Stiftung Lesen: Vorlesen im Kinderalltag 30der betroffenen Kinder ein erhebliches Defizit, das dringenden und stetigenHandlungsbedarf verdeutlicht.2.3 VorlesemotivationMit Blick auf die nachweisbaren kurzfristigen positiven Effekte und die längerfristige Bedeutungdes Vorlesens, ist der Anteil von etwa einem Drittel der Familien, in denen Eltern ihrenKindern nicht vorlesen, kaum verständlich. Was sind die Gründe für dieses Defizit? Halten ElternVorlesen für nicht wichtig? Oder wissen sie, dass es bedeutsam ist, praktizieren es aberaus anderen Gründen nicht oder zu selten? Eltern äußern eine sehr hohe allgemeine Wertschätzungfür das Vorlesen, das gemeinsame Betrachten von Kinder- und Bilderbüchern unddas Geschichtenerzählen. Unabhängig davon, ob sie selbst häufig, selten oder nie vorlesen,teilen sie die Ansicht, dass Vorlesen in vielerlei Hinsicht gut für die Entwicklung von Kindernist: 96 Prozent sind der Meinung, das Anschauen und Vorlesen von Bilder- und Kinderbüchernfördere die Sprachentwicklung bei Kindern, 95 Prozent sehen die Fantasie gefördert,94 Prozent die Konzentrationsfähigkeit und 91 Prozent die Ausdauer. 61 Generell betrachtenEltern das Vorlesen somit eher rational und sehen es als funktional für eine gute kognitiveEntwicklung an.Sind diese Überzeugungen und wahrgenommenen Vorteile des Vorlesens für die kindlicheEntwicklung auch die Hauptmotive von Eltern, ihren Kindern vorzulesen? Fragt man Eltern,die ihren Kindern vorlesen, nach ihrer Motivation, stehen die Freude am Vorlesen (84 %) unddie gemeinsam mit den Kindern verbrachte Zeit (74 %) an erster Stelle. Erst dann folgen rationaleGründe, z. B. dass es wichtig sei, dass Kinder etwas aus den Geschichten lernen(65 %). Nur in Ausnahmefällen empfinden Eltern Vorlesen in erster Linie als Pflicht (9 %). 62Bereits 1993 hatten Bettina Hurrelmann, Michael Hammer und Ferdinand Nieß in einer Befragungvon 200 Familien mit Kindern im Alter von 9 bis 11 Jahren gezeigt, dass für Mütterbeim Vorlesen die Freude ihrer Kinder sowie die Nähe und Vertrautheit zum Kind besonderswichtig sind. 63 Bei dieser „zunächst nicht zweckgebundenen und kindzentrierten Haltung“seien Vorlesemotive wie die „Förderung der Interessen und Fähigkeiten“ des Kindes sowiedie „Vermittlung von Auffassungen und Werten“ zweitrangig. 64 Es kann festgehalten werden:Eltern, die ihren Kindern vorlesen, tun dies nicht (ausschließlich), weil sie ihre Kinder ineinem formal pädagogischen Sinne fördern möchten. Sie empfinden Vorlesen selten als lästigePflicht, sondern verbinden damit vielmehr Spaß, Nähe und etwas Schönes. Dies ist diebeste Voraussetzung dafür, dass Vorlesen bei Eltern, die es für sich entdeckt haben, zum festenBestandteil im Familienalltag wird und bleibt. Die Dominanz dieser Sichtweisen bildet einPotenzial für die Sensibilisierung, Motivation und Aktivierung von Eltern, die ihren Kindern61 Vorlesestudie 2012.62 Vorlesestudie 2007.63 Hurrelmann, Bettina, Michael Hammer, Ferdinand Nieß (1993): a. a. O., 136-137.64 Ebd., 137.
