Gesellschafts- politische Kommentare - Leo Schütze Gmbh
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gpk SONDERAUSGABE<br />
gpk<br />
G 13550<br />
GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 1<br />
Sonderausgabe<br />
zum<br />
Abbott-Forum<br />
2007<br />
<strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong><br />
<strong>Kommentare</strong><br />
Berlin/Bonn, März 2008<br />
49. Jahrgang, Sonderausgabe Nr. 2<br />
Einzelpreis: EUR 4,00 März 2008<br />
Das umstrittene Prinzip –<br />
Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />
Editorial<br />
Hans-Joachim Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />
Grußwort<br />
Silke Lautenschläger, Hessische Sozialministerin . . . . . . . . . . . . 3<br />
Zugriff oder Übergriff<br />
Aufgaben des Staates im Gesundheitswesen<br />
Herbert Rebscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4<br />
Integrierte Versorgung<br />
Populationsorientiert ist sie ein wettbewerbliches Zukunftsmodell<br />
Volker Amelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />
Solidarisch oder risikoorientiert?<br />
Ohne Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen<br />
stimmt das Anreizsystem nicht<br />
Eckhard Knappe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
Der mündige Patient<br />
Eine deutliche Mehrheit will an Entscheidungen zu Diagnostik<br />
und Therapie beteiligt sein<br />
Marie-Luise Dierks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />
Grenzen der Ökonomisierung<br />
Schleichende Rationierung im GKV-System muss offen und<br />
ehrlich thematisiert werden<br />
Ekkehard Ruebsam-Simon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />
Positionen von Teilnehmern des Abbott-Forums 2007 . . . 27<br />
Wettbewerb ist nicht Anarchie<br />
Auch im Gesundheitswesen würde Wettbewerb zu besseren<br />
Ergebnissen führen<br />
Wulff-Erik von Borcke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />
Autoren dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 2<br />
Editorial<br />
Neues tut sich schwer in einem Gesundheitssystem,<br />
das in seinen Grundzügen vor 130 Jahren<br />
begründet wurde – und damit auch 130 Jahre Zeit<br />
hatte, sich zu verfestigen. Doch es geht um einiges:<br />
um die Leistungsfähigkeit einer tragenden Säule<br />
unseres sozialen Sicherungssystems und um die<br />
Entfaltung eines Zukunftsmarktes, in dem schon<br />
jetzt in Deutschland 4 Millionen Menschen beschäftigt<br />
sind, in dem 250 Milliarden Euro umgesetzt<br />
werden und den die Ökonomen zur „Wirtschaftslokomotive“<br />
oder zur „Zukunftsbranche Nr. 1“ erklärt<br />
haben.<br />
Bisher ist man den stets neu sprießenden Unzulänglichkeiten<br />
des Systems in <strong>politische</strong>m Gleichmut<br />
mit immer neuen gesetzlichen Interventionen<br />
begegnet. Letztlich mit dem „GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz“,<br />
dessen Namen leider nicht Programm<br />
ist. Es ermöglicht zwar sowohl kollektive als<br />
auch individuelle Verträge zwischen den am Gesundheitsmarkt<br />
Beteiligten und wird mittelfristig<br />
auch deutlich wahrnehmbare Veränderungen im<br />
deutschen Gesundheitswesen hervorbringen. Wir<br />
sehen aber auch neue zentralistische Elemente<br />
und denken dabei an die Machtkonzentration beim<br />
Gemeinsamen Bundesausschuss, beim Institut für<br />
Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen<br />
und auch beim neuen Spitzenverband Bund.<br />
Letztlich orientiert sich das Reformgeschehen immer<br />
noch an den Tagesopportunitäten: Kassenlage,<br />
Widerstandskraft der Betroffenen, Medienecho.<br />
Historisch gewachsene Widersprüche bleiben<br />
ungeklärt, neue werden hinzureformiert. Ergebnis:<br />
jedermann stöhnt über die Überregulierung<br />
des Systems.<br />
Aber diese Methode hat sich erschöpft. Das System<br />
selbst steht inzwischen auf dem Prüfstand.<br />
Mehr „Wettbewerb“ gilt zwar generell als ausgemacht<br />
in den gesundheits<strong>politische</strong>n Salons, aber<br />
das Misstrauen ist unüberhörbar und eine ordnungs<strong>politische</strong><br />
Richtung ist nicht erkennbar. Der<br />
Geist des „Wettbewerbs“ ist im System noch nicht<br />
angekommen – kann er auch nicht, denn Wettbe-<br />
werb hat auch etwas mit gewinnen und verlieren zu<br />
tun und diesem Risiko möchte man sich generell<br />
nur ungern aussetzen. Das Nachsehen hat der<br />
Patient, der, umarmt von Überfürsorge, das Mündel<br />
bleibt, in dessen Namen andere die Beschlüsse<br />
fassen.<br />
Auch die Fachdiskussion bleibt vielfach an der<br />
Oberfläche. Grund für das Abbott-Forum, das Thema<br />
„Wettbewerb im Gesundheitswesen“ auf seine<br />
Agenda 2007 zu heben. Damit will das Abbott-<br />
Forum einen Beitrag leisten, die Reformdiskussion<br />
zu entwirren und Grundsteine für ihre Fortentwicklung<br />
zu legen. Es zerlegt das Thema „Wettbewerb<br />
im Gesundheitswesen“ in seine tragenden Elemente:<br />
Generelle Leistungsfähigkeit des Wettbewerbs,<br />
Standardisierbarkeit des Produkts „Gesundheitsleistung“,<br />
Rolle des Arztes, der Krankenkassen<br />
und des Patienten im Wettbewerbsprozess.<br />
Zu diesen Themenfeldern haben auf dem Abbott-<br />
Forum vom 25. September 2007 Sachverständige<br />
mit Sachverständigen diskutiert – über Strukturprobleme<br />
und Lösungsbeispiele. Sie haben ihre Konzepte<br />
vorgetragen, sie auf den Prüfstand gestellt<br />
und sicherlich auch neue Sichtweisen eröffnet. Um<br />
die Diskussion lebendig zu halten und in dem einen<br />
oder anderen Fall zu vertiefen, wurden die Teilnehmer<br />
gebeten, im Nachgang ihre Kernforderungen<br />
zum „Wettbewerb im Gesundheitswesen“ zu formulieren.<br />
Auf den folgenden Seiten finden Sie nun sowohl die<br />
Referate als auch die Kernforderungen der Teilnehmer.<br />
In Abstimmung mit den Referenten haben wir<br />
uns erlaubt, den Sprechtext der Bandaufzeichnung<br />
zum Lesetext aufzubereiten, und hoffen damit, die<br />
Lebhaftigkeit des gesprochenen mit der Nachvollziehbarkeit<br />
des geschriebenen Wortes zu verknüpfen.<br />
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.<br />
Hans-Joachim Fischer
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 3<br />
Grußwort<br />
von Silke Lautenschläger, Hessische Sozialministerin<br />
Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der<br />
gesetzlichen Krankenversicherung haben Bundestag<br />
und Bundesrat unverrückbar die Weichen zu mehr<br />
Wettbewerb im Gesundheitswesen gestellt. Dieses<br />
Mehr an Wettbewerb betrifft das Vertragsarztrecht,<br />
betrifft die Kassen mit der Einführung von Wahltarifen,<br />
betrifft den Hilfsmittelbereich und auch weitere Regelungen.<br />
Das Land Hessen hätte sich ein noch konsequenteres<br />
Vorgehen der Bundesregierung gewünscht,<br />
aber diese Weichenstellungen sind durchaus<br />
positiv zu bewerten.<br />
Die Einführung von Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />
ist ein fortlaufender Prozess, in dem immer wieder<br />
nachgesteuert werden muss. Wir brauchen Wettbewerb<br />
auf allen Ebenen und deswegen auch informierte<br />
und selbstbewusste Patienten, die zwischen verschiedenen<br />
Angeboten wählen und Mitverantwortung<br />
in der Behandlung übernehmen können. Wir brauchen<br />
motivierte Ärzte und leistungsfähige Krankenhäuser,<br />
die den Wettstreit um die beste Versorgungsleistung<br />
nicht scheuen.<br />
Wir brauchen Arzneimittelhersteller, die nach besseren<br />
Therapien forschen, weil sie wissen, dass sich die<br />
Innovationen auch für sie rechnen. Oder die sich<br />
bemühen, altbewährte Präparate besonders günstig<br />
anzubieten, weil sie auch davon profitieren. Wir brauchen<br />
leistungsfähige Krankenkassen, die professionell,<br />
flexibel und serviceorientiert arbeiten und die in<br />
der Lage sind, ihren Versicherten gute Versorgungsqualität<br />
zu günstigen Preisen anzubieten.<br />
Basis für Wettbewerb ist gelegt<br />
Ein wichtiger Schlüssel für mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit<br />
der gesundheitlichen Versorgung liegt<br />
auch in einer besseren Zusammenarbeit zwischen<br />
Krankenhäusern und Arztpraxen. Allerdings können<br />
integrierte Versorgungsverträge ihr qualitatives und<br />
ökonomisches Potenzial erst dann wirklich entfalten,<br />
wenn sie möglichst flächendeckend und für die Behandlung<br />
der großen Volkskrankheiten zur Verfügung<br />
stehen. Künftig können Krankenkassen allein oder im<br />
Verbund im erweiterten Umfang mit Ärzten besondere<br />
Vereinbarungen treffen, die von der kollektivvertraglichen<br />
Versorgung abweichen oder darüber hinausgehen.<br />
Ärzte ihrerseits können einzeln oder als Gruppe<br />
Vertragspartner sein. Auch wenn hier nicht kurzfristig<br />
eine Vielzahl neuer Verträge zustande kommt, so ist<br />
das doch die Basis für einen echten Wettbewerb um<br />
qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgungsangebote.<br />
Zusammen mit dem seit dem 1. Januar 2007 geltenden<br />
Vertragsarztrechtsänderungsgesetz bieten sich<br />
nun völlig neue Betätigungsmöglichkeiten sowohl für<br />
niedergelassene Ärzte als auch für Krankenhausärz-<br />
te. Durch die Flexibilisierung des Zulassungsrechtes<br />
wird nicht nur eine bessere Vereinbarkeit von Familie<br />
und Beruf erreicht, sondern auch die Verknüpfung<br />
zwischen ambulanter und stationärer Versorgung<br />
verbessert. Zusätzlich ergänzt um die Reform der<br />
vertragsärztlichen Gebührenordnung, die Leistungen<br />
nicht mehr nach Punkten, sondern in Euro bewertet<br />
und damit die ambulante Vertragstätigkeit wieder besser<br />
kalkulierbar macht, entsteht hier ein in sich geschlossenes<br />
Reformpaket, das die ärztliche Tätigkeit<br />
stark verändern kann, wenn die neuen Möglichkeiten<br />
von der Ärzteschaft und den Krankenkassen auch<br />
offensiv genutzt werden.<br />
Wettbewerb bedeutet aber auch, dass die Krankenkassen<br />
ihre Angebots- und Tarifgestaltung stärker an<br />
den unterschiedlichen Bedürfnissen der Versicherten<br />
orientieren. Das vorliegende Gesetz eröffnet den<br />
Krankenkassen deutlich erweiterte Vertragsmöglichkeiten<br />
für besondere Versorgungsangebote und eine<br />
weitgehende Gestaltungsfreiheit bei den Tarifen.<br />
Gesundheitsfonds nicht unterschätzen<br />
Der Gesundheitsfonds bewirkt die Trennung von einkommensbezogenen<br />
Beitragseinnahmen und risikoorientierten<br />
Einnahmen der Krankenkassen. Diese<br />
strukturelle Änderung darf nicht unterschätzt werden.<br />
Der Fonds weist den Krankenkassen pro Versicherten<br />
eine einheitliche um Risikokomponenten angepasste<br />
Pauschale zu. Dies ist ein wichtiger und richtiger<br />
Schritt hin zur Entkopplung der Gesundheitsausgaben<br />
von den Lohnkosten. Aber auch ein wichtiger<br />
Schritt hin zu mehr Wettbewerb um eine bessere<br />
Versorgung anstelle des heutigen Wettbewerbs um<br />
die besten Versicherungsrisiken.<br />
Im Gesetzgebungsverfahren hat Hessen zusammen<br />
mit anderen Ländern über den Bundesrat eine Reihe<br />
von Verbesserungen in der Arzneimittelversorgung<br />
durchsetzen können. Wesentliches Anliegen<br />
hierbei war es, den Zugang der Patienten zu wirksamen<br />
Therapien sicherzustellen. Zum anderen soll<br />
Deutschland als ein Standort für die forschende Industrie<br />
attraktiv bleiben. Denn diese leistet einen<br />
wichtigen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit und zur<br />
Beschäftigung.<br />
Die Gesundheitsreform ist sicherlich keine Jahrhundertreform.<br />
Wenn auch Hessen sich eine noch stärkere<br />
Wettbewerbsorientierung im Gesundheitswesen,<br />
allerdings immer begleitet von Regelungen für einen<br />
fairen Wettbewerb, sehr gut vorstellen kann, so ist<br />
doch mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz zumindest<br />
ein nicht mehr rückgängig zu machender<br />
Wettbewerbsrahmen geschaffen worden. Ich wünsche<br />
Ihnen eine gute Tagung.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 4<br />
Zugriff oder Übergriff<br />
Aufgaben des Staates im Gesundheitswesen<br />
Von Herbert Rebscher<br />
Die Diskussion um Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />
reicht bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts<br />
zurück. Es ist eine Diskussion, die weitgehend<br />
von Parolen lebt und nicht vom konkretisierten Sachargument.<br />
Um ihren Reformmaßnahmen eine höhere Weihe zu<br />
geben, hat insbesondere die Politik den Begriff des<br />
„Wettbewerbs“ politisch und ökonomisch dermaßen<br />
verunstaltet, dass die gesetzlichen Krankenkassen<br />
(GKV) jetzt tatsächlich eher gehindert sind, sinnvolle<br />
Wettbewerbsstrategien zu entwerfen.<br />
Mit dem inhaltlichen bzw. mit dem instrumentellen<br />
Charakter des Wettbewerbskonzepts und des Gesundheitsmarktes<br />
hat das nichts mehr zu tun.<br />
Die Kernfrage ist: Welche Rolle soll Wettbewerb in<br />
diesem System haben und was soll er instrumentell<br />
leisten können? Wo brauchen wir vielleicht auch nur<br />
verlässlichere Planungsprozesse oder einklagbare<br />
Rechte für Betroffene?<br />
Unterschiedliche Inanspruchnahme von<br />
Leistungen<br />
Zunächst ein gesundheitsökonomisches Grundfaktum:<br />
Eine schon alte, aber weiterhin gültige Faustformel<br />
besagt, dass rund 20 Prozent der Menschen<br />
80 Prozent der Leistungen benötigen. In meiner<br />
Kasse, der Deutschen Angestellten-Krankenkasse<br />
(DAK), ist dieses Verhältnis sogar noch verschärft: Da<br />
brauchen 15 Prozent der Menschen ungefähr 85 Prozent<br />
aller Leistungen.<br />
Mit diesem Grundfaktum müssen wir lernen umzugehen.<br />
Im Umkehrschluss heißt das nämlich, dass wir<br />
eine große Versichertenklientel haben, die gar keine<br />
oder kaum Leistungen in diesem System in Anspruch<br />
nimmt. Und wenn man nachforscht, wo dann überhaupt<br />
die relevanten Leistungsausgaben anfallen,<br />
dann erhält man als Ergebnis: erstens nur bei 15 bis<br />
20 Prozent der Menschen und zudem im Jahr kurz vor<br />
dem Tod. Um es zu betonen: Ausschlaggebend ist<br />
nicht das hohe Alter, sondern ausschlaggebend sind<br />
die Monate kurz vor dem Tod.<br />
Was heißt das für unseren Wettbewerbsbegriff? Zunächst<br />
existiert eine Marktspaltung in preisreagible<br />
Nichtleistungsempfänger und in leistungsreagible<br />
Versorgungsempfänger kurz vor und mitten in existenziellen<br />
Lebenskrisen. Damit müssen wir umgehen<br />
lernen und unsere Instrumente entsprechend<br />
justieren.<br />
Der soziale Charakter der<br />
Gesetzlichen Krankenversicherung<br />
steht auf dem Spiel<br />
■ Zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen<br />
Krankenversicherung wird ein Leistungsverweigerungs-Wettbewerb<br />
belohnt.<br />
■ Ein Qualitätswettbewerb wird ökonomisch<br />
diskriminiert.<br />
■ „Wirtschaftliche Kassen brauchen keine<br />
Prämie, unwirtschaftliche Kassen brauchen<br />
eine Prämie“ – so die gefährlich falsche <strong>politische</strong><br />
