gute besserung 2011/1
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20 Titelthema Ernährung Titelthema Ernährung 21<br />
Kinder im Körperwahn<br />
In deutschen Kliniken liegen mittlerweile bereits zehnjährige Mädchen,<br />
die zwangsernährt werden müssen. Diagnose: Anorexia nervosa.<br />
Was junge Menschen in die Magersucht treibt.<br />
VON NICOLE BONGARD<br />
Eine Tochter, wie man sie sich wünscht: Viktoria<br />
ist eine <strong>gute</strong> Schülerin, geht begeistert<br />
ihren Hobbies nach, hat eine beste Freundin,<br />
mit der sie durch dick und dünn geht, Jungs spielen<br />
noch keine Rolle und für nächstes Jahr plant sie<br />
ehrgeizig ein schulisches Austauschjahr in Neuseeland.<br />
Pläne für die Zeit nach dem Abi sind zart geäußert.<br />
Grafi kdesign möchte die 15-Jährige aus dem<br />
bürgerlichen Viertel im Hamburger Norden studieren.<br />
Das Verhältnis zu den Eltern ist klasse, Streit<br />
mit den beiden Geschwistern selten. Ein echtes<br />
Bilderbuch-Kind.<br />
Doch dann wird alles anders. Viktoria beginnt, die<br />
Einkäufe und Essgewohnheiten der Familie zu kritisieren.<br />
Sie besorgt sich Literatur über Ernährung und<br />
mahnt Eltern und Geschwister: nicht frisch genug,<br />
zu viel Kohlenhydrate, falsche Zusammensetzung.<br />
Sie übernimmt in der Küche die Regie, kocht und<br />
Warnsignale ernst nehmen<br />
• Einengung und Konzentration auf das Thema<br />
Essen und Ernährung<br />
• Ständige Ausweitung der verweigerten<br />
Lebensmittel<br />
• Verlangsamung des Esstempos<br />
• Exzessiver Bewegungsdrang<br />
• Schnelle Gewichtsabnahme oder langsame,<br />
weit reichende Gewichtsabnahme<br />
• Panik vor einer Gewichtszunahme und verän-<br />
derte Wahrnehmung des Körpers<br />
• Körperliche Schwäche<br />
• Konzentrationsstörungen<br />
• Menstruationsstörungen<br />
• Depressive, ängstliche und zwanghafte Ver-<br />
haltensweisen<br />
• Sozialer Rückzug und Interessenverfl achung<br />
z.B. bezüglich der Hobbies<br />
• Vehementes Abstreiten, krank zu sein und<br />
Unterstützung zu benötigen<br />
setzt sich das Ziel, bis zum Beginn der Freibadsaison<br />
zwei bis drei Kilo abzunehmen. Da passt das Lauftraining<br />
mit Papa, der im Mai den Hamburg Marathon<br />
laufen möchte, gut ins Konzept. Und die Großeltern<br />
freuen sich über den Bewegungsdrang, mit dem Viktoria<br />
in ihren Gartenbeeten wirbelt.<br />
Die Tante ist die Erste, die eine Wesensveränderung<br />
ihres Patenkinds feststellt und spricht die Eltern<br />
darauf an. Nun folgen Monate, die das harmonische<br />
Familienleben auf eine Probe stellen. Leugnung des<br />
Verdachts auf eine Essstörung, Tränen und Streits,<br />
die es in der Härte bisher nicht gab, Weigerung der<br />
Annahme externer Hilfe. Nach vielen Gesprächen<br />
mit Ärzten und Psychologen gesteht sich die Familie<br />
ein: Viktoria hat Magersucht. Gemeinsam entschließen<br />
sie sich zu einer Therapie. Der erste ambulante<br />
Anlauf scheitert und rasch sind sich alle einig: Ein<br />
stationärer Aufenthalt soll Viktoria helfen, sich der<br />
sehr komplexen Krankheit entgegenzustellen.<br />
Viktoria lernt – oder lernt wieder – während des<br />
16-wöchigen stationären Aufenthalts im Katholischen<br />
Kinderkrankenhaus Wilhelmstift ein selbstverantwortliches<br />
Essverhalten. Unter Anleitung einer<br />
