Stiftung Lesen: Vorlesen im Kinderalltag 86Familien mit Kindern im Vorlesealter. Sie zeigen, dass vor allem der Bildungshintergrund imElternhaus einen starken Einfluss auf das Vorleseverhalten von Müttern und Vätern hat. Derin der öffentlichen Diskussion häufig beleuchtete Migrationshintergrund besitzt überwiegendim Zusammenspiel mit dem Bildungsniveau der Eltern Relevanz. Unabhängig von Bildungund Herkunft zeigen sich massive geschlechtsspezifische Handlungsmuster, die sichu. a. auf klare Rollenverteilungen zwischen Müttern und Vätern innerhalb der Familien zurückführenlassen. Diese schlagen sich wiederum in den Erziehungszielen und Umgangsweisenmit Söhnen und Töchtern nieder, die zu einer eklatant unterschiedlichen Lese- und Mediensozialisationvon Mädchen und Jungen führen. Sie tradieren Rollenbilder und geschlechtsspezifischeMedienvorlieben von Generation zu Generation.Mit Blick auf Familien, in denen Kinder beim Vorlesen in besonderer Weise benachteiligtsind, wurden in einem dritten Schritt Potenziale zur Ansprache dieser Zielgruppen herausgearbeitet.Sie bestehen einerseits in der Kompensation von Defiziten mittels Angeboten außerhalbder Familien. Hier wurden anhand der verfügbaren Daten Chancen und Grenzen desEngagements Ehrenamtlicher betrachtet, die die Zuwendung der Eltern nicht ersetzen, abermöglicherweise motivierend wirken können. Potenziale bestehen andererseits in der Nutzungniederschwelliger und zielgruppenspezifisch relevanter Vorleseangebote, die sich aktuellv. a. im digitalen Bereich entwickeln. Hier bestehen vor allem Möglichkeiten, Väter mit(rollengerechten) attraktiven Produkten zum Vorlesen zu motivieren und Bildungsferne alsZielgruppe anzusprechen.Die Befunde der Vorlesestudien verweisen im Kontext des Forschungsstandes zur frühkindlichenSprach- und Leseförderung auf die Notwendigkeit einer immer differenzierteren Identifikation,Beschreibung und Segmentation von Zielgruppen, die mit Sensibilisierungs- und Fördermaßnahmenangesprochen werden sollen. Es genügt nicht, anhand einzelner zentralerMerkmale wie Bildungs- oder Migrationshintergrund Zielgruppen zu definieren, weil innerhalbdieser Gruppen jeweils vielfältige Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren wirksamwerden, die Erziehungsziele und allgemeine Einstellungen, das Lese- und Vorleseverhaltenwie auch den Umgang mit Medien insgesamt prägen. Hierzu muss die Forschung möglichstregelmäßig und aktuell die Entwicklung der gesellschaftlichen Milieus, der familiären LebensundUmfeldbedingungen wie auch Veränderungen im Angebot von (Träger-) Medien undihren Inhalten berücksichtigen. Dafür ist es sinnvoll, innerhalb von Studienserien, aber auchin Untersuchungen aus unterschiedlichen Häusern und mit verschiedenen Fragestellungeneine größtmögliche Vergleichbarkeit in der Erhebung bildungspolitisch relevanter Kenngrößenherzustellen. Dies zeigte die Diskussion der methodischen Fragen zur Erfassung von Indikatoren– z. B. des Anteils der Familien, in denen vorgelesen bzw. nicht vorgelesen wird.Unabhängig von der Bestimmbarkeit eines exakten Wertes lässt sich aus den Befunden derVorlesestudien 2007, 2008, 2011 und 2012 deutlicher und kontinuierlicher Handlungsbedarfableiten. Indem in etwa jeder dritten Familie die Eltern höchstens einmal in der Woche –und damit eindeutig zu selten – oder nie vorlesen, fehlt jedem dritten Kind in Deutschlandein zentraler wichtiger Impuls für die positiven Entwicklungen, die in Zusammenhang mit
Stiftung Lesen: Vorlesen im Kinderalltag 87dem Vorlesen kurz- und längerfristig nachweisbar sind. Für die Sensibilisierung, Motivationund Aktivierung von Eltern, die ihren Kindern noch nicht oder selten vorlesen, dürften nachden vorliegenden Ergebnissen vor allem solche Programme und Maßnahmen greifen, dieMütter und Väter bei ihrem intuitiven und emotionalen Umgang mit den Kindern packenund das Vorlesen entsprechend erfahrbar machen. Sie müssen in den Familien möglichstfrühzeitig, wenn die Kinder noch klein sind, ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Väter ebensowie Mütter vorlesen müssen, gerade dann, wenn sie Söhne haben. Dabei sind Bildungsargumenteund Verweise auf Verantwortung sinnvoll, aber nicht notwendiger Weise zielführend,denn gerade Väter besitzen bereits ein stark ausgeprägtes allgemeines Bewusstsein fürdie Bedeutung des Vorlesens und die Zuständigkeit der Eltern für eine gute Sprach- und Leseförderung,das allein sie offenbar nicht zum Handeln bringt. Wichtiger scheint, dass dieMotivation zum Vorlesen zielgruppenspezifisch an das anknüpfen muss, was z. B. Väter gernmachen und wo ihre zentralen Gemeinsamkeiten mit den Kindern liegen.