Botschaft. Das Gegenteil ist richtig!<br />
■ Zusatzprämie als alleiniger Wettbewerbsparameter<br />
– gegen jede gesundheitsökonomische<br />
Logik.<br />
Fataler Kurzschluss<br />
In diesem Punkt ist dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz<br />
(GKV-WSG) ein fataler Kurzschluss unterlaufen.<br />
Dieses Gesetz setzt nämlich durchgängig auf<br />
Preisreagibilität und vernachlässigt damit in eklatanter<br />
Weise die notwendige Orientierung an Leistungsinhalten.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 5<br />
Das lässt sich sehr gut an dem – sicherlich ähnlich<br />
dem Wettbewerbsbegriff – sehr strapazierten Effizienzbegriff<br />
darstellen: Effizienz heißt nichts anderes,<br />
als eine definierte Leistung (und Qualität) möglichst<br />
wirtschaftlich, also zu möglichst geringen Kosten, zu<br />
erbringen.<br />
Effizienz kann im Gesundheitssystem nicht heißen,<br />
diese Leistung schlicht zu exekutieren, in dem man<br />
sich als Versicherer subtile Risikoselektionsstrategien<br />
ausdenkt oder indem man als Leistungserbringer in<br />
„lohnende“ Leistungskomplexe, aber nicht in die versorgungsintensiven,<br />
die chronischen oder sonstigen<br />
aufwändigen Behandlungsprozesse investiert.<br />
Wer sinnvollerweise von Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />
sprechen will, muss hier ansetzen, in dem Teil<br />
des Marktes, in dem vier Fünftel der Finanzmittel<br />
ausgegeben werden und der nahezu keine Nachfrageelastizität<br />
hat. Oder wir einigen uns darauf, dass wir<br />
über Wettbewerb nur in Randmärkten sprechen.<br />
Wir müssen also die Versorgung im Hochleistungsfall<br />
als das eigentliche ökonomische Problem begreifen<br />
und dann sehr genau untersuchen, ob unsere ökonomischen<br />
Instrumente und unsere Anreizstruktur mit<br />
den gesellschaftlich und politisch gewollten Zielen für<br />
diesen Bereich übereinstimmen.<br />
Qualitätsorientierte Vertragsstruktur wird<br />
verhindert<br />
Das GKV-WSG wird diesem ökonomischen Diktat in<br />
keiner Weise gerecht. Der Staatsfonds hat nichts mit<br />
„Zuteilungsgerechtigkeit“ zu tun. Diese könnte auch<br />
der Risikostrukturausgleich (RSA) herstellen, wenn<br />
man ihn denn technisch so ausstattet, wie man ihn<br />
jetzt ausstatten möchte. Aber die Suggestion des Einheitspreises<br />
via Staatsfonds hat eine ganz problematische<br />
Anreizwirkung. Er suggeriert der Bevölkerung,<br />
der Preis für die gesetzliche Krankenversicherung in<br />
Deutschland sei gleich, und er suggeriert ebenso,<br />
dass auch die Leistung gleich sei.<br />
Beides ist aber ein Irrtum und sicherlich alles andere<br />
als ein Anreiz für Wettbewerbsorientierung. Unterstrichen<br />
wird dieser Irrtum auch von der offiziellen<br />
Begründung dieses Gesetzes.<br />
Denn hierin wird behauptet, dass eine Krankenkasse,<br />
die mit der Zuweisung aus dem Staatsfonds ökonomisch<br />
nicht klarkommt und deshalb 10 oder 15 Euro<br />
als Zusatzprämie erheben muss, unwirtschaftlich sei,<br />
und eine Kasse, die mit dieser Zuweisung so gut<br />
klarkommt, dass sie noch 10, 15 oder 20 Euro zurücküberweisen<br />
kann, wirtschaftlich sei.<br />
Das aber ist der Startschuss für Risikoselektion und<br />
nicht für eine qualitätsorientierte Vertragsstruktur. Das<br />
Gegenteil wäre richtig: Die qualitätsorientierten Vertragsstrukturen<br />
müssen zentrale Steuerungseinheit<br />
werden und dürfen nicht auch noch zum Katalysator<br />
für Risikoselektion werden. Dafür aber sorgt exakt<br />
dieses Gesetz.<br />
Tiefschlag für Leistungs- und<br />
Qualitätswettbewerb<br />
Im Kern ist dieses Gesetz ein Tiefschlag für jeden<br />
leistungs- und qualitätsorientierten Wettbewerbsansatz,<br />
weil es suggeriert, dass geringe Ausgaben einer<br />
Krankenkasse pro Versichertem per se für eine wirtschaftliche<br />
Leistungserbringung sprechen.<br />
Hierzu ein Beispiel: Ein junges Ehepaar um die 30<br />
bekommt sein zweites Kind und lebt in einer Mietwohnung<br />
für 500 Euro. Und jetzt müssen wir begründen,<br />
dass die eine Krankenkasse 20 Euro Zusatzprämie<br />
verlangt und die andere Kasse 20 Euro zurückzahlt.<br />
Mit welchem Argument wollen wir das tun? Wir erreichen<br />
diese Familie in einer hoch preisreagiblen Situation,<br />
die Konsumquote dieser jungen Familie wird<br />
annähernd 100 Prozent sein, das heißt, 20 Euro netto<br />
im Monat sind für sie ein beachtlicher Betrag.<br />
Die Begründung für die unterschiedlichen Preisdeltas<br />
zwischen Krankenkassen bildet in der Lebenssituation<br />
dieser Familie keinerlei Nutzen ab. Das lässt sich<br />
auch nicht durch kompetente Beratung oder etwa mit<br />
Hinweis auf einen guten Vertrag in der geriatrischen<br />
Rehabilitation auffangen.<br />
Die Mitgliedschaft in dieser Krankenkasse wird jedenfalls<br />
nur preisreagibel entschieden und damit das<br />
Problem der Risikoentmischung verschärfen.<br />
Unökonomischer Ansatz<br />
Weitere These: Alle darauf aufbauenden Instrumentarien<br />
der Honorierung, und ich nehme mal das Beispiel<br />
DRG als möglichst leistungsorientiertes Vergütungsmodell,<br />
das wir auch für den ambulanten Bereich<br />
entwickeln wollen, setzen auf ein Wettbewerbsmodell<br />
des selektiven Kontrahierens.<br />
Das ist als solches ja sogar erwünscht. Hier aber ist<br />
die Selektion mit der Botschaft verbunden: Kontrahiert<br />
mit den billigsten Anbietern, dann vermeidet man eine<br />
Zusatzprämie.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 6<br />
Das ist ein völlig unökonomischer Ansatz. Der Versicherer<br />
muss mit dem Effizientesten kontrahieren.<br />
Dafür müssen wir für den Kontrakt ein Preis/Leistungs-Verständnis<br />
entwickeln.<br />
Denn es geht ja nicht um den unmittelbar erfahrbaren<br />
Nutzen und ein kurzfristig sinnvolles Preiskalkül, sondern<br />
um den mittel- und langfristigen Nutzen bei der<br />
Verhinderung oder Verringerung von Gesundheitsschäden.<br />
Das DRG-Modell bildet aber in seinem Ranking nichts<br />
von Qualität ab, sondern nur den Preisstatus. Wir<br />
brauchen also dazu zwingend so etwas wie parallele<br />
Qualitätsrankings, um überhaupt das Wort „Effizienz“<br />
in den Mund nehmen zu dürfen.<br />
Selektives Kontrahieren<br />
Die Krux dabei aber ist: Qualitätsrankings diskriminieren<br />
die Qualität. Denn dadurch wird das Bemühen<br />
wachgerufen, möglichst die Benchmark zu erreichen<br />
oder gar selbst zu definieren. Und hierfür werden<br />
dann komplexe Krankheitsfälle eher verdrängt und<br />
leichtere Fälle angezogen.<br />
Für ein selektives Kontrahieren fehlt dem heutigen<br />
Gesundheitssystem so ziemlich jede methodische<br />
Grundlage – erst recht, wenn wir dieses selektive<br />
Kontrahieren ernsthaft und verantwortbar zum Gegenstand<br />
von Vertragsmustern machen wollen. Dafür<br />
bräuchten wir verlässliche, messbare und verbindliche<br />
Qualitätsindikatoren – davon sind wir weit entfernt.<br />
Ähnlich ist es auf Kassenseite. Das Preisdelta bildet<br />
nur die zufällige aus der Vergangenheit gewonnene<br />
Morbidität ab, nicht die Frage der Wirtschaftlichkeit.<br />
Und auch hier ist verhängnisvoll, was sozialpolitisch<br />
und gesundheitspolitisch von uns erwartet wird, nämlich<br />
Beratung vor Ort zu organisieren. Beratung vor<br />
Ort korreliert mit der Attraktivität für leistungsintensive<br />
Fälle, für chronisch Kranke, für Behinderte und viele<br />
andere akute Leistungsfälle und passt nicht in ein von<br />
der Politik geplantes „Preissteuerungsmodell“.<br />
Ernsthafter Rückschritt<br />
Ich halte das beschlossene GKV-WSG für einen wirklich<br />
ernsthaften Rückschritt in der gesundheitsökonomischen<br />
Debatte der letzten 20 Jahre. Es wurden<br />
zentral falsche ökonomische Anreize als Systemelemente<br />
eingeführt, deren Dramatik man in Kürze gar<br />
nicht skizzieren kann. Wenn man dann noch die Bedingungen<br />
der Finanzierungsmechanik, Gesundheitsfonds,<br />
Zusatzprämie und 1-Prozent-Zuzahlungs-<br />
Logik für sozial Schwache einbezieht, dann wird es<br />
noch verrückter.<br />
Kein lebender Deutscher dürfte begründen können,<br />
was man da gesetzlich formuliert hat. Entsprechend<br />
ist es deshalb kein Wunder, dass sich der gesamte<br />
deutsche Sachverstand bei Ärzteschaft, Krankenhäusern,<br />
Krankenkassen und Wissenschaft einhellig, wie<br />
ich es nie geglaubt hätte, gegen die Grundstruktur<br />
dieses Gesetzes gewandt hat.<br />
Sicherlich brauchen wir uns hier nicht um eine intellektuelle<br />
Durchdringung von Wahltarifen in einem solidarischen<br />
Modell zu bemühen. Das ist im Grunde<br />
ordnungs<strong>politische</strong>r Unsinn.<br />
Das ist eine Anleihe an risikoäquivalente Modelle der<br />
privaten Krankenversicherung, die in einem solidarisch<br />
finanzierten Modell nur dazu führen, dass das<br />
individuelle Kalkül auf Finanzentzug jetzt legalerweise<br />
Platz greift. Das heißt, wir ziehen eine Menge Geld<br />
aus der Versorgung ab.<br />
Größere Staatsnähe und Staatsabhängigkeit<br />
Zurück zum Wettbewerbsbegriff: Das Wort Wettbewerb<br />
wird in dieses Gesetz ordnungspolitisch ziemlich<br />
wild eingestreut. Da wollte man wohl Regulierungsmacht<br />
demonstrieren und hat damit auch noch<br />
das, womit wettbewerbliche Interessen wenigstens<br />
ansatzweise verbunden waren, nämlich die frei gewählten<br />
Organisationsstrukturen in handlungsfähigen<br />
Größenordnungen, die Kassenärzte und andere Verbände,<br />
als Gestaltungsebene quasi auch noch eliminiert.<br />
Man hat einen staatlichen Spitzenverband geschaffen,<br />
der 80 Prozent der Leistungsausgaben regulieren<br />
wird. Das hat mit Wettbewerb überhaupt nichts mehr<br />
zu tun. Spielräume, die wir für einen Wettbewerb<br />
nutzen könnten, werden so immer mehr auf Randbereiche<br />
der Gesundheitsversorgung und der individuellen<br />
Nutzenabwägung reduziert.<br />
Jedenfalls wird die Einrichtung „Spitzenverband<br />
Bund“ – wir erwarten eine enge Führung des jeweils<br />
zuständigen Ministeriums – nicht in irgendeiner Form<br />
von irgendeiner Krankenkasse als ihre Interessenvertretung<br />
im <strong>politische</strong>n Raum anerkannt werden. Das<br />
sage ich in aller Deutlichkeit.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 7<br />
Mehr Staat –<br />
ein ordnungs<strong>politische</strong>r Rückschritt<br />
■ Durch SpiBu-Errichtung entfällt Steuerungsmöglichkeit.<br />
Kassen bei 70 Prozent ihrer<br />
Ausgaben keine Steuerungsmöglichkeiten.<br />
■ Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen<br />
und Leistungserbringern nicht weiter<br />
wettbewerblich geöffnet.<br />
■ Die einheitlich-staatliche Festsetzung der<br />
Beiträge eliminiert den Wettbewerbsparameter<br />
„unterschiedlicher Beitragssatz“.<br />
■ Fazit: Die Prämie wäre einziger Wettbewerbsparameter.<br />
Der Wettbewerb würde<br />
sich dann nur noch auf gesunde Versicherte<br />
konzentrieren.<br />
Der Spitzenverband Bund ist ein Stück mehr Staat,<br />
er bedeutet größere Staatsnähe und Staatsabhängigkeit<br />
– und blockiert gerade dann, wenn man<br />
das Instrument Wettbewerb nicht als Prinzip, sondern<br />
ganz pragmatisch, ganz zielführend und ge-<br />
Kernthesen von Prof. Dr. Herbert Rebscher<br />
■ Da gerade mal 20 Prozent der Patienten<br />
80 Prozent der Leistung abrufen, ist der Gesundheitsmarkt<br />
in zwei völlig unterschiedliche<br />
Marktsegmente gespalten: den der preisreagiblen<br />
Gesunden und den der leistungsreagiblen<br />
Kranken.<br />
■ Ein funktionierender Wettbewerb muss somit<br />
in diesem total nachfrage-unelastischen<br />
Marktsegment der Hochleistungsmedizin ansetzen<br />
– andernfalls bleibt er ein Randwettbewerb.<br />
■ Das GKV-WSG hat eine falsche Steuerungswirkung:<br />
Es setzt den Wettbewerb bei der<br />
Zusatzprämie an, somit allein beim Preis. Das<br />
sundheitsökonomisch verantwortlich in das System<br />
einbauen will.<br />
Diametraler Gegensatz zum Versorgungsauftrag<br />
Und letztlich: Die einheitliche Festsetzung des Beitragssatzes<br />
auf einem Niveau von mittelfristig 95 Prozent<br />
der Leistungsausgaben wird dem System massiv<br />
Geld entziehen – strukturell und dauerhaft.<br />
Und die Auswirkungen dann dem fragwürdigen Anreizmechanismus<br />
der Zusatzprämie in die Hand zu<br />
geben und damit zu versuchen, qua Risikoselektion<br />
irgendwelche vermuteten Wirtschaftlichkeitsreserven<br />
zu heben, ist volkswirtschaftlich völlig unproduktiv.<br />
Das läuft unserem Versorgungsauftrag diametral entgegen.<br />
Ich betone noch einmal: Das GKV-WSG halte<br />
ich für das gesundheitsökonomisch schlechteste Gesetz<br />
der letzten 20 Jahre in dieser Republik.<br />
Zumal die echten Wahl- und Freiheitsrechte aller Beteiligten<br />
eigentlich mit dem Gesetz zur Modernisierung<br />
des Gesundheitswesens im Jahre 2004 gekommen<br />
sind und nicht mit dem WSG des Jahres 2007.<br />
Uns bleibt die Aufgabe, zu diskutieren und dann aber<br />
auch zu definieren, welche Leistungen unter welchen<br />
Organisationsbedingungen erbracht werden sollen.<br />
© gpk<br />
ist der Startschuss für eine verschärfte Risikoselektion.<br />
Diese steht dem Versorgungsauftrag<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung diametral<br />
entgegen.<br />
■ Der Staatsfonds suggeriert den Einheitspreis<br />
und damit auch die Einheitsleistung –<br />
beides sind alles andere als Wettbewerb. Er<br />
eliminiert zudem den letzten Rest Beitragssatzwettbewerb.<br />
■ Wenn Wettbewerb im Gesundheitsmarkt<br />
wirklich steuern soll, kann es sich nur um einen<br />
Leistungs- und Qualitätswettbewerb handeln.<br />
Hierfür brauchen wir transparente Qualitätsrankings.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 8<br />
Integrierte Versorgung<br />
Populationsorientiert ist sie ein wettbewerbliches Zukunftsmodell<br />
Von Volker Amelung<br />
Für den Ökonom ist es selbstverständlich, aber nicht<br />
für alle Akteure in der gesundheits<strong>politische</strong>n Diskussion:<br />
Wettbewerb ist ein Suchprozess. Und ein Suchprozess<br />
bedeutet Fließgleichgewichte beachten, zu<br />
schauen, was funktioniert hat, immer wieder Anpassung,<br />
aber auch die stetige Bereitschaft, zu ändern<br />
und sich eventuell mit der second-best-Lösung zufriedenzugeben.<br />
Das ist eine ständige Aufgabe.<br />
Aber die öffentliche Diskussion ist weitgehend dominiert<br />
von der Vorstellung, dass jetzt der eine große<br />
Wurf gelingen müsse und das Thema damit durch sei.<br />
Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)<br />
war nicht die letzte Reform, sondern es wird immer<br />
weitere Reformen, immer wieder Anpassungsprozesse<br />
und Neubewertungen davon geben, welche Schritte<br />
erfolgreich waren, welche nicht und wie man dann<br />
sinnvollerweise weiter fortschreitet.<br />
Nicht überall ist Wettbewerb möglich<br />
Die Kernfrage lautet also: In welchen Bereichen des<br />
