen Nation aufruft. Dar<strong>in</strong> kondensiere, verkörpere,<br />

kristallisiere sich das Gedächtnis der Nation Frankreich (François & Schulze 2001:<br />

15). Er<strong>in</strong>nerungsorte können Gedenkstätten se<strong>in</strong>, aber auch die »Marseillaise«, die<br />

»Trikolore«, der 14. Juli, der Code Civil, der Sonnenkönig, Descartes oder Gebäude wie<br />

Notre-Dame oder der Eiffelturm.<br />

Im Grunde kann alles, was dazu beigetragen hat, e<strong>in</strong>e Identität zu entwickeln, als<br />

Er<strong>in</strong>nerungsort aufgefasst werden. Allerd<strong>in</strong>gs muss laut Nora e<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungsort über<br />

e<strong>in</strong>e »materielle, funktionelle und symbolische Dimension« verfügen. Das bedeutet, dass<br />

der Er<strong>in</strong>nerungsort als Zeite<strong>in</strong>heit oder reales Objekt existieren muss (Erll 2005: 24). Oft<br />

bleiben über Jahrhunderte nur die äußeren Merkmale e<strong>in</strong>es »lieu de mémoire« erhalten,<br />

»während ihre symbolische Aufladung sich ändern kann« (François & Schulze 2001: 16).<br />

Auf Grund dieser Vielseitigkeit können sich an ihrer Erschließung Wissenschaftler aus<br />

zahlreichen Fachbereichen beteiligen, wodurch sich diese Theorie großer Beliebtheit erfreut<br />

hat und <strong>in</strong> vielen weiteren Ländern wie Italien, Kanada und auch Deutschland umgesetzt<br />

worden ist (Erll 2005: 25). Nichtsdestotrotz wurde Noras »zivilisationskritisches<br />

Timbre« (Niethammer) (Erll 2005: 25) kritisiert, ebenso die Lockerung se<strong>in</strong>er strengen<br />

Def<strong>in</strong>ition im Laufe des Werkes. Darüber h<strong>in</strong>aus habe Nora es versäumt, die Er<strong>in</strong>nerungsorte<br />

der französischen Kolonien und der zahlreichen Immigranten mite<strong>in</strong>zubeziehen<br />

(Erll 2005: 25).<br />

Die Verfasser der »Deutschen Er<strong>in</strong>nerungsorte«, Etienne François und Hagen Schulze,<br />

haben im Gegensatz zum französischen Vorbild e<strong>in</strong>ige Anpassungen für Deutschland<br />

vornehmen müssen: So wurde der Fokus eher auf das 19. und 20. Jahrhundert gelegt, e<strong>in</strong><br />

Zeitalter mit besonders hohem Stellenwert für die deutsche Geschichte. Des Weiteren<br />

würde bei den deutschen Er<strong>in</strong>nerungsorten e<strong>in</strong>e europäische Sichtweise angestrebt;<br />

so s<strong>in</strong>d auch mit anderen Nationen geteilte Er<strong>in</strong>nerungsorte wie »Karl der Große«<br />

mite<strong>in</strong>bezogen worden sowie Betrachtungen von außen, also wie »Deutschland« aus<br />

dem europäischen Umfeld gesehen wurde, beispielsweise <strong>in</strong> der Germania von Tacitus<br />

(François & Schulze 2001: 21). Insgesamt soll zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Er<strong>in</strong>nerungsorten<br />

ke<strong>in</strong>e Hierarchie herrschen, womit jeder denselben Stellenwert <strong>in</strong>nehat. So f<strong>in</strong>det man<br />

Essays über die »Bundesliga« und »Schrebergarten« neben anderen, verme<strong>in</strong>tlich wichtigeren<br />

wie »Goethe« oder »Weimar«. Die zum Teil sehr positiven Rezensionen sche<strong>in</strong>en<br />

das Motto der Autoren »Belebung statt Belehrung« (François & Schulze 2001: 23) zu<br />

bekräftigen.<br />

5.7 »Die Gegenwart der Toten« – mittelalterliche Gedächtniskultur<br />

Im mittelalterlichen Abendland war der Tod <strong>in</strong> der Gesellschaft besonders präsent.<br />

Der Tod wurde aber nicht als furchte<strong>in</strong>flößendes Ende, sondern als e<strong>in</strong>e Erlösung<br />

von den irdischen Qualen (ergastulum) aufgefasst. Er ermöglichte das ewige Leben im<br />

Himmelreich Gottes, wenn man im Diesseits e<strong>in</strong> frommer, guter Christ war.<br />

103


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

Man muss die mittelalterliche Er<strong>in</strong>nerungskultur, von der Forschung auch Memoria<br />

genannt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em breiten historischen Kontext betrachten, welcher bis weit <strong>in</strong> die<br />

heidnische Antike zurückreicht. So dokumentierte bereits der römische Schriftsteller<br />

Tertullian (um 200 n. Chr.) <strong>in</strong> mehreren Werken Totenzeremonien. Aus diesen geht hervor,<br />

dass die Toten <strong>in</strong> der römischen Antike als Rechtssubjekte mit Rechts- und Handlungsfähigkeit<br />

angesehen wurden (Oexle 1983: 29). Dies zeigt sich u. a. auch an der Zeremonie<br />

des Totenmahls. Memoria me<strong>in</strong>t folglich nicht nur das e<strong>in</strong>fache Er<strong>in</strong>nern der Toten,<br />

sondern <strong>in</strong>sbesondere soziales Handeln <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Verb<strong>in</strong>dung der Lebenden und Toten als<br />

Rechtspersonen (Oexle 1983: 29). Die frühen Christen übernahmen im 3./4. Jahrhundert<br />

die Vorstellung des »lebendigen« Toten <strong>in</strong> die Liturgie und christianisierten die ehemals<br />

heidnischen Todeskulte (Oexle 1983: 50–51).<br />

Das Bedürfnis, der Toten zu gedenken, lag im Seelenheil der Menschen begründet. Wer<br />

sich nicht an die Gebote Gottes hielt, also sündigte, kam nach dem Tod <strong>in</strong>s Fegefeuer. Es<br />

wurde als e<strong>in</strong> Ort der Qualen verstanden (Kuithan 2000: 78) und brachte die Menschen<br />

dazu, bereits im Diesseits für ihr Seelenheil vorzusorgen. Adlige wie Liutold von Achalm<br />

(11. Jahrhundert) stifteten Klöster oder traten umfangreiche Güter an die Kirche ab<br />

(Kuithan 2000: 93). Sie wollten sich e<strong>in</strong> unvergessliches Denkmal setzen und e<strong>in</strong>en<br />

Platz im Himmel sichern. Das Leben solcher Stiftsgründer wurde von Mönchen <strong>in</strong> den<br />

sogenannten Vitae nacherzählt (Oexle 1983: 26). Die Fürbitte war darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong><br />

zentrales Element der katholischen Liturgie und dem Seelenheil bereits Verstorbener<br />

gewidmet. Sie sollte als e<strong>in</strong>es der »guten Werke« (Kuithan 2000: 78) aufgefasst werden<br />

und den Toten aus dem Fegefeuer <strong>in</strong> den Himmel holen (Kuithan 2000: 78). Neben den<br />

Vitae fungierten auch Nekrologe und Verbrüderungsbücher als schriftliche Werke der<br />

Memoria. Die Nekrologe, die aus den Namen sowie den Todesdaten der Verstorbenen<br />

bestanden, ermöglichten e<strong>in</strong> jährliches Totengedenken. »In der Nennung se<strong>in</strong>es Namens<br />

wird der Tote als Person evoziert« (Oexle 1983: 31).<br />

Den Verbrüderungsbüchern liegt das im Mittelalter an Bedeutung gewonnene Phänomen<br />

der sogenannten E<strong>in</strong>ung zugrunde. Vermehrt schlossen sich geistliche oder<br />

weltliche Personen <strong>in</strong> Verbrüderungen zusammen. Falls e<strong>in</strong> Vertragspartner gestorben<br />

war, wurde ihm von den anderen Brüdern Gebetshilfe für das Seelenheil garantiert<br />

(Oexle 1994: 312).<br />

5.8 Ursprungserzählungen als Legitimationsstrategie<br />

Gerade <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit erwachte unter Adligen e<strong>in</strong> reges Interesse an ihrer<br />

Familiengeschichte. Sie hatten seit dem späten Mittelalter festgestellt, dass sie ihre<br />

Herrschaftsansprüche mit dem Verweis auf e<strong>in</strong>e hohe Herkunft besser legitimieren<br />

konnten. Dies führte zu e<strong>in</strong>er »deutlichen Intensivierung der Suche nach Ursprung und<br />

Vergangenheit des eigenen Geschlechts« (Hecht 2006: 10). So gaben immer mehr adlige<br />

Familien e<strong>in</strong>e Chronik <strong>in</strong> Auftrag. Diese Aufträge häuften sich, wenn für e<strong>in</strong>e Familie<br />

e<strong>in</strong>e konkrete Bedrohung bestand (beispielsweise e<strong>in</strong>e hohe Verschuldung oder das<br />

Aussterben e<strong>in</strong>es Zweiges der Familie) und der Wunsch nach e<strong>in</strong>er Verbesserung des<br />

Familienstandes größer wurde.<br />

104


5.9 Invented traditions<br />

In diesen Chroniken fand man normalerweise e<strong>in</strong>e Legende über den Ursprung<br />

des beschriebenen Geschlechtes. Im Vordergrund stand der Versuch, die Familie des<br />

Auftraggebers <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em guten Licht darzustellen und ihr e<strong>in</strong>e möglichst lange und<br />

ehrenvolle Herkunft zu verleihen. So führten viele Stammbäume <strong>in</strong> den Bereich der<br />

Mythen und Sagen und des Alten Testamentes. Zudem wurde versucht, e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung<br />

zu den neun Guten Helden zu ziehen (Czech 2003: 41).<br />

E<strong>in</strong> beliebter Ursprung war auch der aus e<strong>in</strong>er römischen Adelsfamilie. So leiteten sich<br />

sowohl das Geschlecht der Henneberger als auch die der Stolberg, Zollern und Reuß zeitweise<br />

von der Adelsfamilie Colonna ab (Czech 2003: 53). Durch die Wiederentdeckung<br />

der »Germania« des Tacitus <strong>in</strong> der Zeit des Humanismus wurde der Ursprung e<strong>in</strong>er<br />

Familie von den Germanen immer häufiger, da die »Deutschen« nun die Germanen zu<br />

ihrer Urgeschichte zählten.<br />

Viel Wert wurde darauf gelegt, Tapferkeit, Frömmigkeit und die frühe hohe Stellung<br />

der Ahnen zu betonen. Damit wollte man zeigen, dass die eigene Familie ihren Platz <strong>in</strong><br />

der Gesellschaft verdient habe oder dass sie sogar e<strong>in</strong>en höheren Platz verdient hätte.<br />

Hatte e<strong>in</strong>e Familie wichtige »Vorfahren« gefunden, verwies sie auf diese mit Hilfe von<br />

Wappen, Münzen, Ahnenporträts, Gemälden oder Inschriften (Czech 2003: 118).<br />

Auch Zünfte hatten ihre Ursprungslegenden. Auffällig ist bei diesen allerd<strong>in</strong>gs, dass<br />

solche Legenden nur <strong>in</strong> Städten auftraten, <strong>in</strong> denen der gesellschaftliche Rang der Zünfte<br />

eher niedrig war. So hatten die Zünfte <strong>in</strong> Frankfurt und Nürnberg Geschichten über<br />

die Anfänge ihrer Handwerke, die Zünfte aus Köln und Straßburg h<strong>in</strong>gegen nicht.<br />

Patrick Schmidt erklärt dies damit, dass die Ursprungslegenden als »positive Identifikationsmöglichkeiten«<br />

halfen, das Selbstbild e<strong>in</strong>er Zunft und ihrer Mitglieder sowie<br />

ihr Geme<strong>in</strong>schaftsgefühl zu stärken. In Köln und Straßburg sei dies nicht notwendig<br />

gewesen, da die Stellung der Zünfte <strong>in</strong> diesen Städten höher war und die Zünfte politisch<br />

mehr Mitspracherecht besaßen als die Zünfte <strong>in</strong> Frankfurt und Nürnberg und somit<br />

auch ohne Ursprungslegenden e<strong>in</strong> hohes Selbstbild besaßen (Schmidt 2007: 131).<br />

An der Thematik der Ursprungslegenden lässt sich erkennen, dass Menschen der Frühen<br />

Neuzeit Vergangenes als e<strong>in</strong> Mittel der Selbstdarstellung nutzten. So kann man sich<br />

auf die historische Wirklichkeit der Ursprungslegenden zwar nicht verlassen, aber sie bieten<br />

»hervorragende Zeugnisse bei der Suche nach vergangenen Vorstellungshorizonten<br />

und Denkweisen« (Hecht 2006: 2).<br />

5.9 Invented traditions<br />

5.9.1 Europa um 1871<br />

Durch die Entstehung von Nationen änderte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

die Lage <strong>in</strong> Europa grundsätzlich. Mit dem Prozess der Nationsbildung g<strong>in</strong>g häufig<br />

e<strong>in</strong>e Demokratisierung e<strong>in</strong>her, die die Legitimierung der Staaten und ihrer Herrschaftsstrukturen<br />

herausforderte.<br />

105


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

5.9.2 »Invented traditions«<br />

Nach Eric Hobsbawm s<strong>in</strong>d all diejenigen Mythen, Riten und Denkmäler »<strong>in</strong>vented<br />

traditions«, welche Institutionen legitimieren und e<strong>in</strong>en Status von Autorität schaffen,<br />

<strong>in</strong>dem die Vergangenheit so verwertet wird, dass sie die gegenwärtigen politischen<br />

Machtstrukturen absichert. Gerade <strong>in</strong> Zeiten sozialer Umbrüche sei e<strong>in</strong>e Anpassung der<br />

gesellschaftsspezifischen Traditionen und Bräuche notwendig, weil »<strong>in</strong>vented traditions«<br />

den Menschen helfen würden, sich mit ihrem Land zu identifizieren. Am Beispiel Frankreichs<br />

zeigt Hobsbawm drei Merkmale erfundener Traditionen auf und erläutert deren<br />

Bedeutung: 1. öffentliche Bildung als Äquivalent zur Kirche — man brauchte Bildung mit<br />

revolutionärem und liberalem Inhalt — , 2. öffentliche Zeremonien wie der französische<br />

Nationalfeiertag, da diese Glanz und Macht ausstrahlten, und 3. sichtbare Monumente,<br />

die Patriotismus ausstrahlen sollten (Hobsbawm 1999: 270–272). In Deutschland wollte<br />

(vor allem) Wilhelm II. erreichen, dass die Menschen durch »<strong>in</strong>vented traditions« e<strong>in</strong>e<br />

Verb<strong>in</strong>dung zwischen dem 1. und dem 2. Deutschen Kaiserreich herstellen würden und<br />

die Erfahrungen Preußens und des restlichen »Deutschlands« mite<strong>in</strong>ander verb<strong>in</strong>den<br />

konnten (Hobsbawm 1999: 276).<br />

5.9.3 E<strong>in</strong> besonderes Beispiel: das Hermannsdenkmal<br />

E<strong>in</strong>e besonders bekannte erfundene Tradition ist das Hermannsdenkmal im Teutoburger<br />

Wald, das an die Schlacht der Germanen gegen die Römer um 9 n. Chr. er<strong>in</strong>nern soll.<br />

Bei dieser besiegten die Germanen unter Arm<strong>in</strong>ius drei römische Legionen, die unter<br />

Varus losgezogen waren, um das römische Reich nach Osten h<strong>in</strong> auszudehnen. Arm<strong>in</strong>ius<br />

überfiel die Römer im Teutoburger Wald aus e<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>terhalt und besiegte sie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er dreitägigen Schlacht. Arm<strong>in</strong>ius, später Hermann genannt, wurde vor allem im<br />

19. Jahrhundert für viele Menschen zum »ersten Deutschen« und zu e<strong>in</strong>em Mythos,<br />

der dazu auffordern sollte, Freiheit zu gew<strong>in</strong>nen, E<strong>in</strong>igkeit und Geschlossenheit zu<br />

erreichen und e<strong>in</strong> stolzes Selbstbewusstse<strong>in</strong> zu bekunden (Münkler 2009: 166–167).<br />

Nach dem Erfolg bei der Völkerschlacht 1813 wurde der Hermann-Mythos sogar zu<br />

e<strong>in</strong>em Nationalmythos stilisiert, doch fehlte dafür e<strong>in</strong> großes Denkmal, welches später<br />

im Teutoburger Wald errichtet und 1875 e<strong>in</strong>geweiht wurde (Münkler 2009: 173). Bei<br />

dessen E<strong>in</strong>weihung wurde Arm<strong>in</strong>ius mit Wilhelm I. verglichen, denn Arm<strong>in</strong>ius habe die<br />

