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Festspielzeit Frühling 2015

Das Magazin der Bregenzer Festspiele

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Seit Langem fasziniert Sie die<br />

Kultur Chinas. Worin liegt<br />

für Sie die Einzigartigkeit<br />

dieses Landes?<br />

MARCO ARTURO MARELLI<br />

Marco Arturo Marelli: Ich kenne China<br />

nur aus der Ferne. So sehe ich die<br />

Kultur dieses Landes durch die Brille<br />

meiner eigenen Sehnsucht. Schon<br />

als kleiner Junge habe ich mich oft<br />

wunschträumend nach fremden<br />

Welten und entfernten Kulturen<br />

gesehnt. Dabei spielte zunächst der<br />

Orient die wichtigste Rolle, aber keine<br />

Indianerspiele, sondern orientalische<br />

Derwische und Gestalten aus<br />

Tausendundeiner Nacht. Erst später<br />

kamen Indien und dann ganz Asien<br />

dazu. Die Begegnung mit fremden<br />

Kulturen ist für mich immer wie der<br />

Blick in einen Spiegel, das eigene<br />

Selbst in der Reflexion einer völlig<br />

anderen Weltsicht zu erleben, infrage<br />

zu stellen und zu überprüfen.<br />

Nun ist aber Turandot keineswegs<br />

ein chinesisches Werk, sondern ein<br />

durch und durch europäisches Opus<br />

und auch der Ursprung des »Mythos<br />

Turandot« liegt nicht etwa in<br />

China, sondern in Persien. In diesem<br />

Kulturkreis wurde das Thema in verschiedenen<br />

Formen behandelt.<br />

So kam es auch nach Europa. Beim<br />

venezianischen Commedia-dell’arte-Autor<br />

Carlo Gozzi, der 1762 die<br />

Vorlage der Oper geschaffen hatte,<br />

gibt es noch »Serail« und »Divan«,<br />

also orientalische Begriffe. Er war<br />

ein poetischer Phantast und man<br />

kann nicht nachvollziehen, ob er<br />

aus geographischer Unkenntnis<br />

oder aus Fabulierlaune den Serail<br />

nach China oder Samarkand in unmittelbare<br />

Nähe zu Peking verlegte.<br />

Giacomo Puccinis Turandot spielt<br />

in China, ist aber vor allem eine<br />

italienische Oper. Wie erscheint<br />

China durch Puccinis Brille?<br />

Puccini versprach sich von diesem<br />

Stoff, sein Lebensthema, die<br />

unstillbare Sehnsucht nach Liebe,<br />

in einer Art Parabel neu formulieren<br />

zu können. Charakteristisch für<br />

Puccinis Menschenbild in seinen<br />

früheren realistischen Werken<br />

ist die Einheit von Liebe und Tod.<br />

Liebe wird fast ausschließlich als<br />

tragische Verstrickung erlebt, die<br />

zwangsläufig in den Tod mündet.<br />

Von Anfang an war es die Psyche<br />

der Frau, des rätselhaften, bewunderten,<br />

auch verachteten Wesens,<br />

das ihn, als Zeitgenossen Sigmund<br />

Freuds, fesselte. Für fast alle<br />

seine Frauengestalten gilt, was der<br />

Liedverkäufer in einer Episode des<br />

Tabarro singt: »Chi ha vissuto per<br />

amore, per amore si morì« (»Wer<br />

für die Liebe gelebt hat, wird an der<br />

Liebe sterben«). Dies gilt sicher für<br />

die Figur von Liù. Doch Turandot<br />

ist eine ganz andere Frauenfigur:<br />

eine Frau, die sich zunächst der<br />

Liebe verweigert und die Männer<br />

dutzendweise umbringen lässt.<br />

Puccini litt sehr unter dem Älterwerden<br />

und befürchtete, dass seine<br />

Musiksprache nicht mehr zeitgemäß<br />

sei. So war ihm die vielschichtige<br />

Dramaturgie, die wundersame<br />

Mischung von marionettenhaftem<br />

Märchenspiel und psychologischem<br />

Musikdrama, von Tragödie und<br />

Komödie mit fernöstlicher Exotik<br />

und italienischer Emotionalität sehr<br />

willkommen, denn er konnte so seine<br />

Musiksprache um neue Elemente<br />

erweitern. Der ausschlaggebende<br />

Impuls zur Komposition dieser<br />

Oper erfolgte bei einem Besuch<br />

bei seinem Freund Baron Fassini,<br />

einem Diplomaten, der selbst länger<br />

in China war und eine Sammlung<br />

chinesischer Spieluhren besaß, die<br />

den Komponisten faszinierten und<br />

deren Melodien auch in die Partitur<br />

eingegangen sind.<br />

MARCO ARTURO MARELLI<br />

stammt aus Zürich und<br />

begann seine Karriere als<br />

Bühnen- und Kostümbildner.<br />

Seit vielen Jahren ist er<br />

zudem als Regisseur tätig und<br />

inszenierte unter anderem an<br />

der Hamburgischen und<br />

Wiener Staatsoper sowie den<br />

Opernhäusern in Paris,<br />

London, Helsinki, Toronto,<br />

Tokio und Graz.<br />

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