Gesundheitswesens wird Wettbewerb funktionieren<br />
und wo hat Wettbewerb nichts verloren. Es wird keine<br />
Generalformel geben, die die Beantwortung dieser<br />
Frage erübrigt. Nehmen wir beispielsweise die Palliativversorgung<br />
– ein klassischer Bereich, wo Wettbewerb<br />
als Prinzip nicht funktioniert.<br />
Deshalb ist es auch sinnvoll, diesen Bereich aus den<br />
Integrationsverträgen herauszunehmen. Hier brauche<br />
ich viel Planung und Organisation, muss funktionsfähige<br />
Zirkel aufbauen und die Leute an einen<br />
Tisch bringen.<br />
Wettbewerb ist wichtig und mir fällt nichts Besseres<br />
ein – das ist das übliche Argument für den Wettbewerb.<br />
Dennoch: Wo man sich mit der Problematik<br />
intensiver auseinandersetzen muss, z.B. bei der Integrierten<br />
Versorgung, sieht man, dass die Instrumente,<br />
die man in der populationsorientierten Integrierten<br />
Versorgung einsetzt, tendenziell wettbewerbsfeindlich<br />
sind. Ich möchte dies nicht an den bestehenden<br />
deutschen Modellen darlegen, sondern einmal in die<br />
Zukunft vorausgreifen.<br />
Wie man Integrierte Versorgung mit Wettbewerb vereinbaren<br />
kann, lässt sich sehr schön an einem Modell<br />
aus den USA deutlich machen: Hier wird populationsorientierte<br />
Integrierte Versorgung wirklich realisiert.<br />
Das Modell ist derzeit in Deutschland nicht umsetzbar,<br />
aber vielleicht in fünf oder zehn Jahren.<br />
Die Integrierte Versorgung ist eines der wenigen Themengebiete,<br />
die in der aktuellen Gesundheitspolitik<br />
und auch im Rahmen der neuesten Diskussionen<br />
nicht grundsätzlich hinterfragt wurden. Niemand sagt,<br />
wir wollen keine Integrierte Versorgung. Allerdings<br />
wird über die Details diskutiert, z.B. über Fragen der<br />
Anschubfinanzierung.<br />
Erfolgsfaktoren integrierter Systeme ...<br />
1. einheitliche und vernetzte IT-Infrastruktur,<br />
2. geographische Nähe der Einheiten,<br />
3. zentrale Steuerung und dezentrale Ausführung,<br />
4. starke und einheitliche Unternehmenskultur<br />
und<br />
5. adäquate Anreizsysteme und Kontrollsysteme<br />
Prof. Dr. Volker Amelung<br />
Natürlich ist die Anschubfinanzierung aus Sicht eines<br />
Ökonomen ein Paradebeispiel für Fehlanreize. Für<br />
einen Ökonomen ist das ein absurdes Instrument.<br />
Aber vielleicht braucht es das, vielleicht ist es die<br />
second-best-Lösung, vielleicht müssen wir Instrumente<br />
einsetzen, die dem Grundsatz widersprechen,<br />
bei denen wir aber keine andere Wahl haben.<br />
Impulse durch Paradigmenwechsel<br />
Die Integrierte Versorgung hat, und das ist deutlich<br />
hervorzuheben, einen wesentlichen Effekt gehabt,<br />
der nicht zu unterschätzen ist: Selbst bei uns an der
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 9<br />
Medizinischen Hochschule, ich erinnere mich sehr<br />
genau, wurde sofort, als die Gesetzgebung da war,<br />
nach Partnerschaften Ausschau gehalten. Ebenso bei<br />
den Krankenkassen.<br />
Was da der Gesetzgeber angestoßen hat, ist immens.<br />
Und ich glaube, dieser Paradigmenwechsel im Denken<br />
setzt viel stärkere Impulse als die einzelnen Verträge.<br />
Wir sollten uns viel weniger die einzelnen Verträge<br />
anschauen, sondern wir sollten uns anschauen, wie<br />
sich die Versorgungslandschaft, die Struktur des Systems,<br />
durch die Integrierte Versorgung verändert hat.<br />
Das Themengebiet Versorgungsforschung und Versorgungsmanagement<br />
hat einen ganz anderen Stellenwert<br />
bekommen. Das ist wichtig, das ist richtig. Und<br />
wir sollten hier nicht schon nach drei Monaten Ergebnisse<br />
erwarten. Die werden erst mittelfristig eintreten.<br />
Es geht zunächst einmal darum, einen anderen Weg<br />
einzuschlagen. Wir müssen uns doch die Frage stellen,<br />
wie muss ein System strukturiert sein, damit es<br />
15 Jahre wettbewerbsfähig ist. Und wenn man sich<br />
die Haupttreiber im Gesundheitssystem anschaut,<br />
sind es die Bereiche, die nach mehr Integration<br />
schreien.<br />
Haupttreiber: Demografie und Hochkostenfälle<br />
Da geht es zum einen um das Themengebiet Demografie.<br />
Darüber ist öffentlich genug diskutiert worden.<br />
Und es geht um die aufwändigen Volkskrankheiten,<br />
die Hochkostenfälle. Sie sind dominant. Demografie<br />
und Hochkostenfälle fordern Disease- und Case-Management<br />
und sind für die Integrierte Versorgung<br />
relevant.<br />
Nehmen wir konkrete Krankheiten. Da sind z.B. die<br />
psychischen Erkrankungen. Sie sind von zunehmender<br />
Bedeutung. Die Weltgesundheitsorganisation<br />
geht davon aus, dass im Jahr 2020 Depressionen den<br />
zweitgrößten Ausgabenblock verursachen werden.<br />
Wenn dem so ist, muss man sich schon jetzt überlegen,<br />
wie die Versorgungsstrukturen sinnvollerweise<br />
aufgebaut sein sollten. Sie müssen hausarztzentriert<br />
sein, sie müssen vernetzt, sie müssen wohnortnah<br />
sein.<br />
Man muss sich also ganz konkret überlegen, was<br />
diese langfristigen Veränderungen für meine Struktur<br />
bedeuten. Ähnlich die Volkskrankheit „Übergewicht“.<br />
In den USA haben mittlerweile 66 Prozent der Bevölkerung<br />
einen Body-Mass-Index von über 25. Das<br />
klassische Gesundheitssystem mit seinen starren<br />
Grenzen wird hier nichts bewirken können. Da muss<br />
man in die Kitas und in die Schulen rein, da braucht<br />
man neue Vernetzungsformen.<br />
Integrierte Versorgung ist mehr als ein Buzzword<br />
(Schlagwort), sie ist ein Zukunftsmodell. Medicare,<br />
die Versorgung der Amerikaner über 65, gibt 89 Prozent<br />
seiner Ausgaben für Versicherte aus, die drei<br />
oder mehr chronische Erkrankungen haben. Das sind<br />
Managementherausforderungen. Die Leistungsfähigkeit<br />
eines Gesundheitssystems wird sich daran messen<br />
müssen, wie es die Versorgung chronisch Kranker<br />
organisiert.<br />
Ein Beispiel aus den USA<br />
Populationsorientierte Integrierte Versorgung ist politisch<br />
gewollt und im Gesetz noch explizit gestärkt<br />
worden. Allerdings sind für Deutschland erhebliche<br />
Zweifel angebracht, wie schnell sie sich umsetzen<br />
lässt. Nehmen wir deshalb ein Beispiel aus den USA.<br />
Reden wir über die Bronx, über eine ausgesprochen<br />
schwer zu versorgende Bevölkerung. Dort hat sich ein<br />
Modell entwickelt, das ich schon seit mittlerweile fast<br />
10 Jahren fasziniert verfolge.<br />
Der Träger ist Montefiore, eine Nonprofitorganisation,<br />
eine alte Stiftung mit über 100 Jahren Tradition. Sie<br />
bekommt vom Staat New York über Medicaid, hier<br />
sind die Ärmsten der Amerikaner versorgt, eine feste<br />
Pauschale und dafür muss sie die gesamte Versorgung<br />
von 150.000 Bürgern der Bronx sicherstellen.<br />
Dies ist ein ganz schwer zu versorgender Bevölkerungsteil.<br />
Er ist gekennzeichnet durch einen sehr<br />
niedrigen Altersdurchschnitt, durch einen hohen Grad<br />
an Armut (ein Viertel der Bevölkerung in der Bronx<br />
lebt unterhalb der Armutsgrenze), durch eine immens<br />
hohe Prävalenz von Krankheiten (Asthma z.B. bei<br />
30 Prozent, Diabetes ebenfalls extrem hoch). Das ist<br />
alles andere als cherry-picking und stellt ganz eigene<br />
Herausforderungen an die Versorgung.<br />
Lassen Sie mich aufzeigen, wie diese populationsorientierte<br />
Integrierte Versorgung funktioniert. Sie hat<br />
in der Bronx einen Marktanteil von 25 Prozent. Es gibt<br />
medizinische Zentren für die ambulante Versorgung –<br />
die auch in den Schulen tätig sind. Diese Versorgung<br />
unmittelbar in den Schulen übernimmt eine eigene<br />
Organisation. Dazu kommt ein ambulantes Netzwerk,<br />
ein Krankenhaus, an das – auf dem gleichen Gelände<br />
– ein Pflegeheim direkt angebunden ist.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 10<br />
WHY<br />
■ Chronic diseases cause avoidable morbidity<br />
and mortality<br />
■ Epidemiology, impact on health and utilization<br />
in the Bronx<br />
■ Chronic diseases increase utilization and<br />
costs<br />
■ A few diseases have a major impact<br />
■ CHF<br />
■ Asthma<br />
■ Diabetes<br />
■ Depression<br />
■ ESRD<br />
■ Hypertension<br />
Viele Schnittstellen<br />
Angesichts der großen Herausforderungen durch die<br />
alternde Gesellschaft ist diese Schnittstelle zwischen<br />
Akutversorgung und Pflege extrem erfolgskritisch.<br />
Gleichermaßen zum System gehört eine Home<br />
Health Agency, durch die die Weiterversorgung in der<br />
häuslichen Umgebung – ein wesentlicher Erfolgsfaktor<br />
– gewährleistet ist. Dann gehört dazu eine klassische<br />
medizinische Universität mit einem angegliederten<br />
Versicherungsprodukt. Das brauche ich für Medicaid.<br />
Es existieren sehr viele Schnittstellen in die Community,<br />
in die ehrenamtlichen Bereiche. Man übernimmt<br />
medizinische Versorgung für andere Krankenhäuser.<br />
Und bis vor kurzem hat man auch noch eine Knastinsel<br />
mitversorgt. Also insgesamt ein äußerst ausgeklügeltes<br />
System in einer Größenordnung, die der<br />
Medizinischen Hochschule Hannover oder dem UKE<br />
in Hamburg vergleichbar ist.<br />
Was zeichnet das Modell aus? Zum einen: Es integriert<br />
die gesamte Wertschöpfungskette. Zum anderen:<br />
Es hat eine einheitliche Unternehmenskultur. Das<br />
sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren. Hier sind die<br />
Brüche zwischen ambulant und stationär eben nicht<br />
vorhanden. Hier in der Bronx finden wir nur eine<br />
Gesamtinstitution, nur eine Informationstechnologie,<br />
und – ganz zentral – wir haben adäquate Anreizsysteme.<br />
Managing Chronic Disease Is Essential<br />
HOW<br />
■ Multi-disciplinary management and system<br />
of care<br />
■ Application of best practices<br />
■ Involvement of primary care providers<br />
■ Accessible speciality care/consults<br />
■ Home care and telemedical supports<br />
■ Information system for tracking of care and<br />
outcomes<br />
■ Patient referral and “registry”<br />
■ Tracking of process, and outcome measures<br />
■ Expert case management<br />
■ Patient education, involvement<br />
Quelle: Steve Rosenthal, COO, Montefiore, Jan. 2007 Prof. Dr. Volker Amelung<br />
Hochkarätige Informationssysteme<br />
Wie funktioniert das System, wie wird es gemanagt?<br />
Von zentraler Bedeutung ist die Informationstechnologie,<br />
denn populationsorientierte Integrierte Versorgung<br />
muss auf Informationen aufbauen, die an verschiedenen<br />
Stellen zur Verfügung stehen und einheitlich<br />
interpretiert werden.<br />
Das ist mit immensen Investitionen verbunden. In<br />
diese populationsorientierte Integrierte Versorgung<br />
der Bronx wurden in den letzten 10 Jahren von der<br />
Non-profit-Organisation Montefiore 950 Millionen Dollar<br />
investiert. Und davon allein 150 Millionen in eine<br />
adäquate Informationstechnologie.<br />
Was bedeutet das für das deutsche Gesundheitssystem?<br />
Zunächst: Wenn man über populationsorientierte<br />
Integrierte Versorgung redet, dann über solche und<br />
ähnliche Modelle. Entscheidend ist dabei das Disease<br />
Management – insbesondere für die Steuerung chronisch<br />
Kranker. Es geht um die klassischen Volkskrankheiten,<br />
um Asthma, Diabetes, Depressionen usw.<br />
Und es geht um das Fundament, um Predictive Modelling,<br />
weil es keinen Sinn macht, erst zu reagieren<br />
wenn man angekommen ist. Man muss vorher wissen,<br />
wo das Patientenkollektiv in 5 oder 10 Jahren steht.<br />
Wenn man diese Entwicklung kennt, kann man entsprechend<br />
steuernd eingreifen. Hierfür sind hochkarätige<br />
Informationssysteme nötig, ein Case-Mana-
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 11<br />
gement und – das ist ein ganz wesentlicher Erfolgsfaktor<br />
– die Einbindung der Patienten.<br />
Wir müssen wegkommen von dem Gedanken, sämtliche<br />
Segmente eines Gesundheitssystems in einem<br />
System oder mit einer Konzeption bedienen zu wollen.<br />
Vielmehr muss die Frage lauten, welche Teile des<br />
versicherten Kollektivs man mit welchem Instrumentarium<br />
bedienen kann.<br />
Ein Beispiel ist das Frail Elderly Program in der Bronx.<br />
Es richtet sich an die über 80-Jährigen. Ihr Versorgungsbedarf<br />
ist speziell. Wichtig z.B. ist die Ausstattung<br />
der Wohnung. Gibt es Sturzgefahren, wie sieht<br />
das Badezimmer aus usw.? Und die wird dann aktiv<br />
mitgestaltet.<br />
Oder ein anderes Beispiel: Wer die Strukturen in der<br />
Bronx kennt, weiß wie schwer es ist, an die Bevölkerung<br />
heranzukommen. Deshalb hat man sich folgende<br />
Relation zunutze gemacht: Je ärmer eine Bevölkerung<br />
ist, desto höher ist die Penetration mit Pay-TV.<br />
Man hat also einen Fernsehkanal entwickelt, wo Ärzte<br />
oder Betreuer mit den einzelnen Patienten Kontakt<br />
aufnehmen bzw. halten können.<br />
Und damit schließt sich auch wieder der Bogen zu<br />
unserer Frage: Was bedeuten derartige Systeme nun<br />
für den Wettbewerb? Zunächst: Populationsorientierte<br />
Integrierte Versorgung – wie sie das Gesetz ja auch<br />
vorsieht – braucht eine kritische Größe.<br />
Bei dem amerikanischen Versicherer „Kaiser Permanente“<br />
hält man für eine funktionierende populationsorientierte<br />
Integrierte Versorgung eine Mindestgröße<br />
von 200.000 eingeschriebenen Personen für notwendig.<br />
Man braucht also Größe, damit eine gewisse<br />
Markt- und Informationsmacht. Und man braucht geografische<br />
Nähe der Einheiten. Das klappt nicht mit fünf<br />
Prozent Marktanteil, das braucht eher an die 30 Prozent<br />
Marktanteil. Und dann muss man überlegen, wie<br />
der Wettbewerb organisiert werden kann. Dazu sind<br />
eine starke einheitliche Unternehmenskultur, adäquate<br />
Anreizsysteme und eine starke Steuerung vonnöten.<br />
Einige Forderungen zum Thema Wettbewerb<br />
1. Wir müssen weg davon kommen, Wettbewerbslösungen<br />
für das ganze System zu suchen. Es<br />
geht um Leistungssegmente und Regionen. In der<br />
Uckermark werden Wettbewerbsmodelle kaum<br />
funktionieren.<br />
2. Es muss um die zentralen aufwändigen Leistungen<br />
gehen. Bei irgendwelchem Nebenservice<br />
macht Wettbewerb keinen Sinn.<br />
3. Wir brauchen Transparenz – Transparenz über<br />
Leistungen und über Ergebnisqualität, auch wenn<br />
dies nicht einfach ist.<br />
4. Wir sollten nicht erst dann starten, wenn unsere<br />
hohen Erwartungen abgesichert sind. Nein, der<br />
erste Wurf wird nicht der letzte sein und entscheidend<br />
ist, zunächst einmal anzufangen.<br />
5. Wir sollten bereit sein, die großen Fragen, z. B.<br />
zum Sicherstellungsauftrag, zur Budgetbereinigung,<br />
zur Bedarfsplanung anzugehen.<br />
6. Überlassen wir es den einzelnen Institutionen, die<br />
Innovation ins System zu holen. Wir brauchen auch<br />
hier mehr Gesundheitsmanagement und weniger<br />
Gesundheitspolitik.<br />
© gpk<br />
Kernthesen von Prof. Dr. Volker Amelung<br />
■ Wettbewerb ist ein permanenter Suchprozess.<br />