Ernährungstherapeutin plant und bereitet sie ihre<br />
Mahlzeiten zu, sie isst gemeinsam mit den anderen<br />
neun Jugendlichen auf ihrer Station, die kontinuierliche<br />
Gewichtszunahme wird vom Team kontrolliert.<br />
In therapeutischen Gesprächen versteht sie den<br />
Mechanismus des Krankheitsbilds und lernt Strategien,<br />
andere Dinge als das Essen in den Mittelpunkt<br />
ihres Lebens zu stellen. Die Familie ist stets in die<br />
Behandlung eingebunden. Während der vier Monate<br />
geht Viktoria zum individuell abgestimmten Schulunterricht,<br />
der von der Hamburger Schulbehörde anerkannt<br />
ist.<br />
Zwei Jahre liegen zwischen dem ersten offenen<br />
Gespräch mit ihrer Familie und dem erfolgreichen<br />
Abschluss der Therapie. Schon bald geht ihr Flugzeug<br />
nach Neuseeland, sie freut sich auf ihren Schüleraustausch<br />
in Auckland. •<br />
Was tun …<br />
… wenn mein Kind magersüchtig<br />
ist? Ein Gespräch mit<br />
Imke Neemann, Expertin für<br />
Essstörungen und Leitende<br />
Ärztin im Kinderkrankenhaus<br />
Wilhelmstift.<br />
Was ist eine Magersucht<br />
und wer ist betroffen?<br />
Die Ursachen sind komplex.<br />
Häufi g liegt ein seelischer<br />
Konfl ikt zugrunde – vor<br />
allem bei jungen Mädchen<br />
ab dem 14. Lebensjahr. Jungen<br />
sind seltener betroffen.<br />
Häufi g sind es stille, angepasste<br />
Mädchen, harmoniebedürftig<br />
und mit dem<br />
Wunsch, die Erwartungen<br />
der Eltern zu erfüllen.<br />
Was sind Alarmsignale?<br />
Es gibt viele Anzeichen: von<br />
der charakterlichen Veränderung<br />
bis hin zu körperlichen<br />
Anzeichen, die vom<br />
gesamten Umfeld – Eltern,<br />
Geschwistern, Freunden,<br />
Kinderärzten, Sporttrainern<br />
– mit Sorgfalt zu beobachten<br />
sind.<br />
Wie sind die Behandlungserfolge?<br />
Wichtigster Faktor für den<br />
Heilungserfolg ist die Zeit<br />
zwischen Erkrankungsbeginn<br />
und spezialisierter<br />
Behandlung. Die Hälfte der<br />
Adressen für Betro ene<br />
Kinder und Jugendlichen<br />
wird geheilt, bei 20 bis 30<br />
Prozent tritt eine Besserung<br />
ein. Im Durchschnitt vergehen<br />
fünf bis sechs Jahre bis<br />
zur Heilung.<br />
Gibt es mehr magersüchtige<br />
Kinder als früher?<br />
Das Problembewusstsein<br />
für Essstörungen bei<br />
Jugendlichen hat zugenommen.<br />
Dabei führen die<br />
gesellschaftlich vermittelten<br />
Wunschvorstellungen über<br />
Gewicht und Figur zu einer<br />
Realität, in der sich die<br />
Hälfte der Jugendlichen als<br />
zu dick empfi ndet.<br />
Was müssen die Patienten<br />
erlernen?<br />
Neben einem normalen Essverhalten<br />
geht es vor allem<br />
darum, wieder ein Gefühl<br />
für den eigenen Körper zu<br />
bekommen. Die Kinder und<br />
Jugendlichen – und oft auch<br />
ihre Eltern und Geschwister<br />
– müssen lernen, sich<br />
auszudrücken und vor allem<br />
mit Konfl ikten umzugehen.<br />
Hamburger Zentrum für Essstörungen Bundesstraße 14,<br />
20146 Hamburg, Telefon 040 – 4 50 51 21<br />
Die Brücke – Essstörungsbereich Beratungs- und<br />
Therapiezentrum e.V. Durchschnitt 27, 20146 Hamburg,<br />
Telefon 040 – 4 50 44 83<br />
Kajal – Essstörungsberatung für jugendliche Mädchen<br />
und junge Frauen Hospitalstr. 69, 22767 Hamburg<br />
Telefon 040 – 380 69 87<br />
www.kkh-wilhelmstift.de, www.bzga-essstoerungen.de