Deutsche E<strong>in</strong>igung begonnen und Wilhelm diese vollendet (Münkler 2009: 175).<br />

Letztendlich halfen die »<strong>in</strong>vented traditions« den Menschen bei der Verarbeitung<br />

aktueller Ereignisse, da sie, obwohl sie historische Fiktionen s<strong>in</strong>d, suggerieren, dass<br />

etwas schon immer da gewesen sei.<br />

5.10 Damnatio memoriae<br />

Viele Philosophen und Wissenschaftler, von Platon über Locke bis Assmann, beschäftigte<br />

die Frage, ob man eher gedenken oder vergessen sollte. Ausgehend von dieser Frage<br />

setzte sich <strong>in</strong> der Antike e<strong>in</strong> Verfahren durch, womit e<strong>in</strong> gezieltes und organisiertes<br />

Vergessen von bestimmten Personen im öffentlichen Raum gewährleistet werden sollte.<br />

106


5.10 Damnatio memoriae<br />

Abbildung 5.2: Foto des Hermannsdenkmals im Teutoburger Wald von 2007. Quelle: Wikipedia<br />

[48].<br />

Dieses Verfahren mit dem (Forschungs-)Namen damnatio memoriae wurde vor allem<br />

im alten Rom angewandt, um die Er<strong>in</strong>nerung an unbeliebte verstorbene Kaiser für<br />

alle Zeiten zu vernichten. Hierzu wurden auf radikale Weise die Zeugnisse se<strong>in</strong>er<br />

Existenz und se<strong>in</strong>er Macht (z. B. Bilder, Statuen oder Münzen) zerstört. Diese gründliche<br />

Beseitigung der Identität sollte die politische Unzufriedenheit des Volkes ausdrücken<br />

und wurde als e<strong>in</strong>e der schlimmsten Strafen angesehen. Doch nicht nur im alten Rom<br />

fielen berühmte Persönlichkeiten wie Kaiser Caligula, Kaiser Maximian und Kaiser Nero<br />

(Flower 2006: 199 f.) e<strong>in</strong>er damnatio memoriae zum Opfer. Auch <strong>in</strong> Ägypten wurden auf<br />

ähnlich radikale Weise Statuen von Pharaonen – wie Echnaton oder Hatschepsut – nach<br />

ihrem Tod zerstört und ihre Namen aus Inschriften getilgt.<br />

E<strong>in</strong> ähnliches Verfahren wurde <strong>in</strong> der mittelalterlichen Kirche angewandt. Teilungen<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Kirche führten zu Spannungen und Konflikten zwischen den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Parteien, da beide Gruppen e<strong>in</strong>en alle<strong>in</strong>igen Anspruch auf das Papstamt behaupteten.<br />

Dieses R<strong>in</strong>gen zwischen dem Papst und dem sogenannten Gegenpapst endete oft <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em »manipuliertem Vergessen« des sieglosen Anwärters. Klare Abweichungen zur<br />

antiken damnatio memoriae lassen sich jedoch <strong>in</strong> der Intention entdecken. Im Mittelalter<br />

sollte nicht die komplette Er<strong>in</strong>nerung an die betroffene Person vernichtet, sondern die<br />

Qualität der Er<strong>in</strong>nerung bee<strong>in</strong>flusst werden. Dies wurde erreicht, <strong>in</strong>dem man gezielt nur<br />

bestimmte Er<strong>in</strong>nerungen <strong>in</strong>s Gedächtnis der Menschen zu rufen versuchte (Sprenger<br />

2009: 40 f.). Des Weiteren konnte man im Mittelalter e<strong>in</strong>e »manipulierte Er<strong>in</strong>nerung«<br />

nicht nur wie <strong>in</strong> der Antike nach dem Tod des Betroffenen, sondern auch vor dem Tod<br />

beobachten (Sprenger 2009: 37 f.).<br />

107


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

Auch fast 500 Jahre später, <strong>in</strong> der stal<strong>in</strong>istischen Sowjetunion der Neuzeit, wurde<br />

— beispielsweise durch das Retuschieren von Bildern — gezielt das Bild Stal<strong>in</strong>s zu<br />

se<strong>in</strong>en Gunsten verfälscht, um so se<strong>in</strong>e Herrschaft zu sichern. Der Machthaber ließ<br />

ihm unangenehme Personen aus Bildern entfernen, um sie auch aus den Köpfen der<br />

sowjetischen Bevölkerung verschw<strong>in</strong>den zu lassen (K<strong>in</strong>g 1997: 68).<br />

Anzeichen, dass Formen von damnatio memoriae auch <strong>in</strong> der Gegenwart angewandt<br />

werden, zeigt das Beispiel Mubarak. In Ägypten wurde nach dem Sturz des Präsidenten<br />

se<strong>in</strong> Name aus Büchern und Straßennamen entfernt, um die Er<strong>in</strong>nerung an Mubarak<br />

auszulöschen (Bond <strong>2011</strong>). Resümierend lässt sich sagen, dass die damnatio memoriae der<br />

Antike, wenn auch <strong>in</strong> veränderter Form, die Epochen überdauert und die Geschichte<br />

geprägt hat und vermutlich auch weiterh<strong>in</strong> prägen wird.<br />

5.11 Präsentation von Geschichte <strong>in</strong> Museen<br />

Museen und Ausstellungen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Institution mit großer Macht und großem E<strong>in</strong>fluss!<br />

Sie können nicht nur das Interesse der Bevölkerung an e<strong>in</strong>em Thema wecken – wie<br />

etwa die Stauferausstellung <strong>in</strong> Stuttgart 1977 verdeutlicht – , sondern auch e<strong>in</strong> kritisches<br />

Schlaglicht auf Ereignisse werfen und dadurch helfen, diese aufzuarbeiten, wie etwa <strong>in</strong><br />

der sogenannte Wehrmachtsausstellung 1995 (Assmann 2004: 137–138, 141).<br />

Diese Macht beruht auf dem Vertrauen, das die Bevölkerung ihrem »Museumstempel«<br />

entgegenbr<strong>in</strong>gt und dessen Wahrheiten sie meist nicht anzweifelt (He<strong>in</strong>emann <strong>2011</strong>:<br />

214). Die Glaubwürdigkeit von Museen entsteht nicht nur durch das Vertrauen der<br />

Besucher auf Expertenwissen und die »Aura« von Museumsgebäuden und Exponaten,<br />

sondern sie wird auch aktiv erzeugt, nämlich durch die Inszenierung der Geschichte<br />

auf visueller, auditiver, <strong>in</strong>teraktiver und emotionaler Ebene (He<strong>in</strong>emann <strong>2011</strong>: 214–215).<br />

Auch die Auswahl der Exponate und wie diese angeordnet werden sollen, die sogenannte<br />

»Re-Kontextualisierung«, spielt e<strong>in</strong>e wichtige Rolle (Assmann 2007: 152).<br />

Man vergisst leicht, dass das Museum neben der »exponierenden« auch e<strong>in</strong>e »<strong>in</strong>terpretierende<br />

Beziehung zur Vergangenheit« hat und deshalb nie alle Perspektiven wertfrei<br />

präsentiert werden können. Es wird also durch bewusste Inszenierung e<strong>in</strong>e Geschichte<br />

konstruiert, die nie völlig allgeme<strong>in</strong>gültige Wahrheit se<strong>in</strong> kann (He<strong>in</strong>emann <strong>2011</strong>: 213–<br />

216, 236).<br />

E<strong>in</strong> Beispiel für verschiedene Auslegungen von Geschichte bietet e<strong>in</strong> Vergleich von<br />

Museen <strong>in</strong> Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Während <strong>in</strong> Deutschland der<br />

zweite Weltkrieg vor allem aus der Perspektive der Opfer präsentiert wird, zeigt man <strong>in</strong><br />

Großbritannien die Perspektive der »Befreier«. Die Geschichte der Opfer, vom Holocaust<br />

abgesehen, wird fast völlig verschwiegen (Thiemeyer 2010: 463, 473 f.).<br />

E<strong>in</strong> wichtiges Mittel der Inszenierung ist die Emotionalisierung, die durch die Nutzung<br />

kultureller Codes oder Wertungen den Besucher mittels der Gefühlsebene völlig für<br />

e<strong>in</strong>e Sichtweise e<strong>in</strong>nehmen kann (He<strong>in</strong>emann <strong>2011</strong>: 215 f., 234 ff.). Als Beispiel hierfür<br />

kann das Museum im Pawiak <strong>in</strong> Warschau gelten, das stark emotional e<strong>in</strong>e »nationalmartyrologische«<br />

(He<strong>in</strong>emann <strong>2011</strong>: 236) Deutung der Besatzung Polens während des<br />

108


5.12 Guido Knopp und Hollywood<br />

2. Weltkrieges durch die Deutschen bietet, <strong>in</strong>dem die Opfer zu Helden stilisiert werden,<br />

die stellvertretend für alle Polen stehen sollen. Hier wird durch die Beleuchtung für<br />

e<strong>in</strong>e düstere Stimmung gesorgt und Opfer wie der 1982 heiliggesprochene Maximilian<br />

Kolbe auf überlebensgroßen Glaswänden als Vorbilder und Repräsentanten vorgestellt<br />

(He<strong>in</strong>emann <strong>2011</strong>: 218–226).<br />

Auch die Politik hat die Macht des Museums erkannt und nutzt diese für die Geschichtspolitik,<br />

wie das Beispiel der durchweg negativen Darstellung der DDR zeigen<br />

mag (Mittler 2007: 14–17). Aufgrund der starken Subjektivität des sche<strong>in</strong>bar so objektiven<br />

Museums ist es dem unwissenden Besucher kaum möglich, sich dieser subjektiven<br />

Darstellung zu entziehen (He<strong>in</strong>emann <strong>2011</strong>: 235 f.).<br />

5.12 Guido Knopp und Hollywood – Geschichte im Spielfilm und der<br />

historischen Dokumentation<br />

Geschichte ist <strong>in</strong> Film und Fernsehen ke<strong>in</strong>e Seltenheit mehr. Mit dem Versprechen,<br />

Unterhaltung und Wissenschaft zu vere<strong>in</strong>en und Geschichte zum Leben zu erwecken,<br />

sprechen die Macher e<strong>in</strong> breites Publikum an. Viele Historiker dagegen kritisieren den<br />

Anspruch auf Authentizität, mit dem der E<strong>in</strong>druck erweckt wird, es handele sich um<br />

wissenschaftliche Werke. Besonders viel Aufmerksamkeit erhielten <strong>in</strong> den letzten Jahren<br />

drei Beispiele, anhand derer der Konflikt verdeutlicht werden soll.<br />

5.12.1 Guido Knopps »historische Dokumentationen«<br />

Guido Knopp machte sich seit Mitte der 90er Jahre mit Geschichtsdokumentationen<br />

im ZDF e<strong>in</strong>en Namen. Ihm gelang es mit Hilfe von zahlreichen filmischen Neuerungen,<br />

die historische Dokumentation im Abendprogramm des deutschen Fernsehens zu etablieren<br />

und e<strong>in</strong>e große Zuschauerschaft zu locken. Se<strong>in</strong> Stil, geprägt von häufigen<br />

Bildwechseln, dramatischer Musik und nachgespielten historischen Szenen, wird auch<br />

als »Infota<strong>in</strong>ment« bezeichnet (Kanste<strong>in</strong>er 2003: 642). Von Historikern wurden <strong>in</strong>sbesondere<br />

se<strong>in</strong>e Dokumentationen über die Zeit des Nationalsozialismus kritisiert, da er die<br />

Zuschauer <strong>in</strong> die Position der Augenzeugen versetze. Dadurch sei e<strong>in</strong>e Betrachtung mit<br />

Distanz unmöglich, es werde sogar e<strong>in</strong> »deutsches Wir-Gefühl« vermittelt (Kanste<strong>in</strong>er<br />

2003: 634).<br />

5.12.2 Der Untergang<br />

»Der Untergang« (2004) ist e<strong>in</strong> Spielfilm über die letzten Tage des 2. Weltkrieges im<br />

Berl<strong>in</strong>er Führerbunker. Die Filmmacher wollten e<strong>in</strong> authentisches Bild der damaligen<br />

Zeit und der verantwortlichen Persönlichkeiten entwerfen, was jedoch viele Historiker<br />

kritisierten. Nach Michael Wildt handelt es sich um e<strong>in</strong>e »bewusste Täuschung« des<br />

Zuschauers, da Authentizität <strong>in</strong> der Schauspielerei unmöglich sei (Wildt 2008: 77).<br />

109


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

5.12.3 Das Leben der Anderen<br />

Der deutsche Spielfilm »Das Leben der Anderen« (2006) von Florian Henckel von<br />

Donnersmarck befasst sich mit der Überwachung durch die Staatssicherheit <strong>in</strong> der<br />

DDR. Es handelt sich um e<strong>in</strong>e frei erfundene Geschichte, die jedoch <strong>in</strong> den historischen<br />

H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>gebettet wird. Auch dieser Film verspricht Authentizität, was — ebenso<br />

wie e<strong>in</strong>ige »historische Fehler« — von Historikern kritisiert wird. Noch dazu handele es<br />

sich um e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Darstellung der DDR, die neben dem Künstlerpaar nur Tristesse<br />

und Menschenleere zeige (Seegers 2008: 25).<br />

5.12.4 Geschichte <strong>in</strong> Film und Fernsehen: Gefahr oder Gew<strong>in</strong>n<br />

Durch die Kritik an den genannten Beispielen wird deutlich, dass historische Filme und<br />

Dokumentationen häufig wegen »historischer Fehler« und e<strong>in</strong>seitiger, subjektiver Darstellungen<br />

kritisiert werden. Dem Zuschauer wird e<strong>in</strong> Bild der Vergangenheit vermittelt,<br />

das stark von den Machern der Filme abhängt. Andererseits h<strong>in</strong>terlassen Filme e<strong>in</strong>en<br />

deutlich stärkeren E<strong>in</strong>druck als historische Fakten. Die Zuschauer werden emotional<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Thema e<strong>in</strong>geführt, was auch zum Verständnis der dargestellten Zeit und der<br />

Handlungsweise der Personen beitragen kann. Insofern s<strong>in</strong>d historische Dokumentationen<br />

und Filme zwar stets mit Vorsicht zu genießen, sie können aber Projektions- und<br />

Diskussionsfläche für Geschichte se<strong>in</strong>, was sie zu e<strong>in</strong>em wertvollen Zeitdokument sowohl<br />

der dargestellten als auch der heutigen Zeit macht. Lu Seegers bezeichnet deshalb<br />

»Er<strong>in</strong>nerungsfilme« als »Medien des kollektiven Gedächtnisses, die Vorstellungen von<br />

der Vergangenheit zu e<strong>in</strong>em bestimmten Zeitpunkt aufnehmen und zugleich prägen«<br />

(Seegers 2008: 22).<br />

5.13 Geschichte und Architektur<br />

Architektur ist e<strong>in</strong>e der relevantesten Verb<strong>in</strong>dungen der Vergangenheit mit der Gegenwart.<br />

H<strong>in</strong>sichtlich der Identität e<strong>in</strong>es Landes rücken für dessen Geschichte häufig<br />

wichtige Bauten <strong>in</strong> den Blickw<strong>in</strong>kel: für Deutschland beispielsweise der Reichstag <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>,<br />

der gesellschaftlich wie politisch e<strong>in</strong>e wichtige Position e<strong>in</strong>nimmt. Dieses Verhältnis<br />

e<strong>in</strong>er Gegenwart zur Vergangenheit ist <strong>in</strong> konstantem Wandel. E<strong>in</strong> derartiger Wandel ist<br />

durch die Rekonstruktionswelle stark bemerkbar. Befürworter der Rekonstruktion sehen<br />

die symbolische Bedeutung als wichtigstes Motiv des Bauwerks an. Somit bestünde nur<br />

wenig Gefahr am Verlust e<strong>in</strong>es materiellen Wertes. Weiterh<strong>in</strong> weisen sie auf die Möglichkeit<br />

der Reaktivierung bedeutender Kunst- und Kulturzeugnisse h<strong>in</strong> und betonen,<br />

dass Rekonstruktion architektonische Normalität sei (Nerd<strong>in</strong>ger 2010: 17). Die Gegner<br />

h<strong>in</strong>gegen verschreiben sich der Authentizität der Bausubstanz und verpflichten sich<br />

zur Erhaltung und Pflege nicht reproduzierbarer Geschichtszeugnisse. Der Zustand des<br />

Orig<strong>in</strong>als, zerstört oder <strong>in</strong>takt, stelle selbst e<strong>in</strong>e geschichtliche Quelle dar. Kritiker der<br />