Auch in einem wettbewerblich orientierten<br />
Gesundheitswesen wird es deshalb immer wieder<br />
Reformdruck, Neubewertungen und Anpassungen<br />
geben.<br />
■ Wettbewerb funktioniert nicht überall im<br />
Gesundheitswesen. Aufgabe der Gesetzgebung<br />
ist, die Segmente zu definieren, in denen<br />
er funktioniert.<br />
■ Das Konzept der „Populationsorientierten<br />
Integrierten Versorgung“ ist ein wettbewerbliches<br />
Zukunftsmodell, weil es in der Lage ist,<br />
Gesundheitsversorgung eng an dem tatsächlichen<br />
Bedarf der Zielgruppe und an Qualitätskriterien<br />
auszurichten.<br />
■ Allerdings braucht „Populationsorientierte<br />
Integrierte Versorgung“ einen nennenswerten<br />
Marktanteil, um in der Fläche die Ressourcen<br />
rationell nutzen zu können, braucht eine einheitliche<br />
Unternehmenskultur, adäquate Anreizsysteme<br />
und eine starke Steuerung.<br />
■ Es sollte den dezentralen Strukturen überlassen<br />
sein, die Innovation ins System zu holen.<br />
Hier muss der Gesundheitsmanager nach seinem<br />
konkreten Bedarf entscheiden, nicht die<br />
der Politik verpflichtete Zentralinstitution.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 12<br />
Solidarisch oder risikoorientiert?<br />
Ohne Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen stimmt das Anreizsystem nicht<br />
Von Eckhard Knappe<br />
Ansätze zu einem Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />
bestehen in Deutschland auf drei Ebenen: Wettbewerb<br />
der Leistungserbringer um Patienten, Wettbewerb<br />
der Krankenkassen um Versicherte und schließlich<br />
Wettbewerb zwischen Leistungserbringern und<br />
Krankenkassen um Versorgungs- und Entgeltverträge.<br />
Ich möchte mich hier auf den Finanzierungsaspekt<br />
der gesetzlichen Krankenkassen (GKV), die solidarische<br />
Beitragserhebung, so wie sie heute ist bzw. wie<br />
sie mit einem Wettbewerbssystem kompatibel wäre,<br />
konzentrieren. Die Krankenkassen finanzieren sich<br />
über Beiträge, die als Prozentsatz vom Bruttolohn<br />
ihrer Versicherten (derzeit durchschnittlich 14,8 Prozent)<br />
erhoben werden.<br />
Der Beitragssatz differiert zwischen den Krankenkassen<br />
nur wenig. 0,9 Prozent vom Bruttolohn werden<br />
allein von den Arbeitnehmern, der Rest je zur Hälfte<br />
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt, allerdings<br />
nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze von zurzeit<br />
3.562,50 Euro.<br />
Problematische Finanzierung<br />
Diese Art der „solidarischen Finanzierung“ ist in mancherlei<br />
Hinsicht problematisch. Wir handeln uns auf<br />
diese Weise z.B. ein künstlich verschärftes Generationenproblem<br />
ein, das wir im Umlageverfahren gar nicht<br />
haben müssten. Es ist bereits eine Herausforderung<br />
für die Finanzierung der Krankenkassen, dass Ältere,<br />
die in ihrer Zahl zunehmen, im Durchschnitt sehr viel<br />
höhere Krankheitsrisiken haben und sehr viel höhere<br />
Ausgaben verursachen als Jüngere.<br />
Aber wir koppeln auch noch die Beiträge der Älteren<br />
an die Renten und senken sie damit im Durchschnitt<br />
für Ältere (für Rentner) auf die Hälfte. Das ist gesundheitspolitisch<br />
nicht zu begründen, letztlich aber auch<br />
nicht sozialpolitisch, denn Renteneinkommen und<br />
Einkommensarmut sind keinesfalls dasselbe. Viele<br />
Rentnerhaushalte beziehen Einkommen aus mehreren<br />
Quellen, nicht grundsätzlich müssen Haushalte<br />
mit (geringen) Renten über entsprechend geringe<br />
Beiträge unterstützt werden.<br />
Sinnvoller wäre es, wenn Ältere zwar keine höheren,<br />
aber auch keine verringerten Beiträge bezahlen<br />
müssten, wie z.B. im Gesundheitsprämienmodell vorgeschlagen<br />
wurde.<br />
Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die Arbeitsmarktprobleme,<br />
die wir uns durch den Arbeitgeberbeitrag<br />
einhandeln. Der Zusammenhang zwischen Arbeitgeberbeitrag<br />
und Arbeitslosigkeit bzw. Beschäftigung<br />
ist vielschichtig, letztlich behindert aber ein steigender<br />
Beitragssatz der Krankenversicherung eine<br />
Rückkehr zur Vollbeschäftigung. Er zwingt daher die<br />
Gesundheitspolitik zu Ausgabendämpfungsprogrammen,<br />
die zwar arbeitsmarktpolitisch, nicht aber gesundheitspolitisch<br />
zu begründen sind.<br />
Das heutige, lohnbezogene Beitragssystem:<br />
■ künstlich verschärftes Generationenproblem,<br />
■ künstlich verschärftes Arbeitsmarktproblem<br />
■ vierfach „ungerecht“:<br />
– Lohn/Rente ist der falsche Maßstab<br />
– linear und bis zur Beitragsbemessungsgrenze<br />
– Widerspruch zwischen Familien- und<br />
Lohnkomponente<br />
– Umverteilung ist gesamtgesellschaftliche<br />
Aufgabe<br />
■ verhindert Preiswettbewerb der Versicherungen<br />
ZfG<br />
Man sollte den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmerbeitrag<br />
zusammen mit dem Lohn auszahlen, der Arbeitnehmer<br />
müsste dann aus dem erhöhten Bruttoeinkommen<br />
den gesamten Krankenkassenbeitrag<br />
bezahlen. Für die Arbeitnehmer würde sich dadurch<br />
nichts ändern, außer dass sie die Gesamtkosten der<br />
Krankenversicherung sehen würden und verstärkt<br />
den Kassenwettbewerb nutzen würden, um Kosten zu<br />
sparen.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 13<br />
Haushaltseinkommen als Maßstab<br />
Warum halten wir trotz verschärfter Demografieprobleme<br />
und trotz verschärfter Arbeitsmarktprobleme<br />
an dieser Art Finanzierung fest? Wir meinen, auf<br />
diese Art einen sozial<strong>politische</strong>n Grundsatz einlösen<br />
zu können, nach dem sich die Leistungsansprüche<br />
nach dem Bedarf der Versicherten, die finanzielle<br />
Belastung aber nach der ökonomischen Situation der<br />
Versicherten richten sollten.<br />
De facto wird dieser Grundsatz aber durch das bestehende<br />
Finanzierungssystem nicht eingelöst. Die Beitragshöhe<br />
ist – wie gesagt – als Prozentsatz an den<br />
Bruttolohn/die Rente (bis zur Beitragsbemessungsgrenze)<br />
gekoppelt. Dieses Verfahren ist gleich „dreifach<br />
ungerecht“.<br />
1. Was haben Bruttolohn- und Rentenhöhe (bis zur<br />
Beitragsbemessungsgrenze) mit der ökonomischen<br />
Leistungsfähigkeit von Haushalten zu tun? Nur wenig.<br />
Ein Haushalt mit geringem Lohn (oder geringer Rente),<br />
aber z.B. hohem Kapitaleinkommen ist nicht leistungsunfähig,<br />
dennoch erhält er eine finanzielle Unterstützung<br />
in Form von niedrigen Krankenkassenbeiträgen.<br />
Die sozial<strong>politische</strong> Absicht einer Finanzierung<br />
nach der ökonomischen Situation müsste zumindest<br />
das Haushaltsgesamteinkommen zugrunde legen.<br />
2. Durch die prozentuale Koppelung der Beiträge an<br />
Bruttolohn und Rente steigen die Belastungen linear<br />
mit der Lohn-/Rentenhöhe. Eine solche proportionale<br />
Belastung wird z.B. in Bezug auf die Einkommensteuer<br />
als „grob ungerecht“ beurteilt. Es ergibt sich zudem<br />
ein ungerechtfertigter Belastungssprung zwischen<br />
gleichgestellten Haushalten, sofern sie einerseits So-<br />
ZfG<br />
zialhilfe beziehen (einschließlich Krankenversicherung)<br />
und andererseits bei gleichem (Lohn-)Einkommen<br />
den vollen Beitragssatz bezahlen müssen.<br />
Besonders unsinnig wird die sozial<strong>politische</strong> Wirkung<br />
durch die Beitragsbemessungsgrenze. Dadurch werden<br />
Haushalte mit Lohneinkommen von 3.562,50<br />
Euro und Haushalte mit weit darüber liegendem Einkommen<br />
absolut gleich belastet. Eine derart degressive<br />
Belastungswirkung widerspricht allen sozial<strong>politische</strong>n<br />
Gerechtigkeitskriterien.<br />
Aber nicht nur der Grundsatz vertikaler Gerechtigkeit<br />
im Sinne von „höheres Einkommen = höhere Beitragslast“<br />
wird auf diese Weise grob missachtet, sondern<br />
auch der Grundsatz horizontaler Gerechtigkeit<br />
im Sinne von „gleiches Einkommen = gleiche Beitragslast“.<br />
Diese Widersprüche ergeben sich aus der Beitragsbemessungsgrenze<br />
in Kombination mit der Koppelung<br />
an den Bruttolohn (die Rentenhöhe). Ein Beispiel<br />
kann das verdeutlichen: Drei gleichgestellte Haushalte<br />
mit einem Monatseinkommen von je 5.000 Euro<br />
sollten auch gleiche Beitragslasten tragen, aber<br />
– bei einem Beitragssatz von 14,8 Prozent läge der<br />
Beitrag eines Ein-Verdiener-Lohneinkommens-<br />
Haushaltes (wegen der Beitragsbemessungsgrenze)<br />
de facto bei monatlich 527,25 Euro;<br />
– verdienen zwei Personen je 2.500 Euro, zahlt der<br />
Haushalt 740 Euro;<br />
– handelt es sich um einen Rentner mit einer Rente<br />
von 1.500 Euro (einschließlich Zuschuss zur Krankenversicherung)<br />
und 3.500 Euro Kapitaleinkommen,<br />
wären 222 Euro zu bezahlen.<br />
Einnahmen- und Ausgabenverlauf GKV bei lohnbezogenen Prämien<br />
14,2 % vom Bruttolohn bis 3.562,50 Euro (2006)<br />
450<br />
400<br />
85u.älter 450,– Euro<br />
Krankheitskostenverlauf<br />
350<br />
300<br />
65–85=320,– Euro<br />
250<br />
Deckungslücke<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
0<br />
Überdeckung<br />
ca. 50 %<br />
ca. 60 %<br />
Prämienverlauf<br />
0 20 40 60 80 100<br />
Quelle: Universität Trier, ZfG Alter in Jahren<br />
© Prof. Dr. Eckhard Knappe<br />
Euro pro Monat
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Von „Gleichbehandlung bei gleicher ökonomischer<br />
Situation“ kann dabei keine Rede sein.<br />
3. Auch zwischen der familien<strong>politische</strong>n und einkommens<strong>politische</strong>n<br />
Zielsetzung existiert ein Widerspruch.<br />
Es sollen zwei unterschiedliche Aspekte des<br />
Sozialausgleichs verwirklicht werden: Einerseits sollen<br />
größere Familien durch die beitragsfreie Mitversicherung<br />
von Mitgliedern ohne eigenes Lohneinkommen<br />
unterstützt werden (Ziel: Familienlastenausgleich),<br />
andererseits sollen aber auch Haushalten mit<br />
niedrigem Einkommen niedrige Beiträge gewährt<br />
werden.<br />
Da aber beide Ziele ohne Gewichtung nebeneinander<br />
stehen, führt das auch dazu, dass „arme Singles“<br />
„reiche Großfamilien“ unterstützen. Es kommt hinzu,<br />
dass – durch die Versicherungspflichtgrenze (zurzeit<br />
3.975 Euro) – Haushalte mit einem Einkommen oberhalb<br />
der Versicherungspflichtgrenze wählen dürfen,<br />
ob sie sich einer solidarischen Zahlungsverpflichtung<br />
entziehen wollen oder ob sie sich – trotz des hohen<br />
Einkommens (z.B. bei großer Kinderzahl) – über den<br />
Familienlastenausgleich unterstützen lassen wollen.<br />
Will man solche Widersprüche vermeiden, müssen<br />
die beiden sozial<strong>politische</strong>n Ziele „Familienlastenausgleich“<br />
und „Umverteilung von oben nach unten“ neu<br />
austariert werden.<br />
Drei verschiedene Ebenen<br />
In Bezug auf die für eine Krankenversicherung relevanten<br />
Solidaritätsaspekte ist es sinnvoll, drei verschiedene<br />
Ebenen zu unterscheiden.<br />
1. Der Solidaritätsaspekt, der in jedem Krankenversicherungssystem<br />
einzulösen ist, ist die Solidarität<br />
zwischen aktuell Gesunden und aktuell Kranken (man<br />
denke z. B. an die Behandlung einer Blinddarmentzündung,<br />
eines Knochenbruchs usw.). Entscheidend<br />
sind der Zufallscharakter der Gesundheitsstörung<br />
und die Kurzzeitigkeit des Behandlungsbedarfs.<br />
Ein weiterer krankheitsbezogener Solidaritätsaspekt<br />
ist die Solidarität zwischen Personen mit dauerhaft<br />
niedrigen und Personen mit dauerhaft hohen Krankheitsrisiken.<br />
Letztere zeigen sich z.B. bei chronisch<br />
Kranken, bei denen ein hoher und dauerhafter Behandlungsbedarf<br />
erkennbar ist. Auch diese Art des<br />
Risikos ist in der GKV (sowie in der privaten Krankenversicherung<br />
für deren Mitglieder) abgedeckt.<br />
Gerade diese Art des Krankenversicherungsschutzes<br />
ist erforderlich, um existenzbedrohende Risiken abzudecken.<br />
Generell gilt: Risikobezogene Beiträge dürfen<br />
existenzielle Risiken nicht ausgrenzen.<br />
2. Weiterhin geht es um die Solidarität „zwischen<br />
jung und alt“. Selbst für durchschnittlich Gesunde<br />
steigt das Risiko mit dem Alter an. Trotzdem zahlt man<br />
in der Krankenversicherung keine mit dem Alter steigenden<br />
Beiträge. Mit 80 Jahren ist das Ausgabenrisiko<br />
im Durchschnitt rund fünfmal so hoch wie das<br />
Ausgabenrisiko im Alter von 30 Jahren.<br />
Im Umlageverfahren wird dieses überproportionale<br />
Risiko „der Alten“ von „den Jungen“ finanziert. Dadurch<br />
entsteht ein Generationenproblem im Umlageverfahren.<br />
Teils handelt es sich lediglich um eine zeitliche<br />
Umschichtung von Vor- und Nachteilen, denn<br />
auch die belasteten Jungen werden älter und erhalten<br />
entsprechende Vorteile im Alter. Auch ein Anstieg der<br />
Lebenserwartung erhöht die Belastung der Jüngeren,<br />
kommt diesen aber ebenfalls im Alter zugute.<br />
Lediglich der demografische Wandel, der sich aus<br />
einer geringen/sinkenden Geburtenrate ergibt, führt<br />
zu einer Belastung der Jungen, ohne diesen jemals<br />
zugute zu kommen. Die Solidarität zwischen den Generationen<br />
wird dadurch im Umlageverfahren empfindlich<br />
gestört. Hier würde nur ein Übergang zum<br />
Kapitaldeckungsverfahren helfen oder – im Umlageverfahren<br />
– ein Übergang zu mit dem Alter steigenden<br />
Beiträgen.<br />
3. Schließlich geht es im Rahmen einer sozialen<br />
Krankenversicherung um einen Sozialausgleich nach<br />
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nach der<br />
Zahl der Haushaltsmitglieder (Familienlastenausgleich).<br />
Es wird versucht, diesen sozialen Ausgleich – wie<br />
beschrieben – über lohn- und rentenbezogene Beiträge<br />
sowie über die beitragsfreie Mitversicherung von<br />
Familienmitgliedern ohne eigenes Einkommen zu<br />
realisieren. Damit ist dieser Sozialausgleich integraler<br />
Bestandteil der Krankenversicherung.<br />
Gerade dadurch entstehen aber wesentliche Probleme,<br />
weil die Krankenversicherung durch die Vielzahl<br />
der Zielvorgaben überfordert ist. Einerseits kann kein<br />
zielgerichteter Sozialausgleich erreicht werden, andererseits<br />
wird dadurch zuverlässig ein funktionsfähiger<br />
Wettbewerb der Krankenversicherungen behindert.<br />
Ein Finanzierungssystem, das mit Wettbewerb<br />
verträglich ist, muss die beiden Ebenen, die Ebene<br />
der Finanzierung der Krankenkassen und die Ebene<br />
der Umverteilung nach Einkommen und Familiengröße<br />
organisatorisch trennen.<br />
Es ist grundsätzlich nicht möglich, an einem Umverteilungssystem<br />
innerhalb der Krankenversicherung<br />
festzuhalten und zugleich den Beiträgen die Funktion<br />
kostendeckender Wettbewerbspreise zuzuweisen.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 15<br />
Dieser Widerspruch zwischen Wettbewerbspreisen<br />
und Sozialbeiträgen ist grundsätzlich innerhalb der<br />
Krankenversicherung unlösbar.<br />
Risikobeitrag widerspricht solidarischer<br />
Krankenversicherung<br />