Stiftung Lesen: Vorlesen im Kinderalltag 31noch nicht oder selten vorlesen. Hier dürften Programme und Maßnahmen greifen, die Mütterund Väter bei ihrem intuitiven und emotionalen Umgang mit den Kindern packen und dasVorlesen entsprechend erfahrbar machen. 65Auch die Kinder selbst mögen das Vorlesen durchweg sehr. Fragt man Kinder im Alter von4 bis 10 Jahren, was für sie das Schönste am Vorlesen ist, kommen spontan ganz unterschiedlicheAntworten. An erster Stelle fällt Kindern die Entspannung ein, die sie beimVorlesen erfahren (27 %). Ähnlich viele nennen die gemeinsame Zeit mit den Eltern und denengen Kontakt zu ihnen (26 %). Zur Entspannung trägt aus Kindersicht bei, dass man sich„ausruhen und faul sein“ darf, „richtig schön abschalten und entspannen“ kann und nichtselbst lesen muss, wie vor allem ältere Kinder betonen. Am Kontakt mit den Eltern schätzenKinder das „Kuscheln“ und „Schmusen“, aber auch einfach die viele Zeit, die man mit Mutteroder Vater verbringt, in der man die Eltern ganz für sich hat und sich nicht alleine fühlt. Jedesfünfte Kind (19 %) sagt, das Schönste sei die Spannung beim Vorlesen, sie empfinden die Geschichtenals etwas Aufregendes. Ähnlich viele (17 %) heben hervor, dass man beim Vorlesen(besser) einschlafen kann. Spannung und aufregende Geschichten stehen dabei nicht im Gegensatzzur Entspannung und zum Einschlafen, weil sie den Charakter verschiedener Vorlesesituationenspiegeln. Das Vorlesen kann die entwicklungsfördernde Wirkung einesregelmäßigen Schlafrhythmus und fester Zubettgehzeiten bzw. -riten verstärken. 66Zahlreiche Äußerungen der Kinder beziehen sich darauf, wie Eltern das Vorlesen gestalten:Kindern gefällt die Stimme von Mutter oder Vater, sie freuen sich, wenn die Eltern die Stimmeverstellen oder Grimassen ziehen, die Geschichten mimisch unterstreichen. Auch nennenKinder praktische Aspekte, zum Beispiel die Möglichkeit, nachzufragen, wenn sie etwas nichtverstanden haben. Darin sehen Kinder auch einen klaren Vorteil des Vorlesens gegenüberHörspielkassetten oder -CDs. Bedeutsamer als die praktischen Aspekte sind für Kinder aber –und damit stimmen sie mit den Eltern überein – der Spaß, die mit Mutter und Vater geteilteZeit und die angenehmen Gefühle und Empfindungen, die mit der Vorlesesituation einhergehen.Diese Verknüpfung von Vorleseerlebnis und positiven Emotionen verankert sich tief imBewusstsein der Kinder. Fragt man ältere Kinder und Jugendliche rückblickend, wie sie dasVorlesen erinnern, wie es für sie war, ergibt sich für die 10-19-Jährigen ein rundum positivesBild: Zwei von drei älteren Kindern und Jugendlichen sagten 2011 uneingeschränkt, dass sieVorlesen in der Kindheit als angenehm (65 %), schön (63 %), gemütlich (63 %) und beruhigend(60 %) empfunden haben, für jede/n Zweite/n war die Situation spannend (50 %). Nurein verschwindend kleiner Teil der Kinder und Jugendlichen hat das Vorlesen als gezwungen(6 %), langweilig (4 %) oder peinlich (3 %) erlebt. 67 Aus Sicht der kognitivenNeurowissenschaften sind es gerade die positiven emotionalen Erfahrungen, die das65 So beispielhaft das Programm „Lesestart. Drei Meilensteine für das Lesen“ des Bundesministeriums für Bildungund Forschung, das von der Stiftung Lesen umgesetzt wird.66 Vgl. Kelly, Yvonne, John Kelly, Amanda Sacker (2013): Time for bed: associations with cognitive performancein 7-year-old children: a longitudinal population-based study. In Journal of Epidemiology & CommunityHealth. Online-Vorabversion unterhttp://jech.bmj.com/content/early/2013/06/25/jech-2012-202024.abstract (23.7.2013).67 Vorlesestudie 2012.