Rekonstruktion argumentieren, dass Geschichte nicht auf die Identifizierung bestimmter<br />

Epochen reduziert werden darf. Geschichte umfasse immer mehr als das, was gerade <strong>in</strong>,<br />

politisch opportun und touristisch vermarktbar sei (Assmann 2007: 98 ff.).<br />

110


5.14 Der Umgang mit der kollektiven Schuld am Beispiel des Holocaust<br />

Abbildung 5.3: Dieser Anblick beherrscht bald wieder die Stadtmitte Berl<strong>in</strong>s. Foto des Stadtschlosses<br />

aus den 1920er Jahren. Quelle: Wikipedia [49].<br />

Berl<strong>in</strong> ist heute zum achten Mal die Hauptstadt e<strong>in</strong>es sich wandelnden politischen<br />

Geme<strong>in</strong>wesens. Jede Stadt, die sich auf konzentriertem Raum bef<strong>in</strong>det, erlebt im Laufe<br />

der Zeit wiederholte Umformung, Überschreibung und Sedimentierung nicht nur der<br />

Bauwerke, sondern auch der Geschichte. Es ist diese Schichtung von Geschichte, welche<br />

die Frage aufkommen lässt, welcher Zeitgeschichte Vorzug gegeben werden soll. Das<br />

Stadtschloss <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Beispiel e<strong>in</strong>es solchen Phänomens, bei dem die ältere<br />

Geschichte die neue Geschichte regelrecht verschluckt. Das alte Staatsratgebäude der<br />

DDR musste Platz machen für den Wiederaufbau des ehemals größten Barockbaus<br />

nördlich der Alpen. Das stärkste Argument für den Abriss des Palastes der Republik<br />

2008 war, dass dessen Standort e<strong>in</strong> Teil des historischen Stadtkerns Berl<strong>in</strong>s sei und dass<br />

dieser durch Rekonstruktion des Stadtschlosses als »Humboldt-Forum« wieder se<strong>in</strong>e<br />

alte Form e<strong>in</strong>nehmen solle.<br />

»Auf historischem Grund ist jede Baumaßnahme e<strong>in</strong> Zerstörungsakt« (Assmann<br />

2007: 127). Diese Aussage trifft der deutsche Philosoph Hermann Lübbe und greift<br />

damit das eigentliche Problem von Geschichte und Architektur auf, nämlich dass es<br />

unmöglich ist, jemals etwas Neues zu errichten, ohne <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise <strong>in</strong> das frühere<br />

Ersche<strong>in</strong>ungsbild e<strong>in</strong>zugreifen und dieses damit permanent zu verändern. Die Frage<br />

ist nur, welche Geschichte wir als erhaltenswert sehen und ob dies die Perspektive der<br />

Zukunft bee<strong>in</strong>trächtigt.<br />

5.14 Der Umgang mit der kollektiven Schuld am Beispiel des Holocaust<br />

Seit 70 Jahren prägen der Holocaust und der Umgang mit diesem die deutsche Identität.<br />

Besonders heute, da die Erfahrungsgeme<strong>in</strong>schaft der Zeitzeugen ausstirbt, führt das<br />

Er<strong>in</strong>nern an den Holocaust zu Kontroversen.<br />

Obwohl 1946 <strong>in</strong> Nürnberg die Hauptkriegsverbrecher verurteilt wurden, leugnete<br />

die Bevölkerung ebenso wie Parteien und Kirche jegliche Beteiligung an deren Taten.<br />

111


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

In dieser Phase des Eskapismus versuchten die Deutschen durch Geschichtslosigkeit<br />

und Verdrängung e<strong>in</strong>en Neubeg<strong>in</strong>n. Erst durch den E<strong>in</strong>satzgruppenprozess und die<br />

antisemitische Welle um 1960 erhielt das Thema neue Brisanz. Das Schweigen der<br />

jungen BRD sowie die Kont<strong>in</strong>uität von Hitlers Eliten nach 1945 gerieten <strong>in</strong> die Kritik der<br />

westlichen Bündnispartner und wurden trotz allgeme<strong>in</strong>er Skepsis <strong>in</strong> Westdeutschland<br />

erstmals öffentlich thematisiert.<br />

Die Rekonstruktion der Vergangenheit setzte mit dem Auschwitz-Prozess (1962–1965)<br />

e<strong>in</strong>, der die Praktiken der Massenvernichtung freilegte. Trotzdem verlangte e<strong>in</strong> Großteil<br />

der Bevölkerung, e<strong>in</strong>en Schlussstrich zu setzen. Indem die Regierung sich diesem<br />

Wunsch nach e<strong>in</strong>er Generalamnestie nicht entgegenstellte, sondern Doppelmoral bei<br />

der Verfolgung der Verbrechen ihrer Mitglieder walten ließ, fürchtete der l<strong>in</strong>ke Flügel<br />

der Studentenbewegung die Wiederkehr e<strong>in</strong>es tendenziell faschistischen Staates. Gerade<br />

durch diese generationelle Abgrenzung der 68er wurden erstmals auch <strong>in</strong>dividuelle<br />

Verbrechen beleuchtet (Siegfried 2000: 85–105; Görtemaker 1999: 199–206, 207).<br />

Die Geschichtswissenschaft, die den Holocaust mehrheitlich als zentral gesteuerte,<br />

eigenständig funktionierende Vernichtungspolitik sieht, regte die Diskussion durch<br />

Veröffentlichungen aus dem Ausland an. Die Intentionalisten, die an e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>maligen<br />

Führerbefehl zur Judenvernichtung glaubten, und die Strukturalisten, die den Holocaust<br />

als e<strong>in</strong>en auf mehrere Interessengruppen verteilten dynamischen Prozess sahen, radikalisierten<br />

die Debatte um die Schuldfrage. Auch neue Methoden und alternative Ideen<br />

weiteten die Tätergruppe aus: Die Wehrmachtsausstellung (1995–2001) legte erstmals<br />

die Verb<strong>in</strong>dung des Holocaust zum Militär offen – der Gruppe, mit der sich die meisten<br />

deutschen Familien im Krieg identifiziert hatten (Herbert 2001: 5–12).<br />

Aus psychologischer Sicht wird der Holocaust aus Täter-, Opfer- und Unbeteiligtenperspektive<br />

betrachtet. Die (re<strong>in</strong> deutsche) Täterperspektive wirft e<strong>in</strong> Licht auf die<br />

akribische Bürokratie des Dritten Reiches, während die Opferperspektive den Holocaust<br />

als subjektive psychisch-physische Erfahrung sieht. Es gibt sowohl Täter als auch Opfer,<br />

die ihre Er<strong>in</strong>nerungen verdrängen müssen (<strong>in</strong>dividueller Eskapismus), um das Überleben<br />

psychisch ertragen zu können (Bar-On 2005: 38–42; Bartov 2003: 99–105).<br />

Insgesamt etablierte die angesprochene Debatte Deutschland zwar als Land der vielen<br />

Täter, doch war diese Konkretisierung der <strong>in</strong>dividuellen Schuld erst <strong>in</strong> der Folgegeneration<br />

möglich. Diese steht jedoch nicht mehr <strong>in</strong> unmittelbarer Beziehung zum Holocaust,<br />

weshalb e<strong>in</strong> gesellschaftliches Er<strong>in</strong>nern unerlässlich ist (Bartov 2003: 112 ff.).<br />

5.15 Verordnete Er<strong>in</strong>nerungen und Verdrängen <strong>in</strong> totalitären Diktaturen<br />

am Beispiel der Stadt Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grad<br />

Er<strong>in</strong>nerung ist sowohl für e<strong>in</strong>e Gesellschaft als auch für deren Machthaber von großer<br />

Bedeutung. Nachdem der Kommandant der »Festung Königsberg«, Otto Lasch, am<br />

07. 04. 1945 kapitulierte, nahmen die Machthaber der Sowjetunion die Stadt e<strong>in</strong>: Daraufh<strong>in</strong><br />

erfolgte e<strong>in</strong> Bevölkerungsaustausch, der die Ausweisung der Deutschen sowie die<br />

Neubesiedlung durch die russische Bevölkerung zur Folge hatte (Hoppe 2000: 299).<br />

112


5.16 Versöhnen durch Vergessen<br />

Durch die Darstellung des alten Königsbergs als Paradebeispiel für fe<strong>in</strong>dliche, privatkapitalistische<br />

Städte wurde die Umstrukturierung und Umbenennung <strong>in</strong> Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grad<br />

legitimiert. Darüber h<strong>in</strong>aus sollte die »Tabuisierung der deutschen Vorkriegsgeschichte«<br />

dem Ziel der E<strong>in</strong>gliederung Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grads <strong>in</strong> die Sowjetunion dienen (Matthes 2001:<br />

1350). Dabei wurde versucht, diese aus dem kollektiven Gedächtnis der E<strong>in</strong>wohner zu<br />

verdrängen, und e<strong>in</strong>e neue Vergangenheit, vor allem aber e<strong>in</strong>e ruhmreiche Zukunft<br />

zu kreieren. Mit Hilfe der feststehenden Ideologie sollte die Weltanschauung der Heranwachsenden<br />

geformt werden. Die Durchsetzung dieser »verordneten E<strong>in</strong>stellung«<br />

erwies sich allerd<strong>in</strong>gs als problematisch, da beispielsweise noch verbliebene Bauten <strong>in</strong><br />

der Stadt an e<strong>in</strong>e bessere Zeit er<strong>in</strong>nerten (Hoppe 2000: 300–303).<br />

Die Bevölkerung reflektierte die durch die Regierung verordnete Bewertung und es<br />

begann e<strong>in</strong> Prozess der Neubeurteilung der deutschen Vergangenheit. E<strong>in</strong> Spiegel dieser<br />

Entwicklung ist die Diskussion über den Erhalt oder die Sprengung des alten Königsberger<br />

Schlosses als zentraler Er<strong>in</strong>nerungsort der Stadt. Der sowjetische Parteiapparat<br />

hatte schon früh hervorgehoben, dass die Bewahrung des Schlosses im Widerspruch<br />

zur kommunistischen Ideologie stand. So erkannten die Kommunisten beispielsweise<br />

im Schloss e<strong>in</strong>en Ausdruck reaktionärer Verhältnisse. In der Öffentlichkeit nahm allerd<strong>in</strong>gs<br />

langsam die Überzeugung zu, dass der Erhalt des Schlosses als Sehenswürdigkeit<br />

und Verb<strong>in</strong>dungsstück der deutsch-russischen Vergangenheit erhalten bleiben sollte.<br />

Trotz schlagkräftiger Plädoyers für den Erhalt des Schlosses wurde dieses schließlich<br />

gesprengt, um den Führungsanspruch der Partei zu unterstreichen (Hoppe 2000: 305 f.).<br />

An der Stelle des Schlosses begann der Neubau e<strong>in</strong>es »Haus der Sowjets«, das die Formensprache<br />

der sowjetischen Zentralregierung aufnahm und <strong>in</strong> die Prov<strong>in</strong>z weitertragen<br />

sollte, allerd<strong>in</strong>gs nie abgeschlossen wurde (Sezneva 2003: 71).<br />

Dieser Ausgang der Diskussion erwies sich als äußerlicher Sieg der KPdSU, da sich<br />

entgegen der Zielsetzung bei den Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>gradern e<strong>in</strong>e regionale Identität entwickelte.<br />

Die Bevölkerung stellte vermehrt die Besonderheiten, die ihre Region aufgrund der<br />

deutschen Vergangenheit aufzuweisen hatte, heraus. Gerade im heutigen russischen<br />

Zentralstaat offenbart sich dieser Lokalpatriotismus <strong>in</strong> Schlagzeilen wie »Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grad<br />

will mehr Königsberg« oder <strong>in</strong> den Plänen, das gesprengte Schloss zu rekonstruieren<br />

(Guratzsch: 2010).<br />

5.16 Versöhnen durch Vergessen<br />

Nach e<strong>in</strong>em (Bürger-)Krieg vergessen beide Seiten, was geschehen ist, um den Frieden<br />

und das geme<strong>in</strong>same Zusammenleben zu sichern. E<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an das Schlimme<br />

dagegen erzeugt Rache, diese wiederum Wiederrache (Meier 2010: 13).<br />

Das »Vergessen« als Lösung von Konflikten setzt sich von den Indianern bis heute<br />

fort: W<strong>in</strong>ston Churchill wünschte 1946 den Frieden zwischen den ehemals verfe<strong>in</strong>deten<br />

Nationen durch e<strong>in</strong>en »segensreichen Akt des Vergessens« zu vollziehen. In der Antike<br />

festigte sich dafür, ausgehend vom term<strong>in</strong>us technicus me mnesikake<strong>in</strong> (»Gedenke nicht<br />

das Schlimme«), der Begriff der »Amnestie« (»Nicht-Er<strong>in</strong>nern«) (Meier 2010: 18). B<strong>in</strong>-<br />

113


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

Abbildung 5.4: Als das aus deutscher Zeit stammende Königstor 2005 renoviert wurde, kehrten<br />

die Statuen preußischer Herrscher nach Jahrzehnten wieder an ihren alten Platz zurück – e<strong>in</strong> Zeichen,<br />

dass sich die russische Stadtbevölkerung <strong>in</strong>zwischen der Er<strong>in</strong>nerungsspuren der fremden<br />

Vergangenheit annimmt (Foto von 2009). Quelle: Wikipedia [50].<br />

dende Verträge, »nicht an Schlimmes zu er<strong>in</strong>nern«, wurden <strong>in</strong> Griechenland erstmals <strong>in</strong><br />

den Jahren zwischen 424–422 v. Chr. aufgezeichnet. Um den Frieden zu wahren, g<strong>in</strong>g<br />

man sogar so weit, Trauergesang zu verbieten, um übermäßige Emotionen auf zu engem<br />

Raum zu verh<strong>in</strong>dern.<br />

Die »Amnestie« stellt e<strong>in</strong>en Ausgleich zwischen Gerechtigkeit und Frieden her, <strong>in</strong>dem<br />

lediglich die Hauptverantwortlichen bestraft wurden. Das Gesamtwohl (e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>wesens)<br />

stand dabei über der <strong>in</strong>dividuellen Rache (Meier 2010: 21). Zu Besiegelung<br />

sprachen beide Parteien e<strong>in</strong>en Eid, der gegebenenfalls regelmäßig wiederholt wurde.<br />

E<strong>in</strong>ige Verbote sicherten dessen (konsequente) E<strong>in</strong>haltung.<br />

Ob es sich dabei tatsächlich um e<strong>in</strong> Vergessen handelt, ist umstritten, da die Methoden<br />

gegen Tyrannei und den Anlass des Vergessens weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung gehalten wurden.<br />

Auch fand e<strong>in</strong>e sogenannte »Dokimasie« (Prüfung von Personen auf Amtswürdigkeit)<br />

statt. Man kann also me mnesikake<strong>in</strong> als Tendenz bezeichnen; nötige Er<strong>in</strong>nerungen werden<br />

allerd<strong>in</strong>gs zugelassen und die Vergangenheit wird weiterh<strong>in</strong> kritisch betrachtet (Meier<br />

2010: 26).<br />

Auch <strong>in</strong> der Nachkriegszeit (1945) wurden die Geschehnisse zunächst verdrängt, aber<br />

durch das Ausmaß begann die nächste Generation (mithilfe von zeitlicher Distanz), sie<br />

zu verarbeiten (Meier 2010: 50).<br />

Nach der Wiedervere<strong>in</strong>igung 1989 kam e<strong>in</strong>e Amnestie nicht <strong>in</strong> Frage, denn zwischen<br />

der gestürzten Regierung und den Bürgerrechtlern bestand e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutig überwiegendes<br />

Machtverhältnis seitens der (friedlichen) Bürgerrechtler, es bestand somit ke<strong>in</strong>e<br />

Gefahr weiteren Blutvergießens. Die DDR war außerdem ke<strong>in</strong> »<strong>in</strong> sich geschlossenes<br />

Geme<strong>in</strong>wesen«, das stärker als jedes andere kommunistische Land an die BRD gebunden<br />

war (McAdams 2003: 3) und unter ständiger Beobachtung stand; e<strong>in</strong>e Selbstreflexion<br />

war kaum möglich. H<strong>in</strong>zu kam, dass die Stasi-Akten den Bürgerrechtlern versprochen<br />

worden waren und diese sie sofort veröffentlichten; von e<strong>in</strong>em »Vergessen« der soge-<br />

114


5.17 Literaturverzeichnis<br />

nannten Mitläufer konnte also ke<strong>in</strong>e Rede mehr se<strong>in</strong>. Laut Christian Meier handelt es<br />

sich immer um Präzedenzfälle, wobei man häufig zur Amnestie tendierte. Nötig zur<br />

Verarbeitung schlimmer Ereignisse ist se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach vor allem das Verstehen und<br />