Wettbewerbspreise müssen in Bezug auf das abzudeckende<br />
Risiko kostendeckend sein. „Risikobeitrag“<br />
kann jedoch alles Mögliche heißen. In Privatversicherungsmärkten<br />
werden die versicherten Risiken zumeist<br />
ursachenbezogen definiert, z.B. im Rahmen<br />
der Feuerversicherung. Wenn das Haus abbrennt, ist<br />
man versichert, bei einem Schwelbrand häufig jedoch<br />
nicht, da kein offenes Feuer die Ursache des Verlustes<br />
ist. Eine Sturmschadenversicherung tritt ein,<br />
wenn Sturm die Ursache des Schadens ist, meist<br />
jedoch nicht, wenn Starkwind den Schaden angerichtet<br />
hat.<br />
Eine soziale Krankenversicherung sollte dagegen<br />
zwischen den Ursachen des Risikos nicht differenzieren,<br />
sondern existenzbedrohende Folgen absichern.<br />
In der gesetzlichen Krankenversicherung wird z.B.<br />
immer wieder über Ausschluss von Sportunfällen<br />
oder von Rauchen als spezielle Ursachen von Krankheiten<br />
diskutiert.<br />
Auch in der Pflegeversicherung wurde bisher zwischen<br />
physischen und psychischen Ursachen einer<br />
Pflegebedürftigkeit unterschieden. Im Gegensatz zu<br />
einer Marktversicherung sollte sich eine Sozialversicherung<br />
auf die Folgen konzentrieren.<br />
Ein weiteres Problem ist die Befristung des Versicherungsvertrages.<br />
Ein kurzfristiger Risikobezug, bei-<br />
ZfG<br />
Altersgestaffelte Pauschalprämien?<br />
spielsweise für eine Vertragsdauer von zwei oder drei<br />
Jahren, deckt die lebenslangen Risiken nicht ab. Gerade<br />
diese können aber existenzbedrohende Folgen<br />
haben.<br />
Wer z. B. im Alter von 30 Jahren einen kurzfristigen<br />
Krankenversicherungsvertrag abschließt und in dieser<br />
Zeit durch ein Unglück oder eine chronische<br />
Krankheit sein Ausgabenrisiko stark erhöht, der sollte<br />
nach Ablauf seines Vertrages nicht einen neuen Vertrag<br />
zu neuen Risikoprämien (die in ihrer Höhe dann<br />
ruinös sein können) abschließen müssen. Es ist daher<br />
sinnvoll, eine lebenslange Risikoabdeckung vorzusehen,<br />
so wie dies in der gesetzlichen und (mit Abstrichen)<br />
in der privaten Krankenversicherung auch vorgesehen<br />
ist.<br />
Einnahmen-Ausgaben-Problem<br />
Allerdings gilt es in Bezug auf die lebenslange Risikoentwicklung<br />
zu unterscheiden: Einerseits kann sich<br />
das Risiko eines Einzelnen durch Unglück, chronische<br />
Krankheit usw. drastisch erhöhen, andererseits<br />
steigt im Laufe des Lebens das Krankheitsrisiko auch<br />
im Durchschnitt (etwa um das Fünf- bis Achtfache)<br />
altersbedingt an.<br />
Für eine Krankenversicherung bedeutet das: Wer Ältere<br />
versichert hat, hat höhere Ausgaben. Unser System<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung ist zusätzlich<br />
so eingerichtet, dass dann auch niedrigere Einnahmen<br />
(weil an die Renten gebunden) zu erwarten<br />
sind. Letzteres könnte durch den Übergang zu einem<br />
Gesundheitsprämienmodell korrigiert werden.<br />
450 Altersgestaffelte Pauschalprämien<br />
Krankheitskosten-<br />
400<br />
350<br />
300<br />
250<br />
verlauf<br />
200<br />
150<br />
175,– Euro Pauschalprämie<br />
100<br />
50<br />
0<br />
. . . . . . .<br />
0 20 40 60 80 100<br />
Quelle: Universität Trier, ZfG<br />
Alter in Jahren<br />
© Prof. Dr. Eckhard Knappe<br />
Euro pro Monat<br />
➤<br />
➤
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 16<br />
Aber auch bei Gesundheitsprämien, die nicht mit dem<br />
Lebensalter zunehmen, entsteht im Durchschnitt ab<br />
dem Alter von 55 Jahren eine Einnahmen-Ausgaben-<br />
Lücke. Ältere Versicherte bedeuten höhere Ausgaben<br />
bei zwar nicht sinkenden, aber auch nicht zunehmenden<br />
Beiträgen. Wenn die Zahl der älteren Versicherten<br />
im Verhältnis zur Zahl der jüngeren Versicherten zunimmt,<br />
muss die jüngere Generation zusätzlich belastet<br />
werden. Dieses Problem bleibt bei Gesundheitsprämien.<br />
Es sei denn, man korrigiert auch das.<br />
Das durchschnittliche Ausgabenprofil in einer Krankenversicherung<br />
zeigt, dass das Ausgabenrisiko im<br />
Lebensverlauf mit dem Alter – wie gesagt – um das<br />
Fünf- bis Achtfache zunimmt. Um die Jüngeren nicht<br />
mit diesen Ausgaben zu belasten, bieten sich zwei<br />
wettbewerbskompatible Wege an:<br />
Altersgestaffelte Pauschalprämien<br />
Eine Möglichkeit besteht darin, die Prämien an das<br />
durchschnittlich mit dem Alter steigende Ausgabenrisiko<br />
anzupassen, z.B. durch Gesundheitsprämien,<br />
die alle fünf Jahre nach Alterskohorten steigen (siehe<br />
Grafik S. 15).<br />
Junge Menschen (bzw. Familien) erhalten damit zwar<br />
eine deutliche Entlastung, später aber kommt eine<br />
erhebliche Belastung auf die Versicherten zu. Der in<br />
jedem Gesundheitsprämienmodell vorzusehende externe<br />
Sozialausgleich über Steuern und Transferzahlungen<br />
müsste dann auch unzumutbare Belastungen,<br />
die mit dem Alter auftreten, auffangen.<br />
Wenn Gesundheitsprämien nicht nach dem Alter<br />
gestaffelt werden, kann ein Wettbewerb der Krankenversicherungen<br />
nur dann funktionieren, wenn zwischen<br />
den Krankenkassen ein Risikostrukturausgleich<br />
(RSA) nach dem Kriterium „Alter“ eingeführt<br />
wird.<br />
Ein Risikostrukturausgleich hat aber selbst wiederum<br />
die Tendenz, den Wettbewerb zu behindern, weil –<br />
politisch – im Zeitablauf versucht werden wird, immer<br />
mehr Risikounterschiede durch Zahlungen zwischen<br />
den Krankenkassen auszugleichen. Letztlich führt<br />
das zu einer Einheitsversicherung, der jeglicher Wettbewerbsanreiz<br />
genommen wird.<br />
Kapitaldeckungsverfahren<br />
Die andere Möglichkeit besteht in einem Übergang<br />
zum Kapitaldeckungsverfahren, in dem jeder Einzelne<br />
durch „angesparte“ Beitragsanteile für höhere<br />
Ausgaben im Alter vorsorgt und damit Jüngere nicht<br />
belastet. Hier ergibt sich ein Übergangsproblem (Doppelbelastung<br />
der Übergangsgeneration), das schwierig<br />
zu lösen ist.<br />
Außerdem muss, wenn man die Wechselmöglichkeit<br />
zwischen den Versicherungen erhalten will, die Portabilität<br />
der Altersrückstellungen gewährleistet werden.<br />
Welchen Kapitalwert jedoch ein Wechsler zu einer<br />
anderen Versicherung „mitnehmen“ kann, ohne dass<br />
dadurch Fehlanreize entstehen, ist nicht leicht zu berechnen.<br />
Eingangs wurde bereits von drei ganz unterschiedlichen<br />
Wettbewerbsebenen im Gesundheitswesen<br />
gesprochen: Wettbewerb der Krankenkassen um Versicherte,<br />
Wettbewerb der Leistungserbringer um Patienten<br />
sowie Wettbewerb zwischen Versicherungen<br />
und Leistungserbringern um Versorgungs- und Entgeltverträge.<br />
Zweifacher Wettbewerb<br />
Bisher ging es um Wettbewerb der Versicherungen<br />
um Versicherte. In Bezug auf den Wettbewerb um<br />
Versorgungs- und Entgeltverträge, der heute politisch<br />
forciert werden soll, ergeben sich andere Probleme.<br />
Generell muss sich der Vertragswettbewerb aus dem<br />
Wettbewerb der Versicherungen um Versicherte und<br />
dem Wettbewerb der Leistungserbringer um Patienten<br />
ableiten, und zwar aus beiden gleichzeitig.<br />
Würde man sich allein oder auch nur schwerpunktmäßig<br />
auf den Wettbewerb der Leistungserbringer um<br />
die Nachfrage der Patienten konzentrieren, würden<br />
daraus rasch explodierende Beitragssätze resultieren.<br />
Solange die Nachfrage der Patienten aus den<br />
Zahlungen der Krankenkassen finanziert wird, haben<br />
sie ein Interesse an „allem, dem Besten und möglichst<br />
sofort“. Die dafür erforderliche Finanzierungssumme<br />
könnte niemand aufbringen.<br />
Dieser Wettbewerb müsste in jedem Fall durch einen<br />
„Finanzierungsdeckel“ eingefangen werden. Bisher<br />
wurde das über <strong>politische</strong> Maßnahmen zur Beitragssatzstabilität<br />
und direkte Budgetvorgaben sicherzustellen<br />
versucht. In Zukunft wird dies zunehmend<br />
durch das DRG-Entgeltsystem im Krankenhaus erfolgen.<br />
Hierbei handelt es sich um ein staatliches Festpreissystem,<br />
in dem der Budgetrahmen durch die<br />
Festlegung der „base rate“ politisch vorgegeben wird.<br />
Ein ähnliches Festpreissystem wird in Zukunft auch<br />
im Bereich der niedergelassenen Ärzte eingeführt<br />
werden, während der Arzneimittelsektor durch ein<br />
ständig verfeinertes Festbetrags-System ebenfalls<br />
staatlich gesteuert wird. Soll der Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />
gestärkt werden, müssten zumindest<br />
die DRG-Festpreise durch DRG-Höchstpreise ersetzt<br />
werden, deren tatsächliche Höhe z.B. im Vertragswege<br />
zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern<br />
ausgehandelt werden kann.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 17<br />
Einkaufsmodelle der Krankenkassen<br />
Die staatliche Steuerung könnte in Zukunft durch einen<br />
„Vertragswettbewerb“, einen Wettbewerb um Verträge<br />
zwischen Krankenkassen und „Gruppen von<br />
integrierten Versorgern“ um Entgelt- und Versorgungsverträge<br />
abgelöst werden. Das Wettbewerbsstärkungsgesetz<br />
(GKV-WSG) aus dem Jahr 2007<br />
sieht hier bereits eine gewisse Lockerung der Vertragsbedingungen<br />
vor. Zwei völlig unterschiedliche<br />
Arten von Versorgungsverträgen sind dabei zu unterscheiden.<br />
Indikationsbezogene Verträge beziehen<br />
sich auf Teilaspekte ärztlicher Behandlung und regeln<br />
neben Entgeltfragen vor allem Qualitäts- und Behandlungsstandards.<br />
Sie können in einem Vertragswettbewerbskonzept<br />
immer nur ergänzenden Charakter haben. Soll Vertragswettbewerb<br />
zur zentralen Steuerungsfunktion<br />
des Gesundheitssektors ausgebaut werden, müssen<br />
(vermehrt) „Einkaufsmodelle der Krankenkassen“ in<br />
Form populationsbezogener Verträge, in denen die<br />
Versorgung ganzer Bevölkerungsgruppen Zusammenschlüssen<br />
von Leistungserbringern übertragen<br />
wird, entwickelt werden. Diese Art von Vertragswettbewerb<br />
setzt aber eine bestimmte Organisation der<br />
Krankenkassen voraus.<br />
Wenn wir eine Einheitsversicherung hätten, wären<br />
über „Einkaufsmodelle“ populationsbezogene Versorgungskonzepte<br />
relativ einfach zu realisieren. Nachteil:<br />
die Leistungserbringer ständen im Wettbewerb einem<br />
monopolähnlichen Nachfrager gegenüber. Heute haben<br />
wir in Deutschland noch rund 200 Krankenkassen<br />
im Wettbewerb.<br />
Unternehmerisches Verhalten erfordert<br />
Fachkenntnisse<br />
Doch selbst wenn deren Zahl z.B. auf 30 sinken würde,<br />
kann sich eine einzelne Krankenkasse nur schwer<br />
auf die Versorgung ganzer Bevölkerungsgruppen<br />
konzentrieren. Eine Steuerung über populationsbezogene<br />
Versorgungsverträge setzt auf Seiten der Krankenkassen<br />
nennenswerte Marktanteile voraus und<br />
damit eine „oligopolistische Wettbewerbssituation“.<br />
Im Rahmen einer Steuerung des Gesundheitswesens<br />
über Versorgungsverträge übernehmen die Krankenkassen<br />
zunehmend die Verantwortung für Qualität<br />
und Kosten der Gesundheitsversorgung gegenüber<br />
ihren Versicherten. Das erfordert „unternehmerisches<br />
Verhalten“, es setzt auf Seiten der Krankenkassen<br />
mindestens so viel medizinische Sachkenntnis voraus,<br />
dass sie beurteilen können, was eine gute und<br />
preiswerte Versorgung ist.<br />
Erst wenn das der Fall ist, kann man wirklich auf<br />
Vertragswettbewerb setzen. Die Krankenkassen sind<br />
bisher de facto kaum in der Lage, das zu beurteilen,<br />
sie fangen erst langsam an, sich in diese Richtung zu<br />
bewegen.<br />
© gpk<br />
Kernthesen von Prof. Dr. Eckhard Knappe<br />
■ Grundsätzlich findet Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />
auf zwei Ebenen statt: der des<br />
Wettbewerbs der Leistungserbringer um Patienten<br />
und der des Wettbewerbs der Krankenkassen<br />
um Versicherte. Durch die zusätzlichen<br />
Beziehungen der Krankenkassen mit den Leistungserbringern<br />
ergibt sich als dritte Ebene der<br />
Vertragswettbewerb.<br />
■ Wettbewerb allein als Vertragswettbewerb<br />
ist ohne Versicherungswettbewerb nicht funktionsfähig<br />
– allein schon deshalb, weil dann die<br />
Anreize für den Vertragswettbewerb fehlen.<br />
■ Ein Wettbewerb der Leistungserbringer um<br />
die Patienten ist ohne Restriktionen auf der<br />
finanziellen Ebene nicht funktionsfähig – der<br />
Patient will das Beste, sofort, zu jedem Preis,<br />
was dem Einkommensinteresse der Leistungserbringer<br />
entgegenkommt.<br />
■ Versicherungswettbewerb ist ohne kostendeckende<br />
Risikoprämien unvollständig (also bei<br />
lohnbezogenen Beiträgen unmöglich). Die Risikoprämien<br />
müssen auch die existenziellen Risiken<br />
der einzelnen Versicherten im Lebensverlauf<br />
beinhalten. Risikoprämien entsprechen<br />
dann weitgehend dem Gesundheitsprämienmodell.<br />
■ Das generelle Altersverlaufsrisiko sollte<br />
man aus der solidarischen Krankenversicherung<br />
herausnehmen und z.B. über eine alterskohorten-spezifische<br />
Gesundheitsprämie finanzieren.<br />
■ Gesundheitsprämien generell, also auch<br />
Gesundheitsprämien nach Alterskohorten, setzen<br />
einen externen Sozialausgleich nach Einkommen<br />
und Familiengröße über Steuern und<br />
direkte Transferzahlungen voraus. Nur ein<br />
externer Sozialausgleich könnte die zentralen<br />
Widersprüche der heutigen Umverteilung, die<br />
über lohnbezogene Beiträge der Krankenkassen<br />
versucht wird, vermeiden.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 18<br />
Der mündige Patient<br />
Eine deutliche Mehrheit will an Entscheidungen zu Diagnostik und Therapie beteiligt sein<br />
Von Marie-Luise Dierks<br />
Die Ausgangsfragen sind: Was muten wir den Menschen<br />
zu, wenn wir über Wettbewerb auf unterschiedlichen<br />
Ebenen im Gesundheitswesen reden? Welche<br />
Unterstützung brauchen Menschen, um sich in einem<br />
so gestalteten Gesundheitswesen zurechtzufinden?<br />
Dass der Wettbewerb voranschreitet, ist unübersehbar<br />
und für Patienten zunehmend spürbar. Elemente<br />
wie zunehmende Selbstbeteiligung, Wahlfreiheit, Individuelle<br />
Gesundheitsleistungen (IGeL), verdeckte<br />
oder offene Werbung sind nur einige Aspekte dieser<br />
Ausrichtung, die die Patienten, Versicherten und Bürger<br />
tangieren.<br />
Die Menschen werden auf verschiedene Weise als<br />
Kunden betrachtet, auch wenn, wie wir inzwischen<br />
wissen, der Kundenbegriff nicht vollständig greift, weil<br />
die Nutzer nicht über alle typischen Kundenmerkmale<br />
verfügen und zudem der besondere Charakter des<br />
Gutes „Gesundheit“ bei einer rein marktorientierten<br />
Sichtweise nicht hinreichend gewürdigt wird.<br />
So haben die Anbieter von Gütern im Gesundheitswesen<br />
in der Regel bessere Informationen als die Nachfrager,<br />
den Nutzern fehlen individuelle Vergleichsmöglichkeiten,<br />
die Qualität der Leistungen der Anbieter<br />
ist intransparent. Hinzu kommt, dass angesichts<br />
der Situation, dass der Arzt durch seinen Wissensvorsprung<br />
