Aussteigen in Faro, Aufklären in Kabul TITELTHEMA Seite 04 - KV
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<strong>KV</strong>_02_2006_3 10.<strong>04</strong>.2006 11:12 Uhr <strong>Seite</strong> 3<br />
GEISTLICHES WORT<br />
Der Angst widerstehen<br />
Der laute Ruf Jesu am Kreuz ist Ausdruck der vollkommenen<br />
Verlassenheit. ER musste, so überliefert<br />
es Markus, die Erfahrung machen, dass Gott sich<br />
ihm total entzieht. Am Kreuz blieb ihm nur noch<br />
„die dunkle Leere des Nichts und Niemand“ (Peter<br />
Köster). Und dennoch ist der laute Schrei nicht e<strong>in</strong><br />
Schrei der Verzweiflung, sondern e<strong>in</strong> letztes Festhalten<br />
an dem Vater, der auf das Schreien des Armen<br />
hört und se<strong>in</strong> Antlitz vor dem Elend nicht verbirgt<br />
(Ps 22,25).<br />
Die Beobachter reagieren mit mutwilliger Verwechslung<br />
und legen Christi Vertrauen auf Gott als e<strong>in</strong><br />
Vertrauen auf Elija aus, der im jüdischen Glauben<br />
als Nothelfer gilt, der dem Gerechten <strong>in</strong> der Todesstunde<br />
beistehen wird. So wollen die spottenden<br />
Beobachter abwarten, ob dieser Nothelfer auch<br />
kommt und ihn vom Kreuz herunterholt.<br />
ER bleibt bis zum letzten Schrei den irdischen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
unterworfen, aber nichts und niemand konnte<br />
ihm die Freiheit nehmen, den Willen se<strong>in</strong>es Vater<br />
zu erfüllen. Es gibt die unheimliche Macht menschlicher<br />
Angst, das Gegenteil dessen zu tun, was wir<br />
wollen. Dieser Angst hat ER widerstanden und ist<br />
damit für die Glaubenden zu e<strong>in</strong>em Zeichen geworden,<br />
auf welchem Weg der Mensch letztlich zu Gott<br />
gelangt und damit nicht im endgültigen Tod vers<strong>in</strong>kt.<br />
Es kommt letztlich darauf an, die Passion nach Markus<br />
nicht nur als Bericht zu lesen, sondern das Zeugnis<br />
vom Tod Jesu <strong>in</strong> das eigene Leben zu nehmen.<br />
Und so ist zu fragen: Welche Situationen habe ich<br />
erlebt, <strong>in</strong> denen ich ke<strong>in</strong>en anderen Weg sah, als gegen<br />
me<strong>in</strong>e Überzeugung zu handeln? Welche tiefstmenschliche<br />
Angst hat mich zum Widers<strong>in</strong>nigen gezwungen?<br />
Kann die Haltung, mit der ER <strong>in</strong> den Tod<br />
g<strong>in</strong>g, mich überzeugen, den Kreislauf der Angst, der<br />
<strong>in</strong>s Verderben führt, zu durchbrechen, <strong>in</strong>dem ich im<br />
Angesicht der Angst wahrhaftig und damit menschlich<br />
bleibe und nicht der Versuchung von Lüge<br />
und/oder Gewalt erliege?<br />
Der Hauptmann erkennt vom Schlusspunkt des irdischen<br />
Lebens her, wer dieser Jesus ist und erlebt<br />
das Sterben des Gottessohnes als Epiphanie: ER offenbart<br />
sich im wortlosen Todesschrei als Sohn<br />
Gottes.<br />
Jesus aber ließ e<strong>in</strong>en lauten Schrei und hauchte<br />
den Geist aus. Da spliss der Vorhang des Tempels<br />
entzwei von oben bis unten. Als aber der Hauptmann,<br />
der ihm gegenüber dabei stand,ihn so den<br />
Geist aushauchen sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser<br />
Mensch war Gottessohn!<br />
(Mk 15,37-39)<br />
Gregor der Große sagt: Die Heilige Schrift hat die<br />
Besonderheit, dass sie „durch e<strong>in</strong> und dasselbe Wort<br />
e<strong>in</strong>e Episode erzählt und e<strong>in</strong> Mysterium enthüllt“<br />
(Mor. XX, 1.11). Diesen über den Buchstaben h<strong>in</strong>ausgehenden<br />
S<strong>in</strong>n, die Väter nennen ihn Allegorie, gilt<br />
es immer wieder neu zu entdecken. E<strong>in</strong> berühmtes<br />
Distichon aus dem Mittelalter hält fest:<br />
Littera gesta docet, quid credas allegoria,<br />
Moralia quid agas, quo tendas anagogia.<br />
Der Buchstabe (littera) erzählt die sichtbaren Fakten,<br />
die Allegorie das <strong>in</strong> der Geschichte verborgene Geheimnis,<br />
die Wahrheit des Heiles, die Gegenstand<br />
des Glaubens (quid credas) ist. Die Schrift hat weiterh<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>en moralischen S<strong>in</strong>n (quid agas), e<strong>in</strong>e Bedeutung<br />
für die Gestaltung des Lebens aus dem<br />
Glauben. Die Schrift führt den Glaubenden letztlich<br />
<strong>in</strong> die Bewegung auf die letzgültige Ausrichtung<br />
(anagogia), denn sie ermöglicht e<strong>in</strong>en durch die<br />
Hoffnung geöffneten Blick auf die Zukunft h<strong>in</strong>, die<br />
Auferstehung, die uns <strong>in</strong> der Taufe bereits zuteil<br />
wurde.<br />
Hans-Joachim Leciejewski<br />
Hans-Joachim Leciejewski<br />
AM 03