Reflektieren der Geschehnisse. Dafür sei e<strong>in</strong>e klare Def<strong>in</strong>ition von Unrecht und Tugend<br />

erforderlich; meist benötige es mehrere Generationen, bis mithilfe der zeitlichen Distanz<br />

die Geschehnisse tatsächlich aufgearbeitet werden könnten.<br />

5.17 Literaturverzeichnis<br />

[1] Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der <strong>in</strong>dividuellen Erfahrung zur<br />

öffentlichen Inszenierung. München 2007.<br />

[2] Assmann, Jan: Körper und Schrift als Gedächtnisspeicher. In: Kakanien Revisited Nr. 4<br />

2006, 1–7.<br />

[3] Bar-On, Dan: Die Er<strong>in</strong>nerung an den Holocaust <strong>in</strong> Israel und Deutschland. In: Aus<br />

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2005.<br />

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Deutsche Er<strong>in</strong>nerungsorte Band 1. München 2001, 9–24.<br />

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bis zur Gegenwart. Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1999, 199–217.<br />

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[12] Hecht, Michael: Die Erf<strong>in</strong>dung der Askanier. Dynastische Er<strong>in</strong>nerungsstiftung der Fürsten<br />

von Anhalt an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische<br />

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115


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

[13] He<strong>in</strong>emann, Monika: Emotionalisierungsstrategien <strong>in</strong> historischen Ausstellungen am<br />

Beispiel ausgewählter Warschauer Museen. In: He<strong>in</strong>emann, Monika; Maische<strong>in</strong>, Hannah<br />

et al.: Medien zwischen Fiction-Mak<strong>in</strong>g und Realitätsanspruch & Konstruktionen<br />

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[14] Hobsbawm, Eric: Mass Produc<strong>in</strong>g Traditions: Europe 1870-1914. In: Hobsbawm, Eric;<br />

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[16] Hoppe, Bert: Die Last e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>dlichen Vergangenheit. Königsberg als Er<strong>in</strong>nerungsort im<br />

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[17] Kanste<strong>in</strong>er, Wulf: Radikalisierung des deutschen Gedächtnisses im Zeitalter se<strong>in</strong>er kommerziellen<br />

Reproduktion. Hitler und das »Dritte Reich« <strong>in</strong> den Fernsehdokumentationen<br />

von Guido Knopp. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Nr. 51 2003, 626–648.<br />

[18] K<strong>in</strong>g, David: Stal<strong>in</strong>s Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen <strong>in</strong> der Sowjetunion.<br />

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[19] Kuithan, Rolf: Das Totengedenken für Liutold von Achalm. In: Geme<strong>in</strong>hardt, He<strong>in</strong>z-<br />

Alfred; Lorenz, Sönke: Liutold von Achalm (†1098). Graf und Klostergründer. Reutl<strong>in</strong>gen<br />

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[20] Matthes, Eckhard: Verbotene Er<strong>in</strong>nerung. Die Wiederentdeckung der ostpreußischen<br />

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[21] McAdams, A. James: Transitional justice after 1989: Is Germany so different?. In:<br />

German Historical Institute Bullet<strong>in</strong> Nr. 33 2003, 53–64.<br />

[22] Meier, Christian: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Er<strong>in</strong>nerns - Vom<br />

öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. Bonn 2010.<br />

[23] Meyer, Katr<strong>in</strong>: Art. Historie. In: Ottmann, Henn<strong>in</strong>g: Nietzsche Handbuch. Leben, Werk,<br />

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[24] Mittler, Günther R.: Neue Museen & neue Geschichte?. In: Aus Politik und Zeitgeschichte<br />

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[25] Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen. Berl<strong>in</strong> 2009.<br />

[26] Nerd<strong>in</strong>ger, W<strong>in</strong>fried: Geschichte der Rekonstruktion. München 2010.<br />

[27] Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Nietzsche,<br />

Friedrich: Werke <strong>in</strong> drei Bänden. München 1954, Band 1, 209–287.<br />

116


5.17 Literaturverzeichnis<br />

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[29] Oexle, Otto Gerhard: Memoria <strong>in</strong> der Gesellschaft und <strong>in</strong> der Kultur des Mittelalters. In:<br />

He<strong>in</strong>zle, Joachim: Modernes Mittelalter. Neue Bilder e<strong>in</strong>er populären Epoche. Frankfurt<br />

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[30] Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Hamburg 2008.<br />

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[32] Schmidt, Patrick: Die symbolische Konstituierung sozialer Ordnung <strong>in</strong> den Er<strong>in</strong>nerungskulturen<br />

frühneuzeitlicher Zünfte. In: Carl, Horst; Schmidt, Patrick: Stadtgeme<strong>in</strong>de und<br />

Ständegesellschaft. Formen der Integration und Dist<strong>in</strong>ktion <strong>in</strong> der frühneuzeitlichen Stadt.<br />

Berl<strong>in</strong>/Münster 2007, 106–139.<br />

[33] Seegers, Lu: »Das Leben der anderen« und die »richtige« Er<strong>in</strong>nerung an die DDR.<br />

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[35] Siegfried, Detlef: Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich. Der Umgang mit der NS-<br />

Vergangenheit <strong>in</strong> den beiden deutschen Staaten 1958 bis 1969. In: Schildt, Axel; Siegfried,<br />

Detlef et al.: Moderne Zeiten. Die sechziger Jahre <strong>in</strong> den beiden deutschen Gesellschaften.<br />

München 2000, 77–113.<br />

[36] Sprenger, Kai-Michael: Damnatio memoriae oder damnatio <strong>in</strong> memoria? Überlegungen<br />

zum Umgang mit so genannten Gegenpäpsten als methodisches Problem der Papstgeschichtsschreibung.<br />

In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken<br />

Nr. 89 2009, 32–62.<br />

[37] Thiemeyer, Thomas: Zwischen Helden, Tätern und Opfern. Welchen S<strong>in</strong>n deutsche,<br />

französische und englische Museen heute <strong>in</strong> den beiden Weltkriegen sehen. In: Geschichte<br />

und Gesellschaft Nr. 36 2010, 462–491.<br />

[38] von Plato, Alexander: Zeitzeugen und die historische Zunft. In: BIOS Nr. 13 2000,<br />

5–29.<br />

[39] Welzer, Harald: Das Interview als Artefakt. In: BIOS Nr. 13 2000, 51–63.<br />

[40] Wetzel, Dietmar J.: Maurice Halbwachs (Klassiker der Wissenssoziologie 15). Konstanz<br />

2009.<br />

117


5 Gedenken oder Vergessen?<br />

[41] Wildt, Michael: “Der Untergang”. E<strong>in</strong> Film <strong>in</strong>szeniert sich als Quelle. In: Fischer,<br />

Thomas; Wirtz, Ra<strong>in</strong>er: Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen.<br />

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[42] http://www.welt.de/kultur/history/article10422903/Wie-Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grad-zum-neuen-<br />

Koenigsberg-werden-koennte.html<br />

Dankwart Guratzsch, Wie Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grad zum neuen Königsberg werden könnte. In: Die<br />

Welt vom 25. 10. 2010.<br />

[43] http://www.zeit.de/1998/42/Die_Geschichte_ist_ke<strong>in</strong>_Friedhof<br />

Paul Ricoeur im Gespräch mit Jörg Lau, Die Geschichte ist ke<strong>in</strong> Friedhof. In: Die Zeit<br />

vom 8. Oktober 1998.<br />

[44] http://www.zeit.de/2004/10/Steam_Punk/komplettansicht<br />

Peter Kümmel, E<strong>in</strong> Volk <strong>in</strong> der Zeitmasch<strong>in</strong>e, <strong>in</strong>: Die Zeit vom 26.02.2004.<br />

[45] http://www.nytimes.com/<strong>2011</strong>/05/15/op<strong>in</strong>ion/15bond.html?_r=2<br />

Sarah E. Bond, Eras<strong>in</strong>g the Face of History. In: New York Times, 14. Mai <strong>2011</strong>.<br />

[46] http://www.arte.tv/de/geschichte-gesellschaft/geschichte/Bild_20des_20Monats/<br />

Damnatio_20memoriae/1015862.html<br />

Tarek Chafik, D wie “Damnatio memoriae”. Wie Stal<strong>in</strong> die Er<strong>in</strong>nerung auslöschte, 30. 6.<br />

2009.<br />

[47] http://www.lfpr.lt/uploads/File/2001-8/Herbert.pdf<br />

Ulrich Herbert, Der Umgang mit dem »Holocaust« <strong>in</strong> der Bundesrepublik Deutschland.<br />

In: Lithuanian Foreign Policy Review 8 (2001).<br />

[48] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hermannsdenkmal_statue.jpg<br />

Hermannsdenkmal.<br />

[49] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berl<strong>in</strong>_Stadtschloss_1920er.jpg<br />

Berl<strong>in</strong>er Stadtschloss.<br />

[50] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Royal_gate_of_Koenigsberg.jpg<br />

Königstor Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grad.<br />

118


5.17 Literaturverzeichnis<br />

119


120


6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe<br />

6.1 Vorwort<br />

Björn Freter und Ricarda Gäbel<br />

Mit der Liebe hat sich das abendländische Denken seit jeher beschäftigt. So verstehen<br />

etwa Hesiod und Empedokles die Liebe als weltschöpfende Kraft. Platon begreift unter<br />

der sogar Liebe all das, was menschliches Tun überhaupt <strong>in</strong> Bewegung setzt, e<strong>in</strong> Begehren<br />

h<strong>in</strong> zum Schönen und Guten. Und die Theologie des Neuen Testamentes entsteht ganz<br />

aus der Annahme, <strong>in</strong> der Passion Christi habe sich die unbed<strong>in</strong>gte Liebe Gottes gegen<br />

se<strong>in</strong>e Geschöpfe erwiesen.<br />

Indes, es ist doch irritierend bei all diesen Ansätzen, sei es der e<strong>in</strong>es Hesiod, e<strong>in</strong>es Platon<br />

oder e<strong>in</strong>es Paulus, dass die Liebe immer erst im Rahmen e<strong>in</strong>er komplizierten Metaphysik<br />

bestimmt werden kann. Sollten wir die Liebe vielleicht erst verstehen können, sollten wir<br />

gar erst lieben können, nachdem wir vorsokratische Kosmologie oder platonische Dialoge<br />

oder das Neue Testament studiert haben? Müssen wir etwa das Denken über die Liebe und<br />

das Lieben vone<strong>in</strong>ander trennen? Geht es um e<strong>in</strong>e Liebe, wenn wir über sie nachdenken,<br />

und um e<strong>in</strong>e ganz andere Liebe, wenn wir sie leben? Wie konnte es eigentlich zu dieser<br />

Spannung zwischen gedachter und gelebter Liebe gekommen?<br />

Der E<strong>in</strong>druck dieser Spannung verstärkt sich noch, wirft man etwa e<strong>in</strong>en Blick <strong>in</strong><br />

die dramatische Literatur der Antike. Denn dort, <strong>in</strong> praxi, sche<strong>in</strong>en die existentiellen<br />

Probleme der Liebe viel unmittelbarer dargestellt – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise, wie sie mit Hilfe der<br />

antiken Philosophie und Theologie gar nicht beschrieben werden könnten.<br />

Der Kurs hat sich vor allem auf die Analyse der anthropologischen Fundamente<br />

konzentriert, also vor allem an den Prälim<strong>in</strong>arien der philosophischen Analyse der<br />

Liebe gearbeitet. So wird <strong>in</strong> den folgenden Texten auch vor allem diese grundlegende,<br />

anthropologische Arbeit dokumentiert.<br />

6.2 E<strong>in</strong> literarischer Versuch über die griechische Tragödie<br />

. . . wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Bl<strong>in</strong>dheit, und<br />

bewirken so auf unheilvolle Weise, daß das, was geschieht, mit vollem Recht zu<br />

geschehen sche<strong>in</strong>t, und so verwandelt sich tiefes Unglück <strong>in</strong> tiefste Schuld . . .<br />

— Velleius Paterculus<br />

Es kommt der schicksalhafte Tag, da werden die Größten unter den Sterblichen durch<br />

die Götter von ihrem Thron gestürzt, wie aus dem Nichts fällt das Unglück über sie here<strong>in</strong>.<br />

Mit Bl<strong>in</strong>dheit geschlagen treiben sie auf den Wellen der Hybris auf ihren Untergang<br />

zu, denn <strong>in</strong> den wirren Nebeln der Täuschung s<strong>in</strong>d die Schiffbrüchigen unfähig, das<br />

121


6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe<br />

Ruder des Schicksals herumzureißen, sodass sie ihre Augen vor dem unausweichlichen<br />

Sturz verschließen, womit sie ihn besiegeln. Geformt aus den mythischen Sagen der<br />

Alten, überdauern die unsterblich Gewordenen die Jahrtausende, ihr Unglück macht<br />

sie zu Göttern der Seele des Abendlandes. Der stolze König Ödipus, der aus Furcht<br />

und Liebe den Orakelspruch flieht, nimmt sich das Licht der Welt mit e<strong>in</strong>er Nadel der<br />

erhängten Gottlosen. Aus demselben Hause stammend, mit derselben Hybris geschlagen,<br />

wagt Antigone das Werk der Götter selbst anzufangen, als dieses schon vollbracht, aus<br />

Bruderliebe zieht sie sich und das Haus des Tyrannen <strong>in</strong>s Unglück, aus dem Leben gerissen<br />

durch die eigene Hand. Den beiden Herrschern, mit allem Leid der Welt beladen,<br />

widerfährt die sophokleische Gnade der E<strong>in</strong>sicht. Ach, wehe denen, die nicht besonnen<br />

s<strong>in</strong>d, ihr Wissen zu teilen, abzuwägen – ihr Handeln, ihr Fallen, wozu? Der Mensch, das<br />

leidende Wesen. Die mächtige, lodernde Zauber<strong>in</strong>, die verschmähte Liebende, die stolze<br />

Krieger<strong>in</strong> Medea. Sie, die unglücklichste aller Mütter, die ihre K<strong>in</strong>der der Ehre zur Rache<br />

opfert, welch Kampf tobt <strong>in</strong> ihrer Brust. Doch selbst jener treueste Diener der Re<strong>in</strong>heit,<br />

se<strong>in</strong> Leben Artemis geweiht, zu Tode geschleift liegt Hippolytos danieder. Er vergibt<br />

dir, oh Theseus. Gedenke de<strong>in</strong>er Geliebten, die Aphrodite im Neid mit jener Krankheit<br />

vergiftete, die die Seele <strong>in</strong> Flammen setzt. Welch große Frau, die stolze Phaidra. Ihr<br />

großen Helden, was wollt ihr uns sagen? Dem Schicksal sich fügen? Die Götter, me<strong>in</strong>t<br />

ihr, sie ehren im Leben? Das Herz vor den schwachen Gefühlen verschließen? Den Tod<br />

aus Scham der Schande vorziehen? Oh ihr Helden, wo ist eure gepriesene Weisheit<br />

geblieben? Konntet ihr nicht auf solcherlei Weisen eurem Schicksal entr<strong>in</strong>nen, als ihr<br />

noch unter der Sonne wandeltet?<br />

6.3 Sophokles’ König Ödipus: Wie Ödipus lernt zu sehen, als er nicht<br />

mehr sieht<br />

In diesem Aufsatz soll sowohl die Frage nach der Schuld des Ödipus als auch die<br />

Relevanz dieser Frage analysiert werden. Des Weiteren wird e<strong>in</strong> Blick auf die Verfassung<br />

und Reaktion des Protagonisten nach Aufdeckung se<strong>in</strong>es Schicksals geworfen und<br />

versucht, nachzuvollziehen, welches pädagogische Ziel Sophokles womöglich verfolgt<br />

haben könnte.<br />

König Ödipus gehört zweifellos zu den bedeutendsten griechischen Tragödien und<br />

hat aufgrund der moralisch-ethischen Thematik nie an Aktualität verloren. Das Uraufführungsdatum<br />

kann nicht e<strong>in</strong>deutig bestimmt werden, es beläuft sich auf die Jahre<br />

zwischen 429–425 v. Chr. Der Ödipusmythos ist fast jedem grob bekannt und wird bis<br />

heute heftig von Philosophen, Philologen und Psychoanalytikern diskutiert.<br />

Zunächst die Vorgeschichte: Die Ehe des Laios, Königs von Theben, und se<strong>in</strong>er Frau<br />

Iokaste bleibt sehr lange k<strong>in</strong>derlos, woraufh<strong>in</strong> Laios aufbricht, das delphische Orakel<br />

zu befragen. Aufgrund e<strong>in</strong>es Vergehens an e<strong>in</strong>em Jungen erhält er von den Göttern e<strong>in</strong><br />