die wesentlichen Nachfragen nach medizinischer<br />
Leistung selbst festlegt und zugleich das Leistungsangebot<br />
bereitstellt, der Marktmechanismus<br />
aufgehoben wird.<br />
Dennoch, insofern Behandlung ihren Preis hat und<br />
Ärzte und andere Leistungserbringer darüber ihr Einkommen<br />
erwerben, war und ist der Patient im ökonomischen<br />
Sinne Kunde. Zumindest in dieser Hinsicht<br />
ist die Behandlung gesundheitlicher Beeinträchtigungen<br />
eine Dienstleistung wie jede andere.<br />
Einen gewissen Charme hat für den Patienten jener<br />
„Kunden“-Aspekt, der ihm nahelegt: Ich werde als<br />
Patient „Kunde“ und somit wie der König oder die<br />
Königin behandelt und ich kann über mein Wahlverhalten<br />
Einfluss auf Inhalt und Qualität des Angebots<br />
nehmen. Dass die reale Versorgungspraxis bislang<br />
leider nicht immer dieses Bild zeichnet, brauche ich<br />
an dieser Stelle nicht zu unterstreichen.<br />
Patient ist kein Kunde<br />
Menschen im Gesundheitswesen kommen aus unterschiedlichen<br />
Anlässen und in unterschiedlichen Situationen<br />
in Kontakt mit den Versorgungseinrichtungen.<br />
Wir haben es auf der einen Seite mit relativ<br />
gesunden Personen zu tun, die nur punktuell Kontakt<br />
zum Gesundheitswesen haben. Auf der anderen Seite<br />
des Kontinuums finden wir die schwer kranken und<br />
sterbenden Menschen, die ganz andere Bedürfnisse<br />
haben und ganz besonders auf Unterstützung und<br />
Hilfe angewiesen sind.<br />
Wie sehen die Menschen selbst ihre Rolle im Gesundheitswesen?<br />
Wollen sie sich als Kunden, als Konsumenten<br />
sehen? Interessant sind hier die Ergebnisse<br />
einer kanadischen Studie, in der man systematisch<br />
Wollen Patienten Konsumenten sein?<br />
Hohe und sehr hohe Zustimmung<br />
Patient 79,2 %<br />
Klient 14,4 %<br />
Partner 14,9 %<br />
Konsument (Consumer) 4,0 %<br />
Überlebender (Survivor) 21,8 %<br />
Kunde (Costumer) 0,0 %<br />
Deber RB, Kreaetschner N, Urowitz S, Sharpe N.<br />
Patient, consumer, client or costumer: What do<br />
people want to be called? Health expectations<br />
2005 (chronisch Kranke in Kanada)<br />
Dierks ML, Medizinische Hochschule Hannover,<br />
Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitsforschung
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 19<br />
die Bevölkerung befragt hat, wie sie selbst im Erkrankungsfall<br />
bezeichnet werden will.<br />
Dabei zeigt sich, dass „Patient“ die Bezeichnung ist,<br />
bei der sich die Menschen, die das Gesundheitswesen<br />
in Anspruch nehmen, am wohlsten fühlen. „Konsument“<br />
wollen nur ganz wenige genannt werden und<br />
– besonders interessant – „Kunde“ will keiner genannt<br />
werden.<br />
Das konnten wir auch im Rahmen von Gruppendiskussionen,<br />
die wir mit deutschen Patienten durchgeführt<br />
haben, bestätigen. Auf die Frage: „Wollen Sie im<br />
Gesundheitswesen als Kunde betrachtet werden?“<br />
wurden überwiegend abwehrende Argumente vorgebracht.<br />
Die Ängste, dass der Profit im Mittelpunkt der Versorgung<br />
steht und nicht mehr der Mensch, dass das<br />
Interesse der Versorger am Wohlergehen der Erkrankten<br />
eher vordergründig ist, dass das Verhältnis<br />
von Arzt und Patient eher technisch und autokratisch<br />
wird, dass Therapieempfehlungen eher eine lukrative<br />
Erwerbsquelle für Ärzte darstellen – ich werde es<br />
noch anhand der IGeL-Leistungen darstellen – wurden<br />
offensichtlich.<br />
Die Patienten befürchten, dass ihr Bedürfnis, im Erkrankungsfall<br />
eine auf ihre Erkrankung und ihre spezielle<br />
Situation zugeschnittene Behandlung zu erhalten<br />
und sich darauf verlassen zu können, dass Ärzte<br />
fürsorglich mit ihnen umgehen, unter dieser Diktion<br />
verloren gehen könnte.<br />
Und immer wieder wird – zu Recht – die Frage gestellt:<br />
Was geschieht mit den vulnerablen Gruppen, mit den<br />
Menschen, die nicht gut gebildet sind und sich nicht<br />
selbstbewusst in einem Markt Gesundheitswesen<br />
bewegen können? Dass Verkaufsaspekte immer<br />
mehr in die Arzt/Patient-Beziehung eindringen, zeigt<br />
sich nicht zuletzt an der kontinuierlichen Zunahme der<br />
angebotenen IGeL-Leistungen.<br />
Hier kommt ein „Verkaufselement“ in die Arzt/Patient-<br />
Beziehung, das bei den Patienten zu einer starken<br />
Verunsicherung führt: „Wurde die Leistung angeboten,<br />
weil sie gut für mich ist, oder wurde sie angeboten,<br />
weil sie gut ist für denjenigen, der die Leistung<br />
durchführt?“<br />
Diese Form der Interaktion zwischen Arzt und Patient<br />
ist neu. Plötzlich müssen Patienten lernen, sich wie<br />
Kunden zu verhalten, nämlich sich sehr genau darüber<br />
zu informieren, ob die angebotene Leistung im<br />
eigenen Fall wirklich sinnvoll ist. Möglicherweise geht<br />
so auch ein Stück Vertrauen in die ärztliche Versorgung<br />
und die ärztliche Ethik in diesem Zusammenhang<br />
verloren.<br />
Der mündige Patient, der Partner im Gesundheitssystem<br />
ist in aller Munde, wir muten den Menschen<br />
inzwischen eine ganze Menge zu. Der Mensch soll<br />
sich zurechtfinden im Gesundheitswesen, er soll verstehen,<br />
was ihm geraten wird, er soll die adäquate<br />
Behandlungseinrichtung finden, sich entscheiden, zu<br />
welchem Arzt, in welches Krankenhaus er geht, in<br />
welcher Krankenkasse er sich versichern lässt, er soll<br />
über Zusatzversicherungen nachdenken, seine Rechte<br />
kennen und einfordern, seine Interessen vertreten,<br />
sich aktiv an Entscheidungen beteiligen usw.<br />
Anforderungen an den mündigen Nutzer<br />
des Gesundheitssystems<br />
■ Sich im Gesundheitssystem zurechtfinden<br />
■ Verstehen, interpretieren und analysieren<br />
von Informationen zu Gesundheit und<br />
Krankheit<br />
■ Adäquate Entscheidungen in bezug auf den<br />
Leistungsumfang von Krankenversicherungen<br />
treffen<br />
■ Die adäquate Behandlungseinrichtung finden<br />
■ Patientenrechte kennen und einfordern<br />
■ Patienteninteressen vertreten<br />
■ Sich aktiv an Entscheidungen beteiligen<br />
■ Informierte Entscheidungen treffen<br />
Dierks ML, Medizinische Hochschule Hannover,<br />
Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitsforschung<br />
Das sind ziemlich viele Anforderungen und wir können<br />
uns auch vorstellen, dass nicht jeder Mensch<br />
gleichermaßen diese Art von Anforderungen tatsächlich<br />
bewältigen kann.<br />
Unbestritten ist, dass die Menschen sich einbringen<br />
wollen in Entscheidungen im Gesundheitssystem.<br />
Eine europäische Vergleichsstudie hat untersucht,<br />
wie die Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungen in<br />
Bezug auf ihre Diagnostik und Therapie beteiligt sein<br />
wollen. Ergebnis ist, dass knapp 90 Prozent der Befragten<br />
in Deutschland ein hohes Interesse daran<br />
haben, gemeinsam mit ihrem Arzt Entscheidungen zu<br />
treffen.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 20<br />
Professionelle unterschätzen die Partizipationsbereitschaft<br />
der Patienten<br />
Dass dies beeinflusst ist durch eine ganze Reihe von<br />
Variablen, wie Alter, Sozialschicht usw., müssen wir<br />
an dieser Stelle nicht unterstreichen. Interessant ist,<br />
dass nur 44,8 Prozent der Befragten angeben, dass<br />
dieser Wunsch in konkreten Behandlungskontakten<br />
auch tatsächlich akzeptiert wird. Zwischen dem, was<br />
die Menschen wünschen, und dem, wie die Professionellen<br />
darauf reagieren, klafft offenbar eine ziemliche<br />
Lücke.<br />
Interessant ist in diesem Zusammenhang der kulturelle<br />
Vergleich. Die Bereitschaft, sich auf eine aktive<br />
Rolle als Patient einzulassen, ist in Spanien und Polen<br />
deutlich geringer als in Deutschland.<br />
Diese und ähnliche Studien zeigen: Die Partizipationsbereitschaft<br />
der Menschen wird von den Professionellen<br />
deutlich unterschätzt und kaum abgefordert.<br />
Das bedeutet: Wir brauchen eine neue Kommunikationskultur<br />
im Gesundheitswesen. Wir brauchen gezielte<br />
Ermutigung für die Menschen, sich aktiv einzubringen.<br />
Nicht jeder Patient hat von sich aus die Fähigkeit,<br />
seine Bedürfnisse zu artikulieren. Was wir sicherlich<br />
auch brauchen – und damit sind wir wieder auf der<br />
Ebene der Systemfragen – sind finanzielle Anreize<br />
für eine gesprächsorientierte Medizin und eine konsequente<br />
Patientenorientierung als Leitmotiv in der<br />
Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe.<br />
Es gibt Merkmale für die Kompetenz des Patienten,<br />
sich im Gesundheitssystem zu bewegen. Das entsprechende<br />
Stichwort in der theoretischen Debatte<br />
heißt „health literacy“. Ausgangsfrage ist: Wie gut ist<br />
jemand in der Lage, sich und seine Interessen nicht<br />
nur zu vertreten, sondern gesundheitsbezogene Themen<br />
überhaupt zu verstehen?<br />
„Health literacy“ als Begriff kommt aus den USA und<br />
setzt sich aus verschiedenen Aspekten zusammen.<br />
Ein Patient muss zunächst das Notwendige hören und<br />
verstehen können, er muss auch geschriebene Texte<br />
verstehen können usw. Wettbewerb setzt voraus,<br />
dass Menschen in der Lage sind, Material, das sie für<br />
ihre Entscheidung brauchen, erstens zu finden, zweitens<br />
zu lesen und drittens wirklich zu verstehen.<br />
In den USA beispielsweise sind mehr als 50 Prozent<br />
der Menschen nicht in der Lage, einfache Informationen<br />
zu verstehen. Man hofft, dass es in Deutschland<br />
besser aussieht, aber einige Studien lassen uns, gerade<br />
was die prospektive Entwicklung angeht, nicht<br />
unbedingt optimistisch sein.<br />
Jedenfalls brauchen wir, wenn wir Wettbewerb wollen,<br />
deutliche Anstrengungen, die „health literacy“ der<br />
Menschen entscheidend zu verbessern. Das geht<br />
natürlich zunächst über Information. Es gibt eine Fülle<br />
von Informationen auf der einen Seite – wir diskutieren<br />
sogar über einen Informations-Overload –, auf der<br />
anderen Seite ist die Qualität sehr heterogen.<br />
Wir müssen also mehr als bisher die Information so<br />
aufbereiten, dass sie auch diejenigen verstehen können,<br />
die nicht auf einem hohen „health literacy“-Level<br />
sind. Wir müssen auf die unterschiedlichen Informationstypen<br />
eingehen, auf diejenigen, die sehr viel Information<br />
wollen, und auch diejenigen, die Entscheidungen<br />
vollständig ihrem Arzt überlassen möchten<br />
und nur wenige, ausgewählte Informationen wünschen.<br />
Deutschland Schlusslicht bei Information<br />
und Kommunikation<br />
Wie sieht es mit der Informationsvermittlung, einem<br />
zentralen Bedürfnis der Patienten, in Deutschland<br />
aus. In einer international vergleichenden Studie des<br />
Commonwealth Fund hat Deutschland, wenn es um<br />
den Zugang zu medizinischen Leistungen geht, sehr<br />
gute Ergebnisse erzielt. Wir haben hierzulande sehr<br />
kurze Wartezeiten, eine gute Versorgung von chronisch<br />
kranken Patienten, zeitnahe Befunde und eine<br />
niedrige Rate von Infektionen im Krankenhaus.<br />
Allerdings ist Deutschland Schlusslicht bei der Koordination<br />
von Leistungserbringern und Sektoren, im Entlassungsmanagement<br />
und im Bereich der Information<br />
und Kommunikation. Was die Menschen sich wünschen<br />
und häufig schmerzhaft vermissen sind Information,<br />
Kommunikation und das Eingehen auf ihre<br />
Bedürfnisse.<br />
Hier brauchen wir zukünftig deutlich mehr Anstrengungen<br />
im System, diese Bedürfnisse tatsächlich zu<br />
realisieren. Dazu zählen Anreizsysteme für Professionelle,<br />
möglicherweise neue Berufsprofile, aber auch<br />
der Ausbau niedrigschwelliger, leicht zugänglicher<br />
und verständlicher Informationsangebote. Patienten<br />
müssen Zugang zu guten, möglichst evidenz-basierten<br />
Informationen haben, und sie brauchen Unterstützungsinstanzen,<br />
die ihnen bei der Aneignung von<br />
Informationen helfen.<br />
Ein weiteres, zentrales Bedürfnis der Menschen ist<br />
der Wunsch nach Transparenz über die Qualität der<br />
Versorgung. Patienten wollen wissen, wie gut die<br />
Leistungserbringer sind, an wen sie sich im Krankheitsfall<br />
wenden können. Auch wenn wir zur Zeit noch<br />
keine genauen Kenntnisse darüber haben, wie Transparenzinformationen<br />
tatsächlich genutzt würden und
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 21<br />
welchen Einfluss auf die Wahl einer Einrichtung entsprechende<br />
Informationen haben, sollte der Ausbau<br />
vorangetrieben werden.<br />
Neue Kommunikationskultur erforderlich<br />
Wenn Patientenorientierung ernst genommen wird,<br />
brauchen Patienten Teilhabe, verständliche Informationen,<br />
adäquate Kommunikationsformen, Transparenz<br />
über die Qualität und Transparenz über das, was<br />
im Gesundheitswesen passiert. Was sie zudem brauchen,<br />
sind unterstützende Instanzen, die sie dann in<br />
Anspruch nehmen können, wenn sie Probleme haben,<br />
wenn sie dezidierte Fragen haben, wenn sie sich<br />
zum Beispiel über Ärzte oder ihre Krankenkassen<br />
beschweren möchten.<br />
Als Beispiel sind hier die unabhängigen Patientenberatungsstellen<br />
zu nennen. Die Berater sind Lotsen im<br />
Gesundheitswesen, geben Adressen weiter und helfen<br />
Patienten, wenn sie sich beschweren wollen, Hilfe<br />
bei Widersprüchen brauchen oder sich in einer psychischen<br />
Notsituation befinden. Diese Beratungsmöglichkeiten<br />
müssen ausgebaut werden. Außerdem<br />
brauchen wir Unterstützungsstrukturen besonders für<br />
die vulnerablen Gruppen, z.B. für Menschen in Altenund<br />
Pflegeheimen.<br />
Daraus folgt für Partizipation<br />
■ Neue Kommunikationskulturen in den Institutionen<br />
des Gesundheitswesens<br />
■ Ermutigung der Patienten, sich aktiv an Entscheidungen<br />
zu beteiligen<br />
■ Finanzielle Anreize für gesprächsorientierte<br />
Medizin<br />
■ Konsequente Patientenorientierung als Leitthema<br />
für Aus-, Fort- und Weiterbildung in<br />
den Gesundheitsberufen<br />
Dierks ML, Medizinische Hochschule Hannover,<br />
Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitsforschung<br />
Um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu<br />
erhöhen, braucht es neben diesen Beratungsinstanzen<br />
aber auch Angebote, die eher im Bildungsbereich<br />
angesiedelt sind. Ein Beispiel – und Werbung in eigener<br />
Sache: Wir haben an der Medizinischen Hochschule<br />
Hannover die Patienten-Universität gegründet.<br />
In ihrem Rahmen laden wir Menschen der Region zu<br />
strukturierten Bildungsveranstaltungen über die<br />
Funktionsweise des menschlichen Körpers und damit<br />
verbundene Aspekte ein.<br />
Hier nur einige Impressionen: Im großen Hörsaal treffen<br />
sich 300 Menschen, die sich für das Thema Gesundheit<br />
interessieren. Nach einem Expertenvortrag<br />
haben sie an Lernstationen die Möglichkeit, Medizin<br />
zum Anfassen zu erleben, gleichzeitig Informationen<br />
