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READ BULL<br />
Planet<br />
Animal<br />
Eine Novelle von Jo Nesbø<br />
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob<br />
Sie wissen nicht, was Gravitation ist. Oder exakter formuliert:<br />
Sie wissen nicht, wozu sie da ist, warum die Masse der Erde<br />
dazu führt, dass tote Spatzen zu Boden fallen. Die Sonne in<br />
einer exakt berechenbaren Bahn um die Erde kreist. Oder umgekehrt?<br />
Egal. Sie wissen einzig, dass so etwas wie Gravitation existiert.<br />
Ein gnadenloses Gesetz, das wie ein blinder Diktator, der<br />
längst vergessen hat, was er will, ohne Programm, Moral oder<br />
irgendeine sichtbare Absicht unsere Leben bestimmt.<br />
Wir sind kleine Planeten und Monde, die auf exakt berechenbaren<br />
Bahnen kreisen, in Gang gehalten von der<br />
Masse der Sonne und der Gravitation. Oder eben umgekehrt?<br />
Mist!<br />
Ich schaue auf das Gewehr, das an der Tischkante abgerutscht<br />
und auf dem Boden aufgeschlagen ist.<br />
Der Knall hat mich geweckt. Immer wieder übermannt mich<br />
der Schlaf. Ich atme rasch ein und aus, ziehe die Luft tief in die<br />
Lungen, um mehr Sauerstoff ins Hirn zu bekommen, während ich<br />
mit brennenden Augen Richtung Horizont blinzele, zu der ebenso<br />
vollkommenen wie ununterbrochenen Linie der Hochebene, die<br />
mich auf allen Seiten umgibt.<br />
Niemand.<br />
Nichts.<br />
Nur leere Weite.<br />
Heide, Felsen, Moos und ein frei geblasener Himmel mit einer<br />
langsam zirkulierenden Sonne.<br />
Ich beuge mich runter, hebe das Gewehr auf und lege es vor mir<br />
auf den Tisch. Ich war höchstens ein paar Sekunden eingenickt,<br />
trotzdem sucht mein Blick erneut die Landschaft ab, auf der Jagd<br />
nach einer Bewegung, einer Veränderung, einem Hinweis, was<br />
kommen wird. Denn etwas wird kommen. Sie werden kommen.<br />
JO NESBØ<br />
Geboren 1960 in Oslo, ist Nesbø einer der renommiertesten<br />
Krimiautoren weltweit. Seine Geschichte liest sich aufregend<br />
wie seine Romane: Fußballtalent in Norwegens erster Liga mit<br />
dem Traum, Profi bei Tottenham zu werden, ehe die Kreuzbänder<br />
rissen. Zuerst Schulabbrecher, dann Studium an der<br />
Handelshochschule, Börsenmakler und erfolgreicher Popmusiker<br />
(mit der Band Di Derre). Der erste Krimi „Der Fledermausmann“<br />
entstand 1997 im Flugzeug auf dem Weg nach Australien, und der<br />
Leitheld, Kommissar Harry Hole, hatte seither zehn Krimis zu bestehen, dazu<br />
gibt es zwei weitere Thriller, Kinderbücher – und jede Menge Auszeichnungen.<br />
Meine Augen brennen vom stundenlangen Absuchen der Hochebene<br />
in der nie untergehenden Sonne.<br />
Die Haut taub von all den Mückenstichen, sehnt sich mein Körper<br />
nach den Stunden des Wartens, Ausspähens, Kaffeetrinkens,<br />
Rauchens und Nachdenkens nach Schlaf. Das Hirn gehorcht<br />
irgendwann nicht mehr, die Gedanken geraten auf Abwege, und<br />
man beginnt, an das Geschehene zu denken. Warum man sich hier<br />
befindet, in einer winzigen Hütte unter der Mitternachtssonne<br />
mitten auf der Finnmarksvidda.<br />
Die erschöpfte, dem Nordpol so nahe Sonne lässt die Luft hier<br />
drinnen trotzdem noch vor Wärme flimmern, heizt die Bretter und<br />