Verbot, Söhne zu zeugen. Handele er diesem zuwider, werde se<strong>in</strong> Sohn ihn töten und<br />

die Mutter heiraten. Das Ehepaar widersetzt sich dem Verbot und zeugt e<strong>in</strong>en Sohn,<br />

den sie aus Angst vor dem Orakel mit durchbohrten Füßen im Gebirge aussetzen lassen,<br />

122


6.3 Sophokles’ König Ödipus: Wie Ödipus lernt zu sehen, als er nicht mehr sieht<br />

damit er den Tieren zum Opfer fällt. Der Diener jedoch übergibt das K<strong>in</strong>d aus Mitleid<br />

e<strong>in</strong>em kor<strong>in</strong>thischen Hirten, der es zu dem Königspaar Polybos und Merope br<strong>in</strong>gt,<br />

die es als Sohn annehmen. E<strong>in</strong> Betrunkener äußert e<strong>in</strong>es Tages vor dem erwachsenen<br />

Ödipus, er sei nicht das leibliche K<strong>in</strong>d der verme<strong>in</strong>tlichen Eltern, woraufh<strong>in</strong> er sich auf<br />

den Weg macht, das delphische Orakel nach se<strong>in</strong>er Herkunft zu befragen. Dort erfährt<br />

er, dass er se<strong>in</strong>en Vater töten und die Mutter heiraten werde und beschließt, nicht nach<br />

Kor<strong>in</strong>th zurückzukehren. An e<strong>in</strong>er Wegenge kommt ihm e<strong>in</strong> Wagen mit e<strong>in</strong>em alten<br />

Mann entgegen. Der Wagenlenker will Ödipus beiseite drängen und wird daraufh<strong>in</strong><br />

von dem jungen Mann geschlagen. Als Ödipus den Wagen passiert, gibt der Greis ihm<br />

e<strong>in</strong>en Streich auf den Kopf, woraufh<strong>in</strong> Ödipus die gesamte Reisegesellschaft erschlägt;<br />

nur e<strong>in</strong>er kann entfliehen. Dass es sich bei dem alten, erschlagenen Mann um se<strong>in</strong>en<br />

leiblichen Vater Laios handelte, war ihm natürlich nicht bewusst. Die Stadt Theben ist<br />

zu der Zeit bedroht von e<strong>in</strong>er Sph<strong>in</strong>x, deren Rätsel niemand zu lösen vermag. Ödipus<br />

schafft es jedoch mit Leichtigkeit und erhält als Lohn die Witwe Iokaste zur Frau, womit<br />

sich der zweite Teil des Orakels erfüllt.<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n von Sophokles’ Drama wütet <strong>in</strong> Theben e<strong>in</strong>e verheerende Seuche, von der<br />

Ödipus, als König, se<strong>in</strong> Volk befreien soll. Nach Befragung des Orakels durch Kreon<br />

erhält er die Botschaft, dass diese Befreiung nur gel<strong>in</strong>ge, wenn Ödipus den Mörder des<br />

Laios f<strong>in</strong>de. Der Seher Teiresias hält Ödipus vor, er sei der Gesuchte und wisse über<br />

se<strong>in</strong>e eigene Herkunft nichts. Im Zorn wirft der König Kreon und dem Seher e<strong>in</strong>en<br />

Komplott gegen ihn vor. In e<strong>in</strong>em Dialog mit Iokaste erfährt er von dem Orakelspruch<br />

und der befohlenen Tötung des Sohnes und schildert se<strong>in</strong>erseits den begangenen Mord<br />

am Dreiweg. Was hier nur vage Zweifel s<strong>in</strong>d, bewahrheitet sich durch den überlebenden<br />

Begleiter des Laios, der zugleich der Hirte war, der Ödipus nach Kor<strong>in</strong>th gegeben hatte.<br />

Ödipus muss erkennen, dass er se<strong>in</strong>en Vater getötet und die Mutter geheiratet hat.<br />

Iokaste, die das Unheil bereits erkannt hat, f<strong>in</strong>det er tot im Palast und blendet sich mit<br />

den Spangen von Iokastes Gewand.<br />

123


6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe<br />

Im Folgenden sollen nun drei Interpretationsansätze zur Schuldfrage des Ödipus<br />

aufgezeigt werden:<br />

Schuldig durch se<strong>in</strong>en Charakter<br />

– Ödipus ist e<strong>in</strong>e charakterlich problematische und kritisierenswerte Figur. Er ist<br />

nicht im Vorsatz schuldig oder durch bösen Willen, sondern durch charakterliche<br />

Fehltendenzen, die e<strong>in</strong>e verheerende Wirkung haben.<br />

– Unvorsichtigkeit: Ödipus missachtet den Kommentar des Betrunkenen über se<strong>in</strong>e<br />

Herkunft vollkommen; er nimmt an, Merope und Polybos seien se<strong>in</strong>e leiblichen<br />

Eltern. Aufgrund se<strong>in</strong>er unklaren Herkunft müsste er nicht nur Kor<strong>in</strong>th meiden,<br />

sondern sich ebenso hüten, e<strong>in</strong>en älteren Mann zu erschlagen und e<strong>in</strong>e ältere Frau<br />

zu heiraten.<br />

– Zorn, Unbeherrschtheit: Am Dreiweg wird Ödipus zwar angegangen, se<strong>in</strong>e Vergeltung<br />

ist aber viel massiver, sodass man nicht von re<strong>in</strong>er Notwehr reden kann.<br />

Bei dieser Interpretation wird von der num<strong>in</strong>osen Sphäre abgesehen und die Tragik<br />

des Ödipus als re<strong>in</strong> menschliches Problem gesehen. Das Schicksal wird alle<strong>in</strong> durch<br />

charakterliche Eigenschaften bestimmt und nicht von den lenkenden Göttern.<br />

Unvermeidbare Schuld<br />

– Ödipus’ Schicksal ist von se<strong>in</strong>er Geburt an vorbestimmt, da Laios das Orakel<br />

ignorierte und daher die Erfüllung der angekündigten Taten des Sohnes ihren<br />

Lauf nimmt. So bilden Ödipus’ Taten e<strong>in</strong>e Kette von unvermeidbaren Konsequenzen<br />

und es zeigt sich der »lebensgeschichtliche ‘Schuldzwang’« (Rumpf 2003,<br />

49). Ödipus handelt nicht nach eigenen Entschlüssen, vielmehr s<strong>in</strong>d alle se<strong>in</strong>e<br />

Handlungen durch die Sprüche des delphischen Orakels vorbestimmt. Laut Bernd<br />

Manuwald ist aus dem Drama e<strong>in</strong>deutig herauszulesen, dass Orakel »unweigerlich<br />

e<strong>in</strong>treten und es nicht <strong>in</strong> der Macht der Menschen liegt, der Erfüllung der Weissagung<br />

zu entgehen« (Manuwald 1992, 12). Deshalb ist für Ödipus nach diesem<br />

Interpretationsansatz auch ke<strong>in</strong>e subjektive Schuld anzunehmen.<br />

Ödipus als Beispiel für metaphysische Wesensschuld<br />

– In Sophokles’ Tragödie wird die metaphysische Tragik des Menschen deutlich.<br />

Der Mensch ist zum Handeln berufen, doch ihm fehlt die Voraussetzung für<br />

verantwortliches Handeln: Allwissenheit.<br />

– Wegen der menschlichen Unwissenheit dürfte der Mensch eigentlich erst gar nicht<br />

handeln, da er unausweichlich schuldig wird. Die daraus resultierende menschliche<br />

Situation ist ausweglos und die Welt ist im Grunde höchst tragisch.<br />

Diese Interpretationsansätze haben deutlich aufgezeigt, dass die Schuldfrage auf<br />

verschiedene Weise beantwortet werden kann. Jede dieser Deutungen f<strong>in</strong>det ihre Rechtfertigung<br />

und lässt sich am Text belegen. Es stellen sich nun die Fragen, welcher Ansatz<br />

124


6.4 Sophokles’ Antigone: »E<strong>in</strong>sicht ist das aller Güter höchste!«<br />

die Intention Sophokles wiedergibt und ob Sophokles die Schuld überhaupt als zentralen<br />

Aspekt se<strong>in</strong>er Tragödie gesehen hat.<br />

Darauf wäre folgendermaßen zu antworten: E<strong>in</strong> antiker Dramatiker verfolgte mit<br />

se<strong>in</strong>em Werk stets e<strong>in</strong> pädagogisches Ziel. Wenn Sophokles die Frage nach der Schuld<br />

als so wichtig empfunden hätte, hätte er sie dann nicht klarer und für uns verständlicher<br />

verarbeitet? Es sche<strong>in</strong>t, dass man vielmehr den Aspekt der E<strong>in</strong>sicht, die am Ende der<br />

Tragödie durch Ödipus erfolgt, beleuchten sollte: Ödipus erleidet e<strong>in</strong> sehr schlimmes<br />

Schicksal. Er muss erkennen, dass sich se<strong>in</strong> Orakel, obwohl er versucht hat, diesem zu<br />

entgehen, erfüllt hat. Er nimmt sich daraufh<strong>in</strong> das Augenlicht.<br />

Man könnte sagen, dass er anfängt zu sehen, als er nichts mehr sieht. Dieses Sehen<br />

bedeutet vor allem das genaue Analysieren von Situationen, die nur durch Überlegung<br />

und Reflexion durchschaut werden können. Während der Tragödie geht Ödipus<br />

ganz nach der condition huma<strong>in</strong>e (Bed<strong>in</strong>gung der menschlichen Existenz) den Weg vom<br />

Sche<strong>in</strong> zum Se<strong>in</strong>: Nach und nach deckt er das Unheil auf und beg<strong>in</strong>nt zu erkennen. Die<br />

Befleckung aufdeckend vollzieht sich <strong>in</strong> Ödipus zum Schluss e<strong>in</strong> Prozess äußerster Re<strong>in</strong>igung,<br />

welche ihn bei sich selbst ankommen lässt. Weder versucht er se<strong>in</strong>em Schicksal<br />

zu entgehen, noch klagt er die Götterwelt an, sondern f<strong>in</strong>det sich zum ersten Mal mit<br />

den Gegebenheiten ab.<br />

6.4 Sophokles’ Antigone: »E<strong>in</strong>sicht ist das aller Güter höchste!«<br />

Sehet, ihr Edlen aus Thebens Volk, die letzte, die blieb vom Königsgeschlecht!<br />

Seht, was ich dulden muss, und von wem, weil ich Heiliges heilig gehalten!<br />

— Antigone 940–944<br />

Dies s<strong>in</strong>d die letzten Worte der Antigone aus der gleichnamigen Tragödie des Griechen<br />

Sophokles. Doch weshalb kommt es überhaupt mit ihr zu e<strong>in</strong>em solchen Ende? Was<br />

ist es, das sie »heilig gehalten« und weswegen sieht sie sich klar im Recht? Wenn man<br />

diese Fragen zu beantworten versucht, dann muss man nicht nur an den Anfang des<br />

Geschehens blicken, sondern noch darüber h<strong>in</strong>aus.<br />

Antigones Brüder, Polyneikes und Eteokles, vere<strong>in</strong>baren <strong>in</strong> alternierender Reihenfolge<br />

nach dem Tod des Vaters Ödipus die Regentschaft <strong>in</strong> Theben zu übernehmen. Als<br />

Eteokles se<strong>in</strong> erstes Jahr beendet, verweigert er Polyneikes den Thron; daraufh<strong>in</strong> greift<br />

Polyneikes die Stadt an. Beide Brüder br<strong>in</strong>gen sich im Kampf gegenseitig um. Der Onkel<br />

der Geschwister, Kreon, ist nun rechtmäßiger Herrscher Thebens. Dieser verbietet es, den<br />

Leichnam des Verräters Polyneikes jemals zu begraben. Jeder, der sich dem widersetzen<br />

sollte, würde durch öffentliche Ste<strong>in</strong>igung bestraft werden.<br />

Sophokles’ Tragödie beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>em Dialog zwischen Antigone und ihrer Schwester<br />

Ismene. Antigone plant, ihren Bruder trotz des Gesetzes zu begraben und fragt Ismene,<br />

ob sie willens sei, ihr dabei zu helfen. Als diese jedoch entschieden verne<strong>in</strong>t, ist Antigone<br />

entschlossen, ihr Ziel auf eigene Faust zu erreichen. Obwohl sie sich der Konsequenz<br />

ihrer Tat bewusst ist, lässt sie nicht von ihr ab. Denn sie fühlt sich nach göttlichem Recht<br />

dazu verpflichtet. Sie wendet sich von diesem Punkt an von Ismene ab.<br />

125


6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe<br />

Vermutlich zeitgleich berichtet e<strong>in</strong> Wächter Kreon von e<strong>in</strong>em wundersamen ersten<br />

Begräbnis des Polyneikes, verursacht durch e<strong>in</strong>en »spurlosen Täter« (Antigone 252). Auf<br />

den Befehl Kreons, den Täter ausf<strong>in</strong>dig zu machen, f<strong>in</strong>det der Wächter Antigone, die<br />

nichts von diesem ersten Begräbnis mitbekommen hatte, unbekleidet und jammernd<br />

neben dem Leichnam. Antigone ist also im Begriff, Polyneikes e<strong>in</strong> zweites Mal zu<br />

begraben. Vom Wächter gefasst, gesteht sie sowohl das zweite wie auch das erste<br />

Begräbnis, welches sie re<strong>in</strong> zeitlich nicht begangen haben kann. Ismene behauptet ihrer<br />

Schwester dabei geholfen zu haben, wird aber von Antigone verächtlich zurückgewiesen.<br />

Wider den E<strong>in</strong>wand se<strong>in</strong>es Sohnes Haimon, Antigones Verlobten, entschließt sich Kreon,<br />

Antigone töten zu lassen und verschärft die Bestrafung, <strong>in</strong>dem er sie lebendig <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Felsengrab br<strong>in</strong>gen lässt. Die anfängliche Entschlossenheit der Antigone wandelt sich <strong>in</strong><br />

Todesfurcht. Sie ist enttäuscht <strong>in</strong> ihrer Gottverlassenheit. In ihrer Orientierungslosigkeit<br />

klagt sie über das ihr, <strong>in</strong> ihren Augen, zu Unrecht zugestoßene Leid.<br />

Der Seher Teresias, der als Mittler zwischen Göttern und Menschen auftritt, weist<br />

Kreon darauf h<strong>in</strong>, dass alle Menschen e<strong>in</strong>mal irre g<strong>in</strong>gen und prophezeit e<strong>in</strong> unheilvolles<br />

Ende, wenn er Antigone nicht befreit. Nachdem Teresias Kreon noch immer nicht<br />

überzeugt zurück gelassen hat, fordert der Chor Kreon dazu auf, Antigone augenblicklich<br />

zu befreien und dem Polyneikes endlich e<strong>in</strong> Grab zu geben. Allerd<strong>in</strong>gs kommt Kreons<br />

E<strong>in</strong>sicht viel zu spät. E<strong>in</strong> Bote berichtet ihm: Verzweifelt über ihr Schicksal hat sich<br />

Antigone längst für den Freitod entschieden. Ihr Verlobter Haimon, der sie tot im Verlies<br />

vorgefunden hat, nahm sich daraufh<strong>in</strong> ebenfalls das Leben. Den Verlust ihres Sohnes<br />

betrauernd, ermordet sich auch Kreons Frau Eurydike. Zurück bleibt e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>samer und<br />

gebrochener König, der se<strong>in</strong>e Fehler bereut und e<strong>in</strong>sieht. Unglücklich muss er feststellen:<br />

»Ich b<strong>in</strong> nicht mehr – ich b<strong>in</strong> nicht mehr als e<strong>in</strong> Nichts« (Antigone 1325).<br />

Bei e<strong>in</strong>er näheren Betrachtung der Hauptfiguren wird oft von Antigone als der tragischen<br />

Figur des Stückes ausgegangen. Sie sche<strong>in</strong>t völlig unverschuldet <strong>in</strong> ihr Unglück zu<br />

geraten, denn ihr verme<strong>in</strong>tlich frommes Handeln wendet sich zuletzt gegen sie selbst.<br />

Doch entspricht Antigones Handeln dem Willen der Götter? Die griechische Mythologie <strong>in</strong><br />

sophokleischer Deutung versteht die Beziehung zwischen Gott und Mensch als e<strong>in</strong>e, <strong>in</strong><br />

der die Menschen den Willen der Götter fromm annehmen sollten. Fordern die Götter<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Tat, dann wenden sie sich mit e<strong>in</strong>er klaren Anweisung an die Menschen.<br />

Antigone aber dr<strong>in</strong>gt aktiv <strong>in</strong> den Aufgabenbereich der Götter e<strong>in</strong> und überschreitet ihre<br />