zu Patientenrechten und weiteren relevanten Themen<br />
zu bekommen.<br />
Wir wollen den Dialog zwischen Medizinern und (potenziellen)<br />
Patienten zu einem Zeitpunkt fördern, wo<br />
beide sich in einer ganz neuen Situation befinden,<br />
nämlich auf gleicher Augenhöhe. Das ist für beide<br />
eine interessante Lernerfahrung. Wir sind davon überzeugt,<br />
dass Modelle, wie die Patienten-Universität,<br />
dazu beitragen können, dass Menschen sich in einem<br />
Gesundheitssystem, das zudem wettbewerbliche Elemente<br />
enthält, besser als vorher zurechtzufinden.<br />
© gpk<br />
Kernthesen von Prof. Dr. Marie-Luise Dierks<br />
■ Patienten selbst verstehen sich nur in Ausnahmefällen<br />
als „Kunde“. Sie kaufen keine Leistung<br />
ein – sie lassen sich behandeln. Sie sind<br />
Patienten mit dem Anspruch, mit ihren Bedürfnissen<br />
akzeptiert und nicht lediglich als zahlende<br />
Kunden betrachtet zu werden.<br />
■ Menschen wollen ernst genommen werden<br />
und sich aktiv an Entscheidungen über ihre<br />
Gesundheitsversorgung beteiligen.<br />
■ Die Bereitschaft und Fähigkeit der Patienten,<br />
eine aktive Rolle zu übernehmen, wird von<br />
vielen Professionellen noch deutlich unterschätzt<br />
und zu wenig akzeptiert.<br />
■ Wir brauchen eine neue Kommunikationskultur<br />
im Gesundheitswesen. Wir brauchen aktive<br />
Ermutigung und Unterstützung für die Menschen<br />
sich zu beteiligen. Das muss deutlich<br />
intensiver als bisher in die Curricula der Gesundheitsprofessionen<br />
integriert werden.<br />
■ Wettbewerb, dem die Patienten ausgesetzt<br />
werden, bedingt, dass Menschen in die Lage<br />
versetzt werden, Informationen, die sie für Entscheidungen<br />
brauchen, zu finden und in ihrer<br />
Reichweite wirklich zu verstehen.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 22<br />
Grenzen der Ökonomisierung<br />
Schleichende Rationierung im GKV-System muss offen und ehrlich thematisiert werden<br />
Von Ekkehard Ruebsam-Simon<br />
Die folgenden Ausführungen gliedern sich in drei Teile:<br />
Im ersten Teil gehe ich auf die Grundfragen ein, im<br />
zweiten beschreibe ich den Istzustand, im dritten Teil<br />
zeichne ich die Perspektiven auf.<br />
Die Grundfragen<br />
Da ist zunächst die Rolle des Arztes, die wir mitbedenken<br />
sollten, wenn wir über ökonomische Themen<br />
sprechen. Wir müssen sie im Hinterkopf haben, sonst<br />
wird die Diskussion zu flach. Sind Ärzte Treuhänder<br />
oder letztes Glied der Wertschöpfungskette im Gesundheitsmarkt?<br />
Befragt man die rechtlichen Grundlagen der ärztlichen<br />
Tätigkeit, so lesen wir in der Bundesärzteordnung<br />
Paragraph 1: „1., der Arzt dient der Gesundheit<br />
des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes.<br />
2., der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe, er ist seiner<br />
Natur nach ein freier Beruf.“<br />
Damit könnte man eigentlich schließen. Denn nach<br />
den Worten dieser Grundlegung haben Ärzte mit so<br />
etwas Degoutantem wie einem Gewerbe nichts zu<br />
tun. Die Wirklichkeit ist anders, das wissen wir alle.<br />
Ohne Ökonomie, das heißt, ohne wirtschaftliche und<br />
betriebswirtschaftliche Basierung können wir uns die<br />
Ethik zunehmend nicht mehr leisten.<br />
Einige weitere kursorische Bemerkungen zur Rolle<br />
des Arztes und der besonderen Beziehung zum Patienten:<br />
Neben dem Priester ist der Arzt der älteste<br />
Beruf. Es gibt praktisch keine menschliche Gemeinschaft<br />
ohne Heilkundige. Zu Ärzten werden Heilkundige<br />
aber erst in Hochkulturen, also in Gesellschaften,<br />
in denen Geld vorhanden ist, eine „Kaste“ zu<br />
bezahlen.<br />
Unabhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen<br />
Prägung und Umgebung handeln Ärzte mit endgültigen<br />
Dingen. Darin beruht ihre besondere Position und<br />
ihre Macht in den verschiedenen Gesellschaften, unabhängig<br />
davon, ob sie theologisch aufgeladen sind<br />
oder nicht.<br />
Ein Arzt wird wie der Priester mit existenziellen Problemen<br />
befasst. Biologische Radikale, Krankheit, Antizipation<br />
des eigenen Todes, Tod des anderen sind<br />
Grenzerfahrungen, die man aushalten muss und die<br />
erfahren werden. Das sind die Dinge, mit denen wir zu<br />
tun haben, und das beschreibt den sozialen und psychologischen<br />
Unterbau, auf dem Ärzte stehen.<br />
Jeder Arzt steht in der Folge oder einer Nachfolge<br />
unzähliger Ärztegenerationen und darin hat die Arzt-<br />
Patienten-Beziehung ihre emotionale archaische<br />
Wurzel. Der Arzt ist sozusagen qua Behandlungsauftrag<br />
selbstverständlich der Treuhänder des Patienten.<br />
Er ist gebunden zu helfen und zu heilen.<br />
In diesem Zusammenhang ist die Verschwiegenheit<br />
in der Arzt-Patienten-Beziehung, also die ärztliche<br />
Schweigepflicht, der Kitt, der diese Elemente zusammenhält.<br />
Ein Angriff auf sie zerstört etwas Grundlegendes.<br />
Das ist einer der Gründe, warum die Ärzte bei<br />
der E-Card und all diesen Themen, die damit verbundenen<br />
sind, wie Internettechnologie, so sensibel reagieren.<br />
Hier wird etwas ganz Entscheidendes in Frage<br />
gestellt.<br />
Der Istzustand<br />
1. Trotz der Überzeugung von vielen, das deutsche<br />
Gesundheitssystem könnte wettbewerblich organisiert<br />
werden, bezweifele ich das grundsätzlich. Ein<br />
System, das Sachleistungen verkauft und darüber<br />
noch soziale Ausgleichsfunktionen betreibt, ist im eigentlichen<br />
Sinne nicht ökonomisierbar. Weder der<br />
EBM 2000 plus noch der nächste 2008 können betriebswirtschaftliche<br />
Vernunft hineinbringen.<br />
2. Die Preise ärztlicher Dienstleistungen entsprangen<br />
bisher eher einer philosophischen Schätzometrie<br />
als einer durchgerechneten Vollkostenkalkulation, in<br />
der ärztliche Arbeitszeit und unternehmerisches Risiko<br />
adäquat abgebildet werden. Hier hatten und haben<br />
wir <strong>politische</strong> Preise, die dem Diktat der Beitragssatzstabilität<br />
gehorchen. Es darf alles geleistet werden,
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 23<br />
nur nicht teurer als bisher. Das ist die fundamentale<br />
Logik.<br />
Nach 15 Jahren Budgetierung haben wir inzwischen<br />
eine etwa 30-prozentige Unterdeckung des ambulanten<br />
Systems erreicht. Die Möglichkeiten der Ärzte, als<br />
ökonomisch potente Player aufzutreten, sind damit<br />
sehr stark begrenzt. Auf den Punkt gebracht, es fehlt<br />
schlicht das Geld für Investitionen.<br />
3. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) mutierten<br />
nach den letzten Reformen zu staatlich dominierten<br />
Unterorganisationen, die mit der Selbstverwaltung<br />
im umfassenden Sinne kaum noch etwas zu<br />
tun haben.<br />
Durch strukturelle Veränderungen, Professionalisierung,<br />
Entzug von Funktionen, die ihr „Kerngeschäft“<br />
betreffen – also Integrationsverträge, §-73-Verträge<br />
(Hausarztverträge) usw. – wurden sie, politisch gewollt,<br />
geschwächt und spielen deshalb gegenüber<br />
den Krankenkassen eindeutig den untergeordneten<br />
Part. Die Kräfteverhältnisse haben sich verschoben,<br />
sie wurden bewusst in diese Richtung gebracht.<br />
4. Not tut die Entwicklung qualitäts- und kostengerechter<br />
Vergütungssysteme, die auf einer Kosten-/<br />
Leistungs-Rechnung beruhen wie in der freien Wirtschaft.<br />
Legt man diesen Maßstab an, sind zahlreiche<br />
ärztliche Praxen schon längst nicht mehr rentabel. Sie<br />
existieren unter ständiger maximaler Ausbeutung der<br />
eigenen Arbeitskraft, vielfach finanziert der Arzt sich<br />
allenfalls seinen eigenen Arbeitsplatz, mehr nicht.<br />
In vielen Praxen arbeitet die Ehefrau zu reduziertem<br />
Lohn oder gar kostenfrei mit, es gibt Praxen, wo sogar<br />
die Putzarbeiten von der Arztfamilie übernommen<br />
werden, damit die Fixkosten gesenkt werden können.<br />
Angemessene Vergütungssysteme würden die Versorgung<br />
allerdings erheblich verteuern.<br />
5. Im Folgenden einige Beispiele für die jetzige<br />
Preiskalkulation. Grundlage ist eine Patientenquittung<br />
aus dem August 2007 zu realen Punktwerten, die ich<br />
jetzt geltend gemacht habe: ein Arztbesuch: 15,20<br />
Euro, Wegepauschale 2 bis 5 km: 3,20 Euro, eine<br />
Konsultation durch den Arzt zeitlich nicht begrenzt:<br />
1,33 Euro, ein EKG: 8,36 Euro, Ultraschalluntersuchung<br />
des Abdomens: 16,15 Euro. Das heißt, bundesweit<br />
liegt die Arztstunde zwischen 20 und 40 Euro<br />
über alle Fachgebiete. Jeder kann das mit einer Handwerkerstunde<br />
vergleichen.<br />
Konsequenz dieser Vergütungsstrukturen ist die<br />
hochgetaktete Fließbandmedizin, das heißt, nur<br />
durch Masse und Geschwindigkeit lässt sich ein an-<br />
nehmbares Honorar für den Arzt erwirtschaften. Das<br />
gilt umso mehr für techniklastige Bereiche der Medizin.<br />
Die von allen gewünschte sprechende Medizin<br />
bleibt extrem unterbezahlt, lohnt sich, betriebswirtschaftlich<br />
betrachtet, nicht.<br />
6. Die fortlaufenden Budgetierungen haben zu einem<br />
dramatischen Punktwertverfall geführt und viele<br />
Praxen an den Rand des Konkurses gedrängt. Das<br />
heißt, mit der durch Sozialgerichte und Politik ausgelösten<br />
Inflation des Leistungsversprechens wird die<br />
kassenärztliche Selbstverwaltung mit einem Leistungsvolumen<br />
ohne realistische Gegenkalkulation<br />
konfrontiert.<br />
Leider wollen weder Gesundheitspolitiker noch die<br />
ärztliche Selbstverwaltung – ich schließe unsere eigenen<br />
Leute ein – die Verantwortung für die eigentlich<br />
notwendige Kürzung des Leistungskatalogs übernehmen.<br />
Das ist aber der eigentliche Knackpunkt – wir<br />
sprechen nicht über die Belastung durch den medizinischen<br />
Fortschritt. Der wird ungeheuer teuer.<br />
Die Politik geht den Weg der heimlichen Rationierung<br />
von Gesundheitsdienstleistungen. Die Verantwortung<br />
dafür wird großzügig den Ärzten in Klinik und Praxis<br />
überlassen und die können sich dann mit Patienten<br />
und Versicherten gefälligst auseinandersetzen.<br />
7. Im ambulanten Bereich werden durch ausgeklügelte<br />
Pressionsinstrumente die Ärzte unter ständigen<br />
Regressdruck gesetzt. Sie haften mit ihrem Einkommen<br />
für die Fehler der Politik. Das Ganze wird<br />
dann auch noch mit dem Etikett der wirtschaftlichen<br />
Vernunft bemäntelt. Zurzeit läuft eine Regresswelle<br />
über Deutschland, deren Ausmaße sich viele gar<br />
nicht vorstellen können. Hunderttausende von Euro<br />
an Forderungen gegenüber Ärzten, die angeblich<br />
zu viel verordnet haben. Meistens fällt das in sich<br />
zusammen, aber es ist unerträglich. Es gibt Wirtschaftlichkeitsprüfung,<br />
Plausibilitätskontrollen, Fallzahlzuwachsbegrenzungen,<br />
Arznei- und Heilmittelbudget,<br />
Laborbudget usw. usw.<br />
Die Krankenkassen liefern – oft mit etlichen Monaten<br />
Verzögerung – Daten zu den Medikamentenkosten.<br />
Zeitnahe Informationen fehlen oft gänzlich. Was und<br />
wie soll der Arzt hier steuern? Wo bleibt die Therapiefreiheit,<br />
wenn Dutzende kaum überschaubare Rabattverträge<br />
das Handeln begrenzen.<br />
Der Arzt, der sein aut idem-Kreuzchen nicht auf das<br />
Rezept setzt, ist in meinen Augen ein Dummkopf. Er<br />
haftet für ein Medikament, das der Apotheker herausgibt.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 24<br />
8. Eine verrückt gewordene Bürokratie frisst inzwischen<br />
20 bis 40 Prozent der täglichen Arbeitszeit<br />
eines niedergelassenen Arztes. Darin liegt meines<br />
Erachtens der wesentliche Grund für die innere Kündigung<br />
vieler Ärzte. Am 14. September 2007 meldete<br />
die Ärztekammer Nordrhein, jeder fünfte junge Arzt<br />
leide an Burnout.<br />
Die Zufriedenheit mit dem Beruf sinkt dramatisch.<br />
Viele junge Ärzte gehen ins Ausland. Ältere arbeiten<br />
am Wochenende in Großbritannien. Das heißt, die<br />
Überalterung der niedergelassenen Ärzteschaft, insbesondere<br />
der Hausärzte, führt demnächst zu einer<br />
Art Systemausstieg im Bypass.<br />
9. Durch rigide Budgetierung und schleichende Rationierung<br />
koppelt sich Deutschland vom medizinischen<br />
Fortschritt ab. Viele Pharmahersteller verlassen<br />
ganz allmählich den deutschen Markt. Es gibt<br />
erhebliche Mängel in der Versorgung geriatrischer<br />
Patienten, Schmerzpatienten, Demenzkranken, Psychotiker,<br />
Depressiven.<br />
In diesen Bereichen, in denen vorwiegend innovative<br />
hochpreisige Medikamente angewendet werden,<br />
fürchten viele Ärzte die Regresse und vermeiden dieses<br />
Thema, indem sie einfach ausweichen. Dieses<br />
Verschreibungsverhalten hat nur bedingt etwas mit<br />
Qualität zu tun, ein großer Teil ist Ergebnis der Angst<br />
vor Regressen.<br />
Zusammenfassend: Es ist äußerst zweifelhaft, ob wir<br />
längerfristig in einer globalisierten Wirtschaft unsere<br />
Art des Gesundheitswesens, die auf einer sozialistischen<br />
Insel, die noch auf Tauschwirtschaft beruht,<br />
leisten können. Ich denke, wir brauchen andere Konzepte.<br />
Die Perspektiven<br />
1. Der geplante Gesundheitsfonds wird das Wettbewerbsproblem<br />
für die niedergelassenen Ärzte verschärfen.<br />
Die Abkoppelung der gesetzlichen Krankenversicherung<br />
(GKV) vom Wirtschaftswachstum bleibt<br />
weiterhin erhalten. Das nominale Bruttoinlandsprodukt<br />
wuchs 2006 um 4,2 Prozent, während die Beitragseinnahmen<br />
der Krankenkassen um 0,5 Prozent<br />
zulegten.<br />
Da diese auf einen einheitlichen Hebesatz festgelegt<br />
werden, kann es nur einen Wettbewerb in verschiedenen<br />
Tarifen geben und beim Einkaufen von Dienstleistungen.<br />
Um Zusatzbeiträge zu vermeiden, werden<br />
die Krankenkassen die Einkaufskosten durch Einzelverträge<br />
immer mehr drücken und ein Dumping bei<br />
den Leistungserbringern auslösen.<br />
Die AOK hat angekündigt, das Kollektivvertragssystem<br />
mittelfristig durch dieses Instrumentarium ablösen<br />
zu wollen. Das ist die Kündigung des bestehenden<br />
Systems. Damit verlieren die KVen ihre Funktion<br />
langfristig. Das ist meines Erachtens eine Art Systemausstieg.<br />
2. Die Einzelpraxis ist sicherlich ein Auslaufmodell,<br />
zumindest in den großen Städten. Die Zukunft gehört<br />
den vergesellschafteten Formen, also den Berufsausübungsgemeinschaften,<br />
Gemeinschafspraxen, Medizinischen<br />
Versorgungszentren (MVZs), Teilgemeinschaftspraxen<br />
und Ärztehäusern.<br />
3. Da die Niedergelassenen mangels Kapital nur<br />
schwache Player in der Gesundheitswirtschaft sein<br />
können, können sie nur durch Verbünde, also Arztnetze,<br />
ihren Einfluss vermehren. Wenn die KVen als<br />
Interessenvertretung obsolet werden, gehört die Zukunft<br />
den Netzverbindungen, die politisch und wirtschaftlich<br />
arbeiten.<br />
Nur so können Ärzte langfristig an der Wertschöpfung<br />
im Gesundheitsmarkt mitwirken. Ich denke, dass die<br />
Bewusstseinsstruktur vieler Ärzte noch weit von dieser<br />
