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Festspielzeit Sommer 2015

Das Magazin der Bregenzer Festspiele

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SCHÖN.<br />

99 SUNSETS<br />

Der Fotograf Thomas Weinberger über seine Ausstellung<br />

AUSSTELLUNG IM FESTSPIELHAUS<br />

Die Definition des »Schönen«<br />

hatte und hat auch immer<br />

eine soziale und politische<br />

Komponente, da gesellschaftliche<br />

Schranken auch ästhetisch errichtet<br />

wurden und werden. Ich fragte mich,<br />

ob es wohl etwas gäbe, was alle Menschen<br />

als »schön« empfinden. Es fiel<br />

mir auf, dass die meisten Menschen,<br />

unabhängig von ihrer Herkunft und<br />

ihrem sozialen oder kulturellen Hintergrund,<br />

die unter- oder aufgehende<br />

Sonne als schön empfinden, obwohl<br />

die meisten Bilder davon als »kitschig«<br />

bezeichnet werden. Daraus<br />

schloss ich, dass der Sonnenunteroder<br />

-aufgang etwas Paradigmatisches<br />

für das neuzeitliche ästhetische<br />

Empfinden haben müsse.<br />

Bei meinen Überlegungen versuchte<br />

ich kunsthistorische Bezüge und<br />

Besetzungen der Sonne in der Nähe<br />

des Horizonts auszuklammern, da<br />

die allgemein zitierten Bezüge zur<br />

Romantik zwar die Faszination des<br />

Sonnenuntergangs zu erläutern<br />

vermögen, aber nicht die des Sonnenaufgangs.<br />

Formale Kriterien wie<br />

Farbe oder Form schieden schnell<br />

in meinen Überlegungen aus, da<br />

diese nicht ausgereicht hätten, eine<br />

derart große Übereinstimmung<br />

unter den verschiedenen Menschen<br />

zu erzeugen. Ist es also die Sonne<br />

als Ding an und für sich, dem wir uns<br />

automatisch ästhetisch nähern? Es<br />

gibt wohl kaum ein Ding im Universum,<br />

zu dem der Mensch ein derart<br />

intensives funktionales Verhältnis<br />

hat. Die Intensität dieser Beziehung<br />

scheint die Ursache dafür, dass der<br />

Sonnenunter- oder -aufgang eine so<br />

allgemeine Faszination hervorruft.<br />

Solange die Sonne jedoch ihre volle<br />

Funktion ausübt, also im Zenit steht,<br />

können wir sie nicht betrachten,<br />

schon gar nicht ästhetisch. In die<br />

strahlende Mittagssonne können wir<br />

mit bloßem Auge nicht blicken, ohne<br />

dass wir geblendet werden. Sobald<br />

sie jedoch in der Nähe des Horizonts<br />

durch die Schichten der Atmosphäre<br />

ihrer Funktion beraubt wird, sind wir<br />

in der Lage sie zu betrachten und tun<br />

dies in ästhetischer Weise. Wenn dies<br />

paradigmatisch für unser neuzeitliches<br />

ästhetisches Sehen sein soll,<br />

müsste also die Abwesenheit eines<br />

funktionalen Verhältnisses zu Dingen<br />

oder Wesen generell ein Auslöser<br />

dafür sein, dass wir uns ihnen ästhetisch<br />

nähern.<br />

Zur Überprüfung meiner These<br />

schlage ich einen virtuellen Spaziergang<br />

vor, den ein Stadtmensch mit<br />

einem Bauern über dessen Felder<br />

unternimmt. Ich denke, der Stadtmensch<br />

wird beim Anblick der sanft<br />

geschwungenen Felder deren Schönheit<br />

hervorheben, während der Bauer<br />

wahrscheinlich zum Himmel blicken<br />

wird, um Ausschau nach dem Regen<br />

zu halten, den er für eine reiche Ernte<br />

noch benötigt. Der Stadtmensch<br />

nimmt die Natur ästhetisch war, weil<br />

er keinen funktionalen Bezug mehr<br />

zu ihr hat, im Gegensatz zum Bauern,<br />

der von ihrem Ertrag leben muss. Ich<br />

denke also, dass es für den Aufbau<br />

eines ästhetischen Bezugs nicht<br />

unbedingt notwendig ist, ein Ding<br />

positiv zu besetzen, sondern dass<br />

es ausreicht, wenn kein funktionaler<br />

oder emotionaler Bezug besteht.<br />

Eine Ästhetisierung bedeutet den<br />

Ausdruck von Herrschaft über das<br />

Ding oder das Wesen, das seiner ursprünglichen<br />

Funktion beraubt wurde<br />

oder zu dem kein funktionaler Bezug<br />

(mehr) besteht. An einem Tiger,<br />

der in einem Tierpark gesehen, oder<br />

ausgestopft im Haus des Großwildjägers<br />

hängt, wird man die Schönheit<br />

seiner Fellzeichnung bewundern.<br />

Erlebt ein Mensch denselben Tiger in<br />

freier Wildbahn im Ansprung wird er<br />

kaum die Schönheit seiner Fangzähne<br />

bewundern. Er wird weglaufen,<br />

bevor sich deren Funktionalität am<br />

eigenen Fleisch erweist. Auch diesbezüglich<br />

nimmt der Sonnenuntergang<br />

eine paradigmatische Position ein:<br />

Der aufgeklärte Mensch erlebt den<br />

Sonnenuntergang ästhetisch, während<br />

der Neandertaler sich wohl eher<br />

darum sorgte, ob die Sonne auch<br />

wieder erscheinen würde.<br />

Wie sich die Wahrnehmung gegenüber<br />

einem Urinal verändern kann,<br />

sobald es seiner Funktion beraubt<br />

wird, indem es von der Kanalisation<br />

getrennt wird, ist Kunstgeschichte.<br />

Man betrachtet es unwillkürlich als<br />

Skulptur.<br />

Ein interesseloses Wohlgefallen<br />

scheinen auch die heute Zwanzigjährigen<br />

beim Anblick von Audiokassetten<br />

zu empfinden, deren Design auf<br />

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