Grenzen. E<strong>in</strong>e Anweisung dazu oder auch nur e<strong>in</strong>e Genehmigung hat sie von ihnen nie<br />

erhalten.<br />

E<strong>in</strong>e andere Frage, die sich ebenfalls stellt, ist: Wenn sie sich doch zu Beg<strong>in</strong>n fest entschlossen<br />

für den Tod entscheidet, warum kann sie ihn dann nicht annehmen? E<strong>in</strong>erseits hat<br />

Antigone mit e<strong>in</strong>em anderen Tod gerechnet. Sie hoffte öffentlich und ruhmvoll durch<br />

e<strong>in</strong>e Ste<strong>in</strong>igung zu sterben. Deshalb weist sie Ismene auch vor Kreon zurück, weil sie<br />

den Ruhm für die heroische Tat alle<strong>in</strong>e genießen will. Nun sieht sie e<strong>in</strong>en kläglichen und<br />

jämmerlichen Tod vor sich. Andererseits zeigt ihre Reaktion auf den bevorstehenden<br />

Tod nur, wie menschlich Antigone ist. Dadurch werden die Grenzen des Menschse<strong>in</strong>s<br />

deutlich, welche der Mensch gemäß der delphischen Maxime »Erkenne dich selbst« im<br />

Blick haben sollte. Sie stürzt folglich aufgrund des Mangels an Maßhaltung.<br />

126


6.5 Platons Phaidon und die Unsterblichkeit der Seele<br />

Hätte sie ihr Schicksal denn überhaupt verh<strong>in</strong>dern können? Wie hätte sie zur Erkenntnis<br />

gelangen sollen? Auffällig ist, dass Antigone ihre Tat nie reflektiert. Im Stück f<strong>in</strong>det<br />

sich ke<strong>in</strong> Monolog, <strong>in</strong> welchem sie die Problematik ihres Vorhabens thematisiert. Auch<br />

der Dialog mit ihrer Schwester kann nicht als wirkliches Gespräch bezeichnet werden,<br />

denn sie unterrichtet Ismene lediglich von ihrem Plan. E<strong>in</strong> Gespräch mit Kreon kommt<br />

ebenfalls nie zustande. Redete Antigone mit Kreon, würde sie erfahren, dass ihr Bruder<br />

längst begraben ist.<br />

Wie ist der Sturz Kreons <strong>in</strong> diesem Zusammenhang zu deuten? Bezüglich des Scheiterns<br />

<strong>in</strong> der Tragödie lässt sich e<strong>in</strong>e Parallele zu Antigone feststellen. Denn auch Kreon<br />

verpasst es, e<strong>in</strong> aufschlussreiches Gespräch aufzusuchen und handelt nur im S<strong>in</strong>ne des<br />

Vaterlandes. Weder dem Volk, dessen Willen er als Herrscher berücksichtigen sollte,<br />

noch se<strong>in</strong>em eigenen Sohn, der sich um ihn sorgt, noch dem Teresias, der als hohe<br />

moralische Instanz gilt, schenkt er Gehör. Se<strong>in</strong>e Sturheit wird ihm zum Verhängnis.<br />

Der Machtdemonstration wegen stellt Kreon se<strong>in</strong> Gesetz über die Gesetzte der Götter.<br />

Dadurch legt er gegenüber den Göttern Hybris und Anmaßung an den Tag.<br />

Gibt es überhaupt e<strong>in</strong>en Unterschied zwischen den Protagonisten Kreon und Antigone? Aus<br />

dem ganzen Stück folgt, dass, hätten die Charaktere e<strong>in</strong> Gespräch mite<strong>in</strong>ander gesucht,<br />

sei es mit sich oder mit anderen, dann wären sie zur Bes<strong>in</strong>nung gekommen, sodass die<br />

Katastrophe nicht hätte entstehen können. Auch wenn beide Figuren aufgrund mangelnder<br />

Bes<strong>in</strong>nung scheitern, wird am Ende des Stückes deutlich, dass Kreon dennoch zu<br />

e<strong>in</strong>er Erkenntnis gelangt, welche der Antigone bis zum Tod fehlt. Denn während Kreon<br />

sich se<strong>in</strong>e Fehler e<strong>in</strong>gesteht und bereut, weiß Antigone bis zum Ende nicht, weshalb<br />

die Götter sie auf diese Weise enden ließen. Sie erkennt nicht ihr Fehlverhalten den<br />

Göttern gegenüber und akzeptiert ihr Schicksal nicht. Somit sche<strong>in</strong>t Kreon Antigone<br />

e<strong>in</strong>en Schritt voraus zu se<strong>in</strong>, denn nur er gelangt zu der Erkenntnis: »E<strong>in</strong>sicht ist das<br />

aller Güter höchste!« (Antigone 1348–1349).<br />

6.5 Platons Phaidon und die Unsterblichkeit der Seele<br />

Platons Akademie war e<strong>in</strong>e besondere Art von Bildungsstätte, mit welcher unsere womöglich<br />

altbackene Konzeption der Schüler-Lehrer-Situation <strong>in</strong>kommensurabel ist. Nicht<br />

umsonst wird die sokratische Lehrmethode als pädagogisch ausgeklügelte Vorgehensweise<br />

gepriesen, anhand derer Platon das strukturelle Grundgerüst se<strong>in</strong>er Werke konzipiert<br />

hat. In nuce: Es geht um die funktionelle Bedeutungspotenz der Dialogform, durch<br />

die der Lernprozess des Lesers überaus effektiv geprägt wird. Das simple Pr<strong>in</strong>zip von<br />

»Rede – Gegenrede« zeichnet sich nicht nur durch se<strong>in</strong>e den Rezipierenden ansprechende<br />

Form aus, sondern ermöglicht und rechtfertigt überdies den »fehlenden« Zwang zur<br />

systematischen Vollständigkeit. Es können Positionen revidiert, facettenreiche Attitüden<br />

referiert werden. Somit s<strong>in</strong>d Platons Lehrstücke nicht als trockene, belehrende Schulbücher<br />

zu verstehen, sondern vielmehr als zum kritischen Denken motivierende Dialoge.<br />

Denn abgesehen von den werkimmanenten Gesprächen s<strong>in</strong>d es Platons Texte <strong>in</strong> persona,<br />

mit welchen der Leser im Dialog zu stehen hat. Erst wenn diese Konfrontation zwischen<br />

127


6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe<br />

Leser und Text zustande kommt und das Zwiegespräch zwischen beiden e<strong>in</strong>geleitet wird,<br />

ist es möglich, Platons eigentliche »ungeschriebene« Lehre zu verstehen. Will heißen:<br />

Es ist das H<strong>in</strong>terfragen mancher nicht selten ironisch dargestellter Beziehungen und<br />

Sachverhalte, das Weiterentwickeln e<strong>in</strong>fach ersche<strong>in</strong>ender Gedankenstränge, kurzum,<br />

die Urteilsbildung des Lesers, auf die Platon abzielt. Protagonist der meisten Dialoge ist<br />

Sokrates, der, sich se<strong>in</strong>er maieutischen Lehrweise bedienend, se<strong>in</strong>e Gesprächspartner<br />

stets regelrecht dazu »zw<strong>in</strong>gt«, Wissen, oder präziser formuliert, E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die D<strong>in</strong>ge<br />

selbst zu erwerben – und sei es »nur« jene <strong>in</strong> die Unbeantwortbarkeit diverser den<br />

Menschen betreffenden Grundkonstanten.<br />

Das Kernproblem der Dialoge stellt demnach die Frage nach der arete (Tugend) und<br />

der Seelsorge dar. Dies soll illustriert werden an e<strong>in</strong>em Werk aus Platons mittlerer<br />

Schaffensperiode, nämlich am Phaidon.<br />

Phaidon In diesem Dialog Platons berichtet Phaidon, Freund des Sokrates, von den<br />

letzten Gesprächen am Todestag des großen Philosophen:<br />

Sokrates sitzt im Jahre 399 v. Chr. nach der Verurteilung zum Tod im Athener Staatsgefängnis,<br />

umgeben von se<strong>in</strong>en engsten Freunden, und philosophiert mit ihnen angesichts<br />

des nahen Todes über die Unsterblichkeit der Seele.<br />

Warum ist Sokrates unmittelbar vor se<strong>in</strong>em Lebensende vollkommen gelassen und<br />

zufrieden? Warum empfiehlt er sogar e<strong>in</strong>em anderen Philosophen, ihm bald <strong>in</strong> den Tod<br />

zu folgen? Diese Fragen der Anwesenden geben Sokrates den Anstoß zu den folgenden<br />

Ausführungen.<br />

128<br />

– Der Körper-Seele-Dualismus<br />

Der Tod bedeutet die Trennung der Seele vom Körper; tot-se<strong>in</strong> heißt, die Seele<br />

existiert alle<strong>in</strong> für sich, losgelöst vom Körper. Dieser Zustand ist für jeden wahren<br />

Philosophen erstrebenswert; ihn zu erreichen ist oberstes Ziel. Denn: Kriege,<br />

Krankheit, Unvernunft, Maßlosigkeit – alles Übel hat se<strong>in</strong>e Ursache im Körper<br />

und se<strong>in</strong>en Bedürfnissen. Er verlangt nach Pflege, Nahrung, Fürsorge jeglicher Art,<br />

er beh<strong>in</strong>dert den Menschen beim Denken, lenkt ihn vom Philosophieren ab. Die<br />

S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke, die der Körper liefert, s<strong>in</strong>d trügerisch, wechselhaft und unvollkommen.<br />

Dies widerstrebt dem Philosophen jedoch zutiefst: Der philos (Freund)<br />

der sophia (Wissen, Erkenntnis) darf sich beim Streben nach to on (dem wirklich<br />

Seienden) weder auf se<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke verlassen, noch den Verlockungen des<br />

Körpers nachgeben. E<strong>in</strong> wahrhaftiger Philosoph strebt die Abwendung vom Körper<br />

und H<strong>in</strong>wendung zur Seele an. Damit übt sich der Philosoph e<strong>in</strong> Leben lang <strong>in</strong><br />

der Trennung von Körper und Seele, er bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> ständiger melete thanatou,<br />

E<strong>in</strong>übung des Todes. Der Tod selbst erfüllt schließlich das lebenslange Streben;<br />

nach dem Tod kann die Seele, befreit aus dem soma (Körper) als ihrem sema (Grab),<br />

endgültig Erkenntnis erlangen. Daher ist der Tod nichts Böses, geschweige denn<br />

etwas Beängstigendes.<br />

– Die Ideenhypothese als Unsterblichkeitsargument<br />

Unter Sokrates’ Freunden besteht jedoch die Sorge, die Seele könne sich nach


6.6 Seneca – De providentia<br />

der Trennung vom Körper auflösen und zerstäuben. Sokrates reagiert auf diese<br />

Zweifel mit der Ideenlehre, die der Autor dem Protagonisten <strong>in</strong> den Mund legt.<br />

»Idee« bedeutet hier nicht »E<strong>in</strong>fall« im heutigen S<strong>in</strong>ne, sondern übers<strong>in</strong>nliches<br />

»Urbild«. Das Urbild nämlich, von dem alle s<strong>in</strong>nlich erfahrbaren D<strong>in</strong>ge nur e<strong>in</strong><br />

Abbild s<strong>in</strong>d. Es gibt beispielsweise die Idee des »Großen«, die Idee des »Geraden«,<br />

des »Schönen« und des »Guten«. Alle S<strong>in</strong>nend<strong>in</strong>ge, die daneben groß, gerade,<br />

schön oder gut s<strong>in</strong>d, haben Anteil an der entsprechenden Idee.<br />

Die Idee der Größe kann niemals kle<strong>in</strong> werden. Doch nicht nur gegensätzliche Ideen<br />

selbst schließen sich aus, sondern auch D<strong>in</strong>ge, die diese Gegensätze <strong>in</strong> sich tragen, ohne<br />

selbst Gegensatz zu se<strong>in</strong>: Die Zahl drei ist nicht Gegenteil vom Geraden, kann aber als<br />

ungerade Zahl (mit Teilhabe an der Idee des »Ungeraden«) niemals das Gerade <strong>in</strong> sich<br />

aufnehmen.<br />

Diese Feststellung überträgt Sokrates auf die Seele, welche Träger<strong>in</strong> des Lebens ist.<br />

(Das griechische Wort für Seele, psyche, bedeutet auch ursprünglich »Leben«.) Wenn die<br />

Seele <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en leblosen Körper h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>fährt, dann br<strong>in</strong>gt sie ihm immer das Leben. Damit<br />

kann sie als Teilhaber<strong>in</strong> an der Idee des Lebens allerd<strong>in</strong>gs nie den Gegensatz Tod <strong>in</strong> sich<br />

aufnehmen. Sie ist unsterblich.<br />

6.6 Seneca – De providentia — Unglück als wahres Glück<br />

Die vorliegende Schrift De providentia, zu Deutsch Über die Vorsehung, ist e<strong>in</strong>e Spätschrift<br />

von L. Annaeus Seneca (1 v./n. Chr. – 65 n. Chr.). Ausgehend von der Frage, warum,<br />

»wenn die Welt durch e<strong>in</strong>e Vorsehung gelenkt werde, guten Menschen viel Unheil<br />

zustoße« (I, 1), entwickelt Seneca se<strong>in</strong>e stoische Auffassung vom Schicksal. Der Autor<br />

geht zum e<strong>in</strong>en davon aus, dass e<strong>in</strong>e feste und gottgelenkte Weltordnung besteht, die auf<br />

aufe<strong>in</strong>anderfolgenden Ursachen fußt, und zum anderen davon, dass sich Gleichartiges<br />

<strong>in</strong> der Natur niemals gegenseitig negativ bee<strong>in</strong>flussen könne. Das heißt, dass die Götter<br />

niemals guten Menschen (boni viri) schaden könnten. Dementsprechend besteht zwischen<br />

den Göttern und den boni viri »Verwandtschaft und Ähnlichkeit« (I, 5). Diesem Verhältnis<br />

nach erzieht der Gott die guten Menschen so, »dass sie vor Härten und Schwierigkeiten<br />

nicht zurückschrecken, noch sich über das Schicksal beklagen, dass sie, was auch immer<br />

geschieht, für gut bef<strong>in</strong>den und es zum Guten wenden« (II, 4). Dafür teilt der Gott ihnen<br />

harte Schicksale zu, damit sie sich an ihnen erproben und abhärten können, bis sie<br />

durch die Gewohnheit zum »Vergnügen« (IV, 15) werden. Durch die Erprobung und<br />

die Abhärtung gelangt der bonus vir zur Erkenntnis über sich selbst, da er erst jetzt<br />

erkennt, was er »zu leisten vermag [. . .]« (IV, 3). Seneca geht es darum, das existenzielle<br />

Problem der Unerklärbarkeit von Unglück <strong>in</strong> der Welt dadurch zu lösen, dass nicht<br />

das Ausgangsproblem, sondern der Zugang bzw. die Haltung des Menschen zu diesem<br />

grundlegend verändert wird.<br />

Das häufige Auftreten von Unglück im Leben e<strong>in</strong>es bonus vir zeigt folglich die Gunst<br />

der Götter an, da sie den bonum vir als würdig genug erachten, um ihm e<strong>in</strong> hartes<br />

Schicksal aufzuerlegen. Das bedeutet, dass das Erhalten von Unglück <strong>in</strong> Wirklichkeit<br />

129


6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe<br />

Glück ist, das der gute Mensch mit freudiger Erwartung empfangen sollte. Durch diese<br />

mentale E<strong>in</strong>stellung zum Schicksal und die erlangte »stoische Gelassenheit« stellt sich<br />

der gute Mensch dann sogar über das Schicksal. Mit der Umkehrung von Glück und<br />

Unglück im H<strong>in</strong>blick auf das Schicksal – hier muss man bedenken, dass der stoische<br />

Glücksbegriff nur das Nichtvorhandense<strong>in</strong> von Unglück me<strong>in</strong>t – ergibt sich zwangsläufig,<br />

dass e<strong>in</strong> glückliches Schicksal nicht mit e<strong>in</strong>em wahrhaft glücklichen Leben vere<strong>in</strong>bar<br />

ist. Dies erklärt Seneca damit, dass die »Materie« (V, 9), aus der die guten Menschen<br />

geschaffen s<strong>in</strong>d, unzertrennlich mit e<strong>in</strong>em harten Schicksal verbunden ist. Vielmehr<br />

führt »lähmendes Glück« (IV, 9) zu Erschlaffung und e<strong>in</strong>em rauschhaften Zustand, der<br />

mit Realitätsverlust e<strong>in</strong>hergeht. In e<strong>in</strong>em solchen Zustand hat das Unglück br<strong>in</strong>gende<br />