den Teer auf, bis sie stinken und einem der Schweiß in die Augen<br />
läuft. Und da denkt man über Gravitation nach.<br />
Draußen, im schräg einfallenden Licht, tanzen Schwärme von<br />
Mücken. Ich überprüfe noch einmal, dass die Waffe entsichert ist.<br />
Um nicht überrascht zu werden. Dabei gibt es im Umkreis von vier<br />
Kilometern keinen Baum, keinen Erdhügel oder Felsen, hinter dem<br />
irgendwer sich verstecken könnte. Und mein Niemandsland ist<br />
rund um die Uhr taghell beleuchtet. Ich werde sie sehen, lange<br />
bevor sie hier sind, und kann sie einen nach dem anderen abknallen.<br />
Ich habe Schubladen und Fächer voller Munition. Aber<br />
kommen werden sie in jedem Fall.<br />
Warum?<br />
Wegen der Gravitation.<br />
Weil es sie gibt.<br />
Die Sonne schien auf die Nordseite der Hütte, als ich die<br />
Glocke klingeln hörte. Das Rentier hatte den Kopf gehoben.<br />
Es war ein Bulle. Sein Geweih zeichnete sich still wie eine<br />
Statue vor dem Himmel ab. Ich richtete das Gewehr auf das Tier.<br />
Platzierte das Korn direkt unter der Brustpartie über den Vorderbeinen,<br />
im Glauben, dass dort das Herz ist.<br />
Ich habe das Rentier zum ersten Mal in der letzten Woche<br />
gesehen. Gesehen, nicht gehört. Es ist seltsam, eigentlich sollte<br />
man meinen, Geräusche würden in dieser offenen Landschaft weit<br />
getragen, aber so ist es nicht. Vielleicht wegen der vielen Mücken,<br />
die den Schall dämpfen. Jedenfalls hatte ich die Glocke nicht<br />
gehört, die der Rentierbulle um den Hals trägt, bis er nur noch<br />
wenige hundert Meter von der Hütte entfernt war. Seither grast er<br />
hier in der Nähe. Heißt das grasen, wenn Tiere nur Flechten fressen?<br />
Flechten? Egal.<br />
Er scheint von seiner Herde ausgestoßen worden zu sein. Vielleicht<br />
hat er etwas Unverzeihliches getan. Ist irgendeiner Versuchung<br />
erlegen. Hat sich mit einem Weibchen des Alphatiers<br />
gepaart. Ganz auf sich gestellt, wird er nicht lange überleben. Hier<br />
oben gibt es Wölfe, die heulen nachts den Mond an, genau wie die<br />
Wölfe auf Animal Planet. Jetzt im Sommer kann das Rentier ihnen<br />
entkommen, aber wenn erst Schnee gefallen ist, sinken die dünnen<br />
Läufe ein, während die Pfoten der Wölfe so breit sind, dass<br />
der Schnee sie trägt. Animal Planet. Unausweichlich. Wie die<br />
Schwerkraft.<br />
Ich ließ das Gewehr sinken, hatte nicht die Absicht, den Rentierbullen<br />
zu schießen.<br />
Wobei es natürlich verlockend war. Einfach zu schießen, zu<br />
töten, die Beute niederzustrecken. Das ist natürlich. Das steckt in<br />
uns. Aber ein wachsames Tier mit einer Glocke um den Hals war<br />
praktisch, eine Art Wachhund. Außerdem hatte ich so Gesellschaft.<br />
In gewisser Weise. Denn sobald ich die Tür aufmachte, verschwand<br />
das dumme Tier. Aber egal. Wenigstens war überhaupt<br />
ein Lebewesen in der Nähe. Denn die Einsamkeit war definitiv das<br />
Schlimmste. Die Mücken, die Sonne, der Schlafmangel; mit all<br />
diesen Problemen konnte ich leben. Aber die Einsamkeit … Und<br />
Amelies Todesschreie, die mich jedes Mal aus dem Schlaf rissen,<br />
wenn ich mal wieder eingenickt war.<br />
NIKLAS R. LELLO<br />
92 THE RED BULLETIN