Schicksal dann e<strong>in</strong>e umso verheerendere Wirkung.<br />

Seneca hat nicht zufriedenstellend erklären können, wie das Verhältnis zwischen<br />

dem freien menschlichen Streben und der Notwendigkeit des Schicksals zu bestimmen<br />

ist. Dunkel bleibt auch die irritierende Vorstellung, warum Unglück Glück ist. Ferner<br />

sche<strong>in</strong>t es, dass Seneca von e<strong>in</strong>em maximal entmenschlichten Menschenbild ausgeht<br />

und dadurch e<strong>in</strong>e ethische Anwendbarkeit se<strong>in</strong>er Überlegungen nicht möglich ist.<br />

6.7 Sextus Empiricus – Skepsis und Liebe im Konflikt<br />

Philosophiegeschichtliche E<strong>in</strong>ordnung Bevor genauer auf die Skepsis nach Sextus<br />

e<strong>in</strong>gegangen wird, wird diese grundlegend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en philosophisch-geschichtlichen<br />

Kontext e<strong>in</strong>geordnet. Zur Zeit Sextus’ (ca. 2. Jahrhundert n. Chr.) konkurrierten nach<br />

Sextus’ Auffassung im Wesentlichen drei philosophische Strömungen: Die Dogmatiker,<br />

die glaubten, das »Wahre« bereits gefunden zu haben; die Akademiker, die dachten, das<br />

»Wahre« sei nicht zu f<strong>in</strong>den, sowie die Skeptiker.<br />

Wesentliche Aspekte der Pyrrhonischen Skepsis Zunächst lässt sich sagen, dass die<br />

Skeptiker das Ziel haben, die Menschen durch ihre Philosophie von der <strong>in</strong>neren Unruhe<br />

zu befreien. Der Skeptiker sieht sich als e<strong>in</strong>e Art Arzt, der versucht, den Patienten (den<br />

beunruhigten Menschen) von e<strong>in</strong>er Krankheit (der <strong>in</strong>neren Unruhe) durch e<strong>in</strong>e Therapie<br />

(die Skepsis) zu befreien.<br />

Die <strong>in</strong>nere Unruhe, von der die Menschen betroffen s<strong>in</strong>d, entsteht laut Sextus durch<br />

die Wahrheitssuche. Da es nach skeptischem Denken allerd<strong>in</strong>gs nicht möglich ist, zu<br />

urteilen, was »richtig« oder »falsch« bzw. »gut« oder »schlecht« ist, da jedem Argument<br />

e<strong>in</strong> ihm gleichwertiges Argument entgegensteht, welches das erste Argument widerlegt,<br />

kommt es zur isosthenia (Gleichwertigkeit der Urteile).<br />

Die Skeptiker fällen also ke<strong>in</strong> Urteil über den Wahrheitsgehalt e<strong>in</strong>er Aussage. Auch<br />

beim Philosophieren legen sie ke<strong>in</strong>e Dogmen fest, sondern beschreiben lediglich persönliche<br />

Erlebnisse und Empf<strong>in</strong>dungen und zwar immer nur für den jeweiligen Moment<br />

und niemals allgeme<strong>in</strong> gültig. Dafür werden <strong>in</strong> der Skepsis auch spezifische Mittel<br />

angewandt, die verh<strong>in</strong>dern sollen, dass es zu dogmatischen Aussagen kommt. Charakteristisch<br />

für die Skeptiker s<strong>in</strong>d Schlagworte wie »nicht eher«. Dieses Schlagwort bedeutet<br />

130


6.7 Sextus Empiricus – Skepsis und Liebe im Konflikt<br />

so viel wie »nicht eher jenes als dieses« oder, um es noch weiter auszuformulieren, »Ich<br />

weiß nicht, welchem von diesen D<strong>in</strong>gen ich zustimmen soll und welchem nicht«. Durch<br />

diese Formulierungen gel<strong>in</strong>gt es dem Skeptiker, ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>en Aussagen zu treffen<br />

und so se<strong>in</strong>e Philosophie sprachlich angemessen zu formulieren.<br />

Der skeptische Ansatz zur Überw<strong>in</strong>dung der <strong>in</strong>neren Unruhe besteht dar<strong>in</strong>, darauf<br />

zu warten, dass man <strong>in</strong> der sich fortwährend e<strong>in</strong>stellenden isosthenia plötzlich und<br />

unerwartet <strong>in</strong>nehält. Und genau dann, wenn man <strong>in</strong>nehält, gelangt man, wie zufällig,<br />

zur ataraxie (Seelenruhe). Diese Seelenruhe ersche<strong>in</strong>t dem Skeptiker als der angenehmste<br />

und erstrebenswerteste Zustand.<br />

Wichtig ist es, zu erwähnen, dass es nach Sextus’ Auffassung auch sogenannte<br />

»aufgezwungene Güter« (Affekte wie Lust und Schmerz) gibt, bei denen es nicht möglich<br />

ist, die ataraxie zu erreichen, da der Mensch diese nicht bee<strong>in</strong>flussen kann. Bei solchen<br />

Affekten soll darum nur e<strong>in</strong>e metriopathie (e<strong>in</strong> Maßhalten) angestrebt werden.<br />

Lassen sich Liebe und Skepsis komb<strong>in</strong>ieren? Nachdem nun die Grundidee der Skepsis<br />

beschrieben wurde, soll diese philosophische Strömung nun auf die Frage h<strong>in</strong><br />

untersucht werden, ob sich auch die Liebe <strong>in</strong> dieses System e<strong>in</strong>ordnen lässt.<br />

E<strong>in</strong> Skeptiker erkennt zwar an, dass es Affekte gibt, allerd<strong>in</strong>gs versucht er diese, soweit<br />

dies möglich ist, e<strong>in</strong>zudämmen. E<strong>in</strong>e Frage, die sich hier zwangsläufig ergibt, ist, wie<br />

es sich denn dann mit der Liebe bei Skeptikern verhält und <strong>in</strong>wieweit man diese zwei<br />

Aspekte komb<strong>in</strong>ieren kann. Das Hauptproblem hierbei besteht dar<strong>in</strong>, dass zu der Liebe<br />

auch Leidenschaft und starke Emotionen zählen. Da nun die Liebe zum Menschen gehört<br />

und die Emotionen zur Liebe gehören, ergibt sich, dass auch diese starken Emotionen<br />

menschlich s<strong>in</strong>d. Wenn man diesen Gesichtspunkt nun wieder auf die Skepsis bezieht,<br />

so wird deutlich, dass das Pr<strong>in</strong>zip der pyrrhonischen Skepsis nach Sextus gar nicht<br />

menschlich zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t. Somit lässt sich sagen, dass Sextus’ philosophischer Ansatz<br />

es nicht bewerkstelligen konnte, den Menschen mit all se<strong>in</strong>en Eigenschaften zu erfassen.<br />

131


6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe<br />

So kommt man zu dem Fazit, dass sich das Menschenbild und auch die Vorstellung von<br />

Liebe <strong>in</strong>nerhalb der verschiedenen Epochen immer wieder veränderte und es e<strong>in</strong>e große<br />

Problematik darstellt, den Menschen mit all se<strong>in</strong>en Gefühlen zu begreifen. Weiterh<strong>in</strong><br />

sche<strong>in</strong>t die Liebe vielfältig zu se<strong>in</strong> und <strong>in</strong> verschiedensten Formen aufzutreten. Klar ist,<br />

dass es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Def<strong>in</strong>ition für dieses Phänomen geben kann. Jeder muss für<br />

sich alle<strong>in</strong> versuchen, der Liebe auf die Spur zu kommen, sei es durch Erfahrungen,<br />

durch die Lektüre großartiger Weltliteratur oder durch fasz<strong>in</strong>ierende Diskussionen mit<br />

Gleichges<strong>in</strong>nten.<br />

6.8 Der paul<strong>in</strong>ische Stil<br />

Der paulnische Stil ist dadurch geprägt, dass Paulus viele ungenau def<strong>in</strong>ierte beziehungsweise<br />

vollkommen neue Begriffe e<strong>in</strong>führt, um se<strong>in</strong>e Lehre zu erklären. Weil diese<br />

Begriffe noch nicht durch andere Autoren oder durch die bisherige Begriffsgeschichte<br />

e<strong>in</strong>deutig festgelegt worden s<strong>in</strong>d, ist der Stil durch häufiges Umschreiben von neuen<br />

Begriffen stark bee<strong>in</strong>flusst und teilweise nicht leicht zugänglich.<br />

Zumeist aber schreibt Paulus <strong>in</strong>haltlich e<strong>in</strong>er klaren L<strong>in</strong>ie folgend. Hierbei wiederholt<br />

er se<strong>in</strong>e Aussagen und Begriffsdef<strong>in</strong>itionen unentwegt, um so den <strong>in</strong>teressierten – sowohl<br />

gebildeten als auch ungebildeten – Lesern das Evangelium nahezubr<strong>in</strong>gen. Hierbei<br />

nähert sich Paulus Satz für Satz der von ihm auszudrücken gewünschten Weisheit und<br />

Lehre. Se<strong>in</strong>e Ausdauer zeigt, dass Paulus diese als den Grund se<strong>in</strong>er Sendung und<br />

Aufgabe von Gott her anerkennt.<br />

Allgeme<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d von ihm verfasste Schriften auf recht hohem Niveau; das versucht<br />

er trotz hoher Anzahl von Fachterm<strong>in</strong>i nicht übermäßig zum Problem werden zu<br />

lassen, me<strong>in</strong>t er doch, Gott möchte allen Gläubigen, auch den weniger Weisen das<br />

– unverdiente – Heil schenken. Dadurch erhalten von Paulus verfasste Schriftstücke<br />

e<strong>in</strong>en langatmigen Charakter, der dadurch ausgeglichen wird, dass Paulus’ Thematik<br />

e<strong>in</strong>e besonders ansprechende ist. So eröffnet Paulus e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en Publikum den<br />

Zugang zu christlichen Lehren.<br />

In den paul<strong>in</strong>ischen Briefen hat der Inhalt e<strong>in</strong>en sehr persönlichen Bezug, weswegen<br />

man sagen kann, dass diese sehr anschaulich und situationsbezogen verfasst s<strong>in</strong>d. Letzteres<br />

hat den Nachteil, dass e<strong>in</strong> großer Teil der heutigen Leser durch die Notwendigkeit<br />

der Kenntnis von historischen Fakten die Texte nur e<strong>in</strong>geschränkt verstehen können.<br />

Philosophisch gesehen ist die Effektivität e<strong>in</strong>es solchen Schreibstils im Vergleich zu<br />

der bei Texten anderer philosophischer Autoren recht niedrig, dafür jedoch um e<strong>in</strong><br />

Wesentliches klarer.<br />

Die Reden des Paulus sche<strong>in</strong>en das Problem der Langatmigkeit <strong>in</strong> besonderer Weise<br />

gehabt zu haben. E<strong>in</strong> Beispiel aus der Apostelgeschichte beschreibt diesen Redestil des<br />

Paulus sehr aussagekräftig:<br />

»Am ersten Tag der Woche aber [. . .] predigte ihnen Paulus, und da er am nächsten<br />

Tag weiterreisen wollte, zog er die Rede h<strong>in</strong> bis Mitternacht. [. . .] Es saß aber e<strong>in</strong> junger<br />

Mann mit Namen Eutychus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fenster und sank <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en tiefen Schlaf, weil Paulus<br />

132


6.9 Immanuel Kant – Epistemologische Motivation e<strong>in</strong>er Vernunftskritik<br />

so lang redete; und vom Schlaf überwältigt fiel er h<strong>in</strong>unter vom dritten Stock und wurde<br />

tot aufgehoben. Paulus aber g<strong>in</strong>g h<strong>in</strong>ab und warf sich über ihn, umf<strong>in</strong>g ihn und sprach:<br />

Macht ke<strong>in</strong> Getümmel; denn es ist Leben <strong>in</strong> ihm« (Apostelgeschichte 20, 7–10).<br />

Es zeigt sich hier, dass Paulus durch mangelhafte rhetorische Fähigkeiten die Aufmerksamkeit<br />

des Zuhörers so fordert, dass diese angesichts des großen Umfangs se<strong>in</strong>er<br />

Vorträge, was die Konzentrationsfähigkeit anbelangt, be<strong>in</strong>ahe überfordert s<strong>in</strong>d.<br />

Aussagekräftiger s<strong>in</strong>d tatsächlich se<strong>in</strong>e Taten, se<strong>in</strong>e Reden jedoch nicht weniger lehrreich.<br />

Auch hier wird der Leser durch die ansprechenden Taten, die im Text geschildert<br />

werden, fasz<strong>in</strong>iert und gefesselt, nicht durch se<strong>in</strong>e langatmige Ausdrucksweise.<br />

6.9 Immanuel Kant – Epistemologische Motivation e<strong>in</strong>er Vernunftskritik<br />

6.9.1 Das Problem der Metaphysik<br />

Zu Kants Zeiten sche<strong>in</strong>t die Metaphysik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ausweglose Situation geraten zu se<strong>in</strong>:<br />

Die Vernunft kann gewisse Fragen e<strong>in</strong>erseits nicht abweisen, denn sie werden von der<br />

Vernunft unabweislich selbst gestellt. Andererseits übersteigen diese Fragen das menschliche<br />

Vernunftsvermögen. Da sie auch jegliche Erfahrung übersteigen (transzendieren),<br />

können mögliche Antworten durch die Vernunft nicht h<strong>in</strong>reichend geprüft werden.<br />

Die Vernunft muss also etwas können, was sie eigentlich nicht kann. Die beiden großen<br />

philosophischen Richtungen Rationalismus und Empirismus stellen unvere<strong>in</strong>bare Lösungsansätze<br />

dar, die die Metaphysik zu e<strong>in</strong>em »Kampfplatz« machen, auf dem ke<strong>in</strong>e Sicherheit<br />

gewonnen werden kann.<br />

6.9.2 Kants erkenntnistheoretischer Ansatz<br />

Kant steht also vor diesen drei Problemen: Die Unzulänglichkeit und die Bedürftigkeit<br />

der menschlichen Vernunft und die Unversöhnlichkeit möglicher Lösungsansätze. Da<br />

sämtliche metaphysische Überlegungen der Vernunft entspr<strong>in</strong>gen und sie dennoch zu<br />

Widersprüchen führen, müssen Fehler im re<strong>in</strong>en Vernunftsgebrauch begangen worden<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Kritik der Vernunft Daher sieht Kant die e<strong>in</strong>zige Lösung, den »Kampfplatz« zu<br />

befrieden, dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en Gerichtshof der Vernunft e<strong>in</strong>zurichten, e<strong>in</strong>e »Kritik der (re<strong>in</strong>en)<br />

Vernunft«. Hierbei ist Kritik <strong>in</strong> S<strong>in</strong>ne »Unterscheidung« bzw. »Beurteilung« zu verstehen.<br />

Der Genitiv kann e<strong>in</strong>mal subjektiv (Kritik durch die Vernunft) als auch objektiv (Kritik<br />

an der Vernunft) verstanden werden. Die Vernunft ist <strong>in</strong> Kants Konzept also zugleich<br />

Richter als auch Angeklagter.<br />

Kant hofft, dass, wenn e<strong>in</strong>e genaue Kenntnis über die Pr<strong>in</strong>zipien der Vernunft selbst<br />

vorliegt, entweder die Unzulänglichkeit begründet oder die verme<strong>in</strong>tlichen Widersprüche<br />

gelöst werden können.<br />

Kopernikanische Wende und Transzendentalphilosophie Kant wagt e<strong>in</strong> Gedankenexperiment:<br />

Man nehme an, dass sich nicht die Erkenntnis nach dem zu erkennenden<br />

133


6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe<br />

Gegenstande richtet, sondern der erkannte Gegenstand nach der Erkenntnis. Es wird<br />

sich zeigen, dass sich diese Annahme durch Erfolg rechtfertigt. Nun muss man aber<br />

unterscheiden zwischen dem D<strong>in</strong>g an sich und dem D<strong>in</strong>g als Ersche<strong>in</strong>ung (erkannter<br />

Gegenstand).<br />

Kants Interesse gilt nun der Untersuchung, wie der Gegenstand erkannt wird, wie also<br />

die Wirklichkeit als Ersche<strong>in</strong>ung <strong>in</strong>nerhalb unseres Erkenntnisvermögens konstruiert<br />

wird. Diese Pr<strong>in</strong>zipien der Wahrnehmung bed<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>e empirische Erkenntnis, s<strong>in</strong>d<br />

aber von ihr unabhängig. E<strong>in</strong>e Analyse der Bed<strong>in</strong>gungen der Möglichkeit von Erfahrung<br />

nennt Kant »Transzendentalphilosophie«.<br />

6.9.3 Kants Term<strong>in</strong>ologie<br />

A priori und a posteriori Kant unterscheidet zwei grundlegende Erkenntnisarten:<br />

Solche, die die Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbr<strong>in</strong>gt (»a priori«) und solche,<br />

die auf Erfahrung fußen (»a posteriori«).<br />

Apriorische Erkenntnisse zeichnen sich durch notwendige Allgeme<strong>in</strong>heit aus, während<br />

empirische Erkenntnisse lediglich aussagen, dass e<strong>in</strong> bestimmter Sachverhalt gilt (es ist<br />

nur komparative Allgeme<strong>in</strong>heit durch Induktion möglich).<br />

Mathematische Sätze wie z. B. der Satz »Die kürzeste Entfernung zweier Punkte ist die<br />

gerade L<strong>in</strong>ie.« gelten notwendigerweise, da sie durch re<strong>in</strong>e Verstandesarbeit verifizierbar<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Analytische und synthetische Urteile Unter e<strong>in</strong>em Urteil versteht Kant e<strong>in</strong>en Satz, <strong>in</strong><br />

dem e<strong>in</strong> logisches Prädikat von e<strong>in</strong>em Begriff ausgesagt wird. Hier kann man unterscheiden<br />

zwischen analytischen und synthetischen Urteilen.<br />

Während analytische Urteile e<strong>in</strong>en Begriff lediglich zergliedern, ordnen synthetische<br />

Urteile e<strong>in</strong>em Begriff e<strong>in</strong> völlig neues Prädikat zu. Die Verknüpfung (Synthesis) ist also<br />

neu, mith<strong>in</strong> erkenntniserweiternd.<br />

Analytische Urteile können nur apriorisch se<strong>in</strong>, da e<strong>in</strong>e Begriffzergliederung re<strong>in</strong>e<br />

Verstandesarbeit ist. Synthetische Urteile müssen sich neben dem Begriff auf noch etwas<br />

anderes X stützen. Für synthetische Urteile a posteriori ist X die Erfahrung. Kant zufolge<br />

gibt es aber auch synthetische Urteile a priori. Hier muss das für das Urteil zusätzlich<br />

erforderliche X e<strong>in</strong>er anderen Quelle als der Erfahrung entspr<strong>in</strong>gen, nämlich aus der<br />

Vernunft selbst.<br />

Ziel ist es also, die Erkenntnis unabhängig von Erfahrung zu erweitern. Dies ist<br />

entscheidend, wenn man die Metaphysik, nämlich als e<strong>in</strong>e die Erfahrung übersteigende<br />

Erkenntniserweiterung, als ernstzunehmende Wissenschaft ansehen möchte. Das für<br />

diese Erkenntniserweiterung notwendige X (siehe oben) muss aus der Vernunft selbst<br />

hervorgehen.<br />

134


6.10 Literaturverzeichnis<br />

6.10 Literaturverzeichnis<br />

[1] Manuwal, Bernd: Oidipus und Adrastos. Bemerkungen zur neueren Diskussion um die<br />

Schuldfrage <strong>in</strong> Sophokles’ »König Oidipus«. In: Rhe<strong>in</strong>isches Museum für Philologie. Neue<br />

Folge Nr. 135 1992, 1–43.<br />

[2] Rumpf, Lorenz: Unvermeidbare Schuld. Zur Debatte um Sophokles’ König Ödipus. In:<br />

Antike und Abendland Nr. 49 2003, 37–57.<br />

135


7 Kursübergreifende Aktivitäten<br />

7.1 Schloss Clemenswerth<br />

Die Anlage Das barocke Schloss Clemenswerth wurde von Herzog Clemens August<br />

<strong>in</strong> Auftrag gegeben, der im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens drei Mal dort war – jeweils e<strong>in</strong>ige<br />

Tage bis wenige Wochen, <strong>in</strong> denen er im umliegenden Wald jagte. Die Anlage trägt<br />

den Be<strong>in</strong>amen »Stern im Emsland«, da sie tatsächlich wie e<strong>in</strong> mehrstrahliger Stern<br />

aufgebaut ist. Im Zentrum bef<strong>in</strong>det sich das Wohnschloss Clemens August, von dem<br />

<strong>in</strong> acht Richtungen gerade Alleen <strong>in</strong> den Wald führen. Weitere Häuser, <strong>in</strong> denen die<br />

Begleiter des Herzogs untergebracht waren, stehen im Kreis darum angeordnet zwischen<br />

den Alleen. Interessanterweise s<strong>in</strong>d die Fenster des Haupthauses so angeordnet, dass<br />

durch sie die Alleen, aber nicht die anderen Gebäude zu sehen s<strong>in</strong>d.<br />

Die Innenarchitektur, das typische Rocaille, umfasst Stuckverzierungen an Wand und<br />

Decke, bei denen meist symmetrische Muster wiederholt werden. Oft s<strong>in</strong>d dar<strong>in</strong> die<br />

Initialen des Herzogs, C.A., zu sehen. Auch bunt gemusterte Seidentapeten wurden<br />

häufig verwendet.<br />

Kunstworkshop: Rocaille Fauxpas Inspiriert vom Rocaille des Schlosses war <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

der Nebenhäuser e<strong>in</strong>e Ausstellung von e<strong>in</strong>igen Künstlern zu sehen, die Elemente des<br />

Rocaille <strong>in</strong> ihre Kunst aufgenommen haben. Wir teilten uns <strong>in</strong> fünf Gruppen auf, <strong>in</strong><br />

denen wir uns mit jeweils e<strong>in</strong>em der Künstler ause<strong>in</strong>andersetzten. Danach stellte jede<br />

Gruppe die Ergebnisse vor: die Art des Kunstwerks, die Technik, Zielsetzung des<br />

Künstlers und Beschreibung se<strong>in</strong>er Kunst. Als Zusatzaufgabe war jeweils e<strong>in</strong> von dem<br />

zugeteilten Künstler <strong>in</strong>spiriertes, eigenes Werk zu gestalten. Zur Verfügung standen<br />

jedoch nur gelbes Papier, Schere, Stift und e<strong>in</strong>e Postkarte mit dem Bild e<strong>in</strong>er verzierten<br />

Suppenschüssel, die aber mit großem Erf<strong>in</strong>dungsgeist e<strong>in</strong>gesetzt wurden.<br />

Im Anschluss an den Kunstworkshop hatten wir noch e<strong>in</strong>e Stunde Zeit, um an<br />

kurzen Führungen durch die e<strong>in</strong>zelnen Gebäude teilzunehmen oder uns e<strong>in</strong>fach nur die<br />

Exponate anzuschauen. Der Ausflug endete um halb fünf am Haupthaus der HÖB.<br />

7.2 Gewaltverherrlichende Spiele auf der Akademie?<br />

Alles begann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en italienischen Bergdorf namens <strong>Papenburg</strong>; es war e<strong>in</strong><br />

friedlicher Freitag Nachmittag, an dem sich viele begeisterte junge Leute auf der Akademie<br />

trafen. Niemand ahnte, dass diese Begeisterung schon am Abend desselben Tages<br />

die ersten Opfer blutig zerfleischen und die Köpfe anderer rollen lassen würde.<br />

136


7.2 Gewaltverherrlichende Spiele auf der Akademie?<br />

Werwolf ist e<strong>in</strong> Diskussions-Psychologie-Rate-Spiel (je nach Person <strong>in</strong> unterschiedlich<br />

gewichteten Anteilen), bei dem jeder <strong>in</strong> der Spielrunde von bis zu 20 Leuten e<strong>in</strong>e<br />

Rolle zugeteilt bekommt. Während die Dorfbewohner allnächtlich schlafen, s<strong>in</strong>d es die<br />

Werwölfe, welche erstere blutrünstig ermorden. Am nächsten Morgen, nachdem auch die<br />

Hexe und der Seher ihr Werk getan haben, müssen die Bürger nun stets e<strong>in</strong>en der Ihren<br />

anklagen; ob es e<strong>in</strong> unschuldiges Opfer ist oder sich doch e<strong>in</strong>e überdurchschnittliche<br />

Behaarung feststellen lässt, wird erst bei der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen<br />

deutlich. Dies wiederholt sich – wie erwartet man es auch anders <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em italienischen<br />

Bergdorf – jede Nacht und jeden Tag, bis das Dorf ausgerottet oder die Werwölfe<br />

ausgemerzt werden.<br />

Viele fanden solches Gefallen an dem Spiel Werwolf, dass bis zum Ende der Akademie<br />

stets m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Gruppe vorzuf<strong>in</strong>den war, welche entweder im großen Sem<strong>in</strong>arraum<br />

oder im W<strong>in</strong>tergarten <strong>in</strong> den späten Abendstunden noch nach Werwölfen <strong>in</strong> ihren Reihen<br />

suchte. Manchmal, so wurde überliefert, g<strong>in</strong>gen dort übernatürliche Persönlichkeiten,<br />

wohl besser bekannt als Lena und D<strong>in</strong>a, um, welche aus unerklärlichen Gründen die<br />

Werwölfe nach e<strong>in</strong>er gründlichen Musterung erkannten und entlarvten; so gab es auch<br />

manch schnelle Runde. Zugegebenermaßen war es jedoch bei e<strong>in</strong>igen der Dorfbewohner<br />

nicht schwierig; so konnte man sich fast sicher se<strong>in</strong>, dass S<strong>in</strong>a <strong>in</strong> dieser, wie auch der<br />

letzten sowie der nächsten Runde e<strong>in</strong> Werwolf ist, war und se<strong>in</strong> wird. Kurioserweise war<br />

sie jedoch meist nicht das erste Opfer; diese Rolle nahmen Joscha und Thomas immer<br />

gerne e<strong>in</strong>.<br />

Manch anderes Mal gab es Hexen, welche trotz ihrer kursleitenden Funktion vergaßen<br />

aufzuwachen, aber auch andere, welche sich durch Murmeln während des Tränkebrauens<br />

verrieten oder sogar darüber e<strong>in</strong>schliefen. Während e<strong>in</strong>er anderen Nacht verbreitete das<br />

rätselhafte Auftauchen e<strong>in</strong>es Plastikhasens an der Fensterscheibe Unbehagen. . . Wer das<br />

wohl war? E<strong>in</strong> Philosoph vielleicht? E<strong>in</strong> Musiker? Beide?<br />

Diese Fragen beschäftigten manche noch, als nach e<strong>in</strong>igen Tagen auf der Akademie<br />

das Morden noch größere und allumfassendere Ausmaße annahm; das Mörderspiel<br />

wurde gestartet. Nach e<strong>in</strong>er »Proberunde« begann die Paranoia am Dienstag Abend;<br />

Gegenstände wurden auf Tische gelegt anstatt direkt übergeben zu werden, Zeugen<br />

wurden herbeigerufen, damit man nicht etwas nahm und sich mit e<strong>in</strong>em leisen »Du<br />

bist tot« <strong>in</strong> die ewigen Jagdgründe verabschieden musste. Auch wenn viele ihre e<strong>in</strong>zeln<br />

zugewiesenen Opfer nur wenig kannten, mussten gerade zum Ende der Akademie h<strong>in</strong><br />

noch e<strong>in</strong>ige Tote betrauert werden. Gerüchten zufolge sollen zwei Personen sogar jeweils<br />

vier andere <strong>in</strong> den Tod mitgenommen haben.<br />

Bei e<strong>in</strong>er derartigen Blutrünstigkeit, wie sie auf der Akademie zu beobachten war,<br />

kann man sich nicht sicher se<strong>in</strong>, ob sich diese Mentalität nicht dauerhaft <strong>in</strong> die Persönlichkeit<br />

der Mörder e<strong>in</strong>gebrannt hat. Lasst uns also hoffen, dass diese abartige Gewalt<br />

nicht <strong>in</strong> die nächsten Akademien E<strong>in</strong>zug f<strong>in</strong>det, denn wie wir aus immer wieder auftretenden<br />

Diskussionen wissen: Gewaltverherrlichende Spiele schädigen die sozialen<br />

Kompetenzen!<br />

137


7 Kursübergreifende Aktivitäten<br />

7.3 Theater<br />

Abbildung 7.1: Der große Chor beim Akademiekonzert.<br />

Die Schauspielerei gehörte zu den Leidenschaften von e<strong>in</strong>igen unter uns. Deshalb trafen<br />

wir uns an mehreren Abenden um dieser Leidenschaft geme<strong>in</strong>sam nachzugehen. Doch<br />

es war ke<strong>in</strong> Theaterstück vorhanden, das wir <strong>in</strong> so kurzer Zeit hätten e<strong>in</strong>studieren<br />

können, ohne das E<strong>in</strong>studieren der Texte und längere Proben zu unserer Hauptfreizeitbeschäftigungen<br />

zu machen. Deshalb griffen wir besonders aus Zeitgründen auf die<br />

Improvisation zurück. Mit viel Kreativität, Lust und Laune spielten wir Szenen aller Art.<br />

Vom Zeitlupenkampf bis zum Rollenspiel schlüpften wir <strong>in</strong> die verschiedensten Rollen:<br />

Vom Arzt bis zum Paranoiden. Es gab immer viel zu lachen und es gab auch immer<br />

Personen, die nur zum Zuschauen an unseren Proben teilnahmen und selber viel lachten.<br />

Für uns war es e<strong>in</strong>e großartige Möglichkeit aus dem Kursalltag herauszukommen, uns<br />

e<strong>in</strong> wenig zu entspannen und uns kennen zu lernen. Wir hatten alle viel Spaß. Für den<br />

bunten Abend bereiteten wir kle<strong>in</strong>e Impro-Szenen vor, um unser Publikum auch so viel<br />

Gefallen an den Szenen f<strong>in</strong>den zu lassen, wie wir es bei den Proben hatten.<br />

7.4 Tanzen – Für Anfänger und Fortgeschrittene<br />

Schon bevor die Akademie überhaupt begonnen hatte, wurde im Forum fleißig über<br />

e<strong>in</strong>e Tanzgruppe als Freizeitaktivität diskutiert. Viele Akademieteilnehmer freuten sich<br />

ihre tänzerischen Fähigkeiten zu verbessern oder sich ihre ersten Tanzschritte zeigen zu<br />

lassen. Und so trafen sich dann alle Tanz<strong>in</strong>teressierten am dritten Tag <strong>in</strong> unserem großen<br />

138


7.4 Tanzen – Für Anfänger und Fortgeschrittene<br />

Sem<strong>in</strong>arraum. Zu dem Zeitpunkt s<strong>in</strong>d wir noch von ungefähr 12 Leuten ausgegangen,<br />

doch was uns dann erwartete war erstaunlich. Der große Saal füllte sich langsam und<br />

kam uns dann ganz schön kle<strong>in</strong> vor. Wir begannen also unsere erste Tanzstunde ca. mit<br />

12 Paaren.<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n widmeten wir uns dem Paso Doble, der noch allen Teilnehmern unbekannt<br />

war. Dieser Tanz soll e<strong>in</strong>en Stierkampf darstellen bei dem der Mann den Torero und<br />

die Dame se<strong>in</strong> rotes Tuch darstellt. Mit dem Cha Cha kam der zweite Late<strong>in</strong>tanz h<strong>in</strong>zu,<br />

der für e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Chaos auf der Fläche sorgte, bei dem aber zum Glück ke<strong>in</strong>er verletzt<br />

wurde. Als letzten Tanz an diesem Tag versuchten sich alle an dem langsamen Walzer<br />

um auf der nächsten Feier auch richtig vorbereitet zu se<strong>in</strong>. Wir wirbelten durch den<br />

Raum und danach direkt <strong>in</strong> die Mensa zu Kaffee und Kuchen.<br />

Weil es allen so gut gefallen hatte, trafen wir uns gleich am nächsten Tag noch e<strong>in</strong>mal.<br />

Dort erarbeiteten wir uns e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Paso-Folge, den Tango und entdeckten die vielen<br />

Drehungen, die man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Disco Fox so unterbr<strong>in</strong>gen kann.<br />

Bei den nächsten Term<strong>in</strong>en schrumpfte unsere Gruppe e<strong>in</strong> wenig zusammen, da gegen<br />

Ende der Akademie noch e<strong>in</strong>mal viel Arbeit für alle angefallen war. Jedoch traf sich<br />

der »harte Kern« immer noch und schaute mal bei anderen Tanzstilen vorbei. So zum<br />

Beispiel beim Rock’n Roll, der uns alle doch mächtig aus der Puste brachte. Danach<br />

widmeten wir uns e<strong>in</strong>em sehr leidenschaftlichen Tanz, dem Salsa. Nachdem sich e<strong>in</strong>ige<br />

weitere Teilnehmer bereit erklärt hatten etwas zum Kurs beizutragen, kam gegen Ende<br />

noch e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Hip Hop-E<strong>in</strong>heit, die allen großen Spaß bereitete.<br />

Und da wir alle vom Tanzen nicht genug bekommen konnten, entwickelten wir e<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>es Programm für den »Bunten Abend«, an dem wir unsere Arbeit präsentierten.<br />

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