Einsicht entfernt ist. Dem Nachfrage-Oligopol der<br />
Krankenkassen können Ärzte dann nur ein Anbieter-<br />
Oligopol für medizinische Dienstleistungen entgegenstellen.<br />
Gegenüber dem einzelnen Arzt ist die Krankenkasse<br />
eine beherrschende Übermacht.<br />
4. Mit dem Ausbau des Selbstzahlermarktes – Individuelle<br />
Gesundheitsleistungen (IGeL) – haben Ärzte<br />
erkannt, dass sie zunehmend ökonomische Verantwortung<br />
übernehmen müssen für sozialrechtlich nicht<br />
mehr abgedeckte medizinische Dienstleistungen. Der<br />
Verbund „Medi“ ist der größte Praxisverbund in<br />
Deutschland. Er hat mit überörtlichen Teilgemeinschaftspraxen<br />
ein interessantes und funktionierendes<br />
– auch berufsrechtlich abgeklärtes – Modell für unternehmerische<br />
ärztliche Tätigkeit entwickelt.<br />
5. Die Zukunft unseres Gesundheitswesens wird<br />
von zunehmender Privatisierung gekennzeichnet<br />
sein, wie wir im Krankenhaussektor bereits sehen.<br />
Auch der Versuch der Bundesgesundheitsministerin,<br />
die private Krankenversicherung (PKV) abzuwickeln,<br />
ist rückwärts gewandt und macht genau den Teil des<br />
Systems, der noch einigermaßen funktioniert, ebenfalls<br />
krank.<br />
Langfristig wäre die Option besser, die gesetzlichen<br />
Krankenkassen zu privatisieren und auf ihre eigentliche<br />
Versicherungsfunktion zurückzuführen. Dann<br />
könnten sie nämlich auch wirklich als ökonomische
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 25<br />
Player agieren. Damit wären sie auch dem unheilvollen<br />
Tun der Gesundheitspolitiker entzogen und könnten<br />
ordentlich wirtschaften.<br />
Denn seitdem diese die GKV als unerschöpfliche<br />
Steuerquelle erkannt haben und als Spielwiese für<br />
ihre Verschiebebahnhöfe zwecks Haushaltsstabilisierung,<br />
sind wir weiter denn je davon entfernt.<br />
6. Ärzte werden einen Teil der Rationierungsaufgaben<br />
übernehmen müssen. Ich plädiere für eine ehrliche<br />
und offensive Gestaltung derselben. Das gilt aber<br />
nur, wenn die anderen Player im System – also Kassensozialpolitiker<br />
– ebenfalls ehrlich und offensiv damit<br />
umgehen. Es darf nicht weiter so sein, dass diese<br />
gesellschaftspolitisch brisanten Fragen am Tresen<br />
der Arztpraxis sozusagen nebenbei von überforderten<br />
Helferinnen und Ärzten beantwortet werden<br />
müssen.<br />
7. Es ist kein Geheimnis, dass ich ein Befürworter<br />
des Systemausstiegs per kollektiver Zulassungsrückgabe<br />
der Ärzte bin, wenn die <strong>politische</strong>n und ökonomischen<br />
Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens<br />
in Zukunft weiterhin die Ärzteschaft in bisherigem<br />
Maße belasten. Zurzeit wird ein Drittel der ärztlichen<br />
Leistung durch die Budgetierung weggeregelt,<br />
es wird von den Ärzten alljährlich der Gesellschaft<br />
geschenkt. Die maliziöse Erinnerung an den Eid des<br />
Hippokrates, die immer dann kommt, wenn Ärzte eine<br />
angemessene Bezahlung einfordern, sollte man getrost<br />
vergessen.<br />
8. Um überhaupt wirtschaftlich verantwortlich handeln<br />
zu können, brauchen Ärzte eine transparente<br />
betriebswirtschaftlich kalkulierte Honorarregelung,<br />
die die real existierende Morbidität auch angemessen<br />
abbildet, ohne die unsägliche Zahl von Komplexziffern.<br />
Mir leuchtet nicht ein, dass das, was in der gesamten<br />
Volkswirtschaft gang und gäbe ist – nämlich eine<br />
saubere Definition der Leistungen mit äquivalentem<br />
Euro-Preis – für den Bereich der Gesundheitswirtschaft<br />
nicht gültig sein soll. Erst wenn wir das erreicht<br />
haben, wenn wir eine transparente Taxe anwenden,<br />
können wir Ärzte im Wirtschaftsmarkt Gesundheitswesen<br />
adäquat handeln.<br />
Im Moment sind Ärzte die Autofahrer, denen der Tacho<br />
ausgebaut wurde, für die überall Radarfallen aufgebaut<br />
wurden und die man dann mit Strafen überzieht,<br />
wenn sie die Höchstgeschwindigkeit überschritten<br />
haben. So ist in etwa die Situation. Zudem: Die<br />
Kostendämpfungspolitik, die wir über Jahrzehnte ha-<br />
ben, steht vor ihrem Ende. Das System – das haben<br />
sicherlich die meisten Player gemerkt – lässt sich<br />
nicht noch mehr auspressen.<br />
9. Eine vollständige Ökonomisierung des Gesundheitswesens<br />
wird es aber nicht geben können, da<br />
medizinische Dienstleistungen nur bis zu einem gewissen<br />
Punkt rationalisierbar und rationierbar sind.<br />
Ärzte sind nicht nur Vollzugsorgane einer ökonomischen<br />
Vernunft.<br />
Es bleibt ein inkompressibler Rest der oben beschriebenen<br />
fundamentalen Beziehung übrig. Der Arzt ist<br />
durch seine Funktion immer auch Sachwalter des<br />
Patienten und zunehmend auch Partner.<br />
In einer Zeit, in der Laien häufig besser informiert sind<br />
als professionelle Heiler, verfängt der Gestus Dr. Allwissend<br />
wirklich nicht mehr. Zuwendung, Fürsorge,<br />
Mitleid und Begleitung in großer körperlicher und seelischer<br />
Not sind nicht quantifizierbar und auch nicht<br />
ökonomisierbar. Ich denke, dass das die immanente<br />
Grenze des Leistungsbedarfs ist.<br />
© gpk<br />
Kernthesen von Ekkehard Ruebsam-Simon<br />
■ Der Arzt ist der Treuhänder des Patienten.<br />
Das ganz besondere Vertrauensverhältnis zwischen<br />
Arzt und Patient muss gewährleistet bleiben.<br />
■ Um wirtschaftlich verantwortlich handeln zu<br />
können, brauchen Ärzte eine transparente betriebswirtschaftlich<br />
kalkulierte Honorarregelung,<br />
eine saubere Definition der Leistungen mit<br />
äquivalentem Euro-Preis.<br />
■ Die Einzelpraxis ist ein Auslaufmodell, die<br />
Zukunft gehört den vergesellschafteten Kooperationsformen.<br />
■ Die Kassenärztlichen Vereinigungen<br />
(KVen) werden als Interessenvertretung obsolet.<br />
Die Ärzte werden sich in Netzverbindungen<br />
zusammenschließen, die politisch und wirtschaftlich<br />
arbeiten und dem Nachfrage-Oligopol<br />
der Kassen ein Anbieter-Oligopol der Ärzte<br />
entgegensetzen.<br />
■ Die schleichende Rationierung im GKV-<br />
System muss offen und ehrlich thematisiert<br />
werden. Auch die Ärzte müssen sich an dieser<br />
Diskussion beteiligen.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 26<br />
Prof. Dr. Volker Amelung (Jahrgang<br />
1965), Prof. für Gesundheitssystemforschung<br />
an der Medizinischen Hochschule<br />
Hannover und Vorstandsvorsitzender<br />
des Bundesverbandes Managed Care.<br />
Mehrere Jahre Gastwissenschaftler an<br />
der Columbia University (New York). Berater<br />
für internationale und nationale Unternehmen<br />
im Gesundheitswesen. Forschungsschwerpunkte:Gesundheitssystemforschung,<br />
Managed Care, Gesundheitsmanagement.<br />
Wulff-Erik von Borcke (Jahrgang 1967),<br />
General Manager Deutschland des Pharmaunternehmens<br />
Abbott. Zuvor in verschiedenen<br />
Positionen bei Abbott in den<br />
USA tätig.<br />
Prof. Dr. Marie-Luise Dierks (Jahrgang<br />
1953), seit 1999 Leitung des Arbeitsschwerpunkts<br />
Patienten und Konsumenten<br />
der Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin<br />
und Gesundheitssystemforschung<br />
an der Medizinischen Hochschule<br />
Hannover. Forschungsschwerpunkte:<br />
Patientenperspektive im Gesundheitswesen,<br />
Empowerment, Patientenzufriedenheit,<br />
Qualitätsmanagement, Patientenberatung<br />
und Patienteninformation, Neue<br />
Medizin.<br />
Dr. med. Hans-Joachim Fischer (Jahrgang<br />
1949), seit 2005 Director Gover-<br />
<strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong><br />
gpk<br />
<strong>Kommentare</strong><br />
ISSN: 0016–9102<br />
Herausgeber: <strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong> und<br />
Erich Schwaiger<br />
Redaktion: <strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong> (Chefredakteur),<br />
Dr. Rudolf Hammerschmidt (verantwortlich),<br />
Dr. Franz-Josef Bohle, Günther Sauerbrey,<br />
Erich Schwaiger<br />
Umbruch: Wolfgang Laack<br />
<strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong> GmbH<br />
Verlag <strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong> <strong>Kommentare</strong><br />
Bestellanschrift: Zentralbüro (Eifel)<br />
Postfach 10 17, 54614 Schönecken<br />
Tel.: (0 65 53) 9 21 10, Fax: (0 65 53) 9 2113;<br />
E-Mail: Schuetze-Eifel@t-online.de<br />
www.<strong>Leo</strong>Schuetze.de<br />
Hauptstadtbüro Berlin:<br />
Reinhardtstraße 18, 10117 Berlin<br />
Tel.: (030) 20 65 87-0, Fax: (030) 20 65 87-29;<br />
E-Mail: berlin@leoschuetze-eurogroup.de<br />
Autoren dieser Ausgabe<br />
mental Affairs & Communication Abbott.<br />
Von 1977– 1982 Tätigkeit als Assistenzarzt<br />
und anschließend Tätigkeit bei verschiedenen<br />
Pharmaunternehmen. Von<br />
2001–2005 Leiter Gesundheitspolitik bei<br />
Abbott.<br />
Prof. Dr. Eckhard Knappe (Jahrgang<br />
1943), Lehrstuhlinhaber SAM-Volkswirtschaftslehre<br />
an der Universität Trier. Seit<br />
1986 Co-Direktor des Zentrums für Arbeit<br />
und Soziales (ZENTRAS) und seit 1997<br />
Direktor des Zentrums für Gesundheitsökonomie<br />
(ZiG) der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte:Dienstleistungsmärkte,<br />
Arbeitsökonomik, Gesundheitsökonomik,<br />
Systeme der sozialen Sicherung.<br />
Silke Lautenschläger (Jahrgang 1968),<br />
Rechtsanwältin. Seit 1999 Mitglied des<br />
Landtages Hessen und seit 2001 Hessische<br />
Sozialministerin. Vorsitzende des<br />
Bundesratsausschusses für Arbeit und<br />
Sozialpolitik, Mitglied des Beirats der<br />
„Kids Care Stiftung“, stellv. Vorsitzende<br />
des Kuratoriums der Akademie der Arbeit<br />
(Frankfurt).<br />
Prof. Dr. rer. pol. h.c. Herbert Rebscher<br />
(Jahrgang 1954), Vorsitzender des Vorstandes<br />
der Deutschen Angestellten-<br />
Krankenkasse (DAK). Honorarprofessor<br />
für Gesundheitsökonomie an der Rechts-<br />
Wir bitten, Paket- und Päckchensendungen ausschließlich<br />
an <strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong>, c/o Johann Weber,<br />
Kapellenweg 3, 54614 Dingdorf, zu senden.<br />
Erscheinungsweise: monatlich. Der monatliche<br />
Bezugspreis beträgt EUR 4,00 zuzüglich Porto<br />
und Versandkosten.<br />
Zu wichtigen Themen erscheinen Sonderausgaben.<br />
Diese werden gesondert berechnet.<br />
Bankkonto:<strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong><strong>Kommentare</strong>,<br />
Konto 5 023 228, Raiffeisenbank Westeifel eG,<br />
BLZ 586 619 01<br />
Druck: Grafische Werkstatt Franz Pruckner,<br />
Detmolder Straße 13, 10715 Berlin.<br />
Tel. (030) 85479590, Fax (030) 85731196<br />
E-Mail: gw-pruckner@t-online.de<br />
Die mit Verfassernamen oder Abkürzungen gekennzeichneten<br />
Artikel geben nicht in jedem Fall<br />
die Auffassung der Redaktion wieder.<br />
Die mit „gpk“ gekennzeichneten Anmerkungen<br />
stammen von der Redaktion, nicht vom Verfasser.<br />
Nachdruck zu den üblichen Honorarbedingungen<br />
nur nach Zustimmung durch die Redaktion.<br />
Zitierung nur mit Quellenangabe.<br />
und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät<br />
der Universität Bayreuth. Studium<br />
der Wirtschafts- und Organisationswissenschaften<br />
an der Universität der Bundeswehr<br />
München mit Schwerpunkt Wirtschafts-<br />
und Sozialpolitik sowie Gesundheitsökonomie;<br />
sozialwissenschaftliches<br />
Studium mit Schwerpunkt Medizinische<br />
Ethik. Von 1996–2003 Vorsitzender des<br />
Vorstandes des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen<br />
e.V. (VdAK) und des<br />
Arbeiter-Ersatzkassen-Verbandes e.V.<br />
(AEV).<br />
Dipl.-Pol. Ekkehard Ruebsam-Simon<br />
(Jahrgang 1944), Facharzt für Allgemeinmedizin.<br />
Schwerpunkte: Orthopädie, Allergologie,<br />
Psychotherapie. Mitglied des<br />
Vorstands der Bezirksärztekammer<br />
Nordbaden, Mitglied der Vertreterversammlung<br />
der Kassenärztlichen Vereinigung<br />
Baden-Württemberg. Seit 2004<br />
stellv. Vorsitzender Medi Baden-Württemberg<br />
und Vorstandssprecher der<br />
Nordbadischen Ärzteinitiative (NAI).<br />
Das Abbott-Forum 2007 wurde organisatorisch<br />
und redaktionell unterstützt von<br />
Joachim Roscher, ipse Communication,<br />
Berlin.<br />
Beirat:<br />
Dr. Franz Altherr MdL (Mittelbrunn), Erwin<br />
Aymann (Kleve), Wolf-Michael Catenhusen<br />
(Münster), Dr. Paul Hoffacker (Essen), Peter<br />
Keller (Zellingen), Monika Knoche MdB<br />
(Hannover), Prof. Paul Krupp (Kempten/Allgäu),<br />
Alfred Kugler † (München), Karl-Josef<br />
Laumann (Hörstel-Riesenbeck), Dr. Volker<br />
Leienbach (Köln), Dr. Rolf Linkohr (Stuttgart),<br />
Dr. Bruno Menzel † (Dessau), Friedrich<br />
Merz MdB (Brilon), Dr. Gerd Müller MdB<br />
(München), Dr. Helga Otto (Claßnitz), Prof.<br />
Dr. Martin Pfaff (Stadtbergen), Dr. Godelieve<br />
Quisthoudt-Rowohl MdEP (Hildesheim),<br />
Willi Rothley (Rockenhausen), Gudrun<br />
Schaich-Walch (Frankfurt a.M.), Regina<br />
Schmidt-Zadel (Ratingen), Theo Starzner<br />
M.A. (München), Dr. Dieter Thomae (Sinzig-<br />
Bad Bodendorf), Dr. Hans-Peter Voigt (Northeim),<br />
Josef Vosen (Düren).
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 27<br />
Positionen von Teilnehmern des Abbott-Forums 2007<br />
Klaus Böttcher,<br />
Kaufmännische Krankenkasse KKH<br />
Wettbewerb der Kassen zur kurzfristigen Senkung<br />
von Kosten wird keinen nachhaltigen Erfolg haben, da<br />
letztendlich nicht der Versorgungsbedarf der Versicherten,<br />
sondern die Orientierung am Beitragssatz im<br />
Fokus steht.<br />
Wettbewerb um optimale Versorgungsmodelle setzt<br />
voraus, dass sowohl Leistungserbringer als auch Kostenträger<br />
bereit sind, die Qualität der Leistungserbringung<br />
durch Messung des Outcomes zu bewerten.<br />
Hieran mangelt es in der überwiegenden Anzahl von<br />
Verträgen, sei es im Bereich der Hausarztzentrierten<br />
als auch der Integrierten Versorgung. Die Routine-<br />
Dr. Erich Koch,<br />
Spitzenverbände der landwirtschaftlichen Sozialversicherung<br />
Für die Landwirtschaftlichen Krankenkassen und ihren<br />
Spitzenverband hat der Vertragswettbewerb einen<br />
hohen und weiter steigenden Stellenwert.<br />
Der zweiten These von Herrn Prof. Knappe („Wettbewerb<br />
allein als Vertragswettbewerb ist ohne Versicherungswettbewerb<br />
nicht funktionsfähig ...“) ist folglich<br />
zu widersprechen: Ein gesetzlich implementierter Vertragswettbewerb<br />
(vgl. z.B. die §§ 125 Abs. 2, 127,<br />
130 a Abs. 8 SGB V) ist alleintragend, weil es weiterer<br />
Cosima Kötting,<br />
Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH)<br />
Zur Reformierung des deutschen Gesundheitswesens<br />
werden zwei ordnungspolitisch entgegengesetzte<br />
Ansätze diskutiert. Zum einen die stärkere Zentralisierung<br />
und zum anderen die dezentrale Stärkung<br />
von Wettbewerbselementen.<br />
Beide entgegengesetzten Ansätze sind jeweils nur<br />
erfolgversprechend, wenn sie ordnungspolitisch konsequent<br />
umgesetzt werden. Mit der letzten Gesundheitsreform<br />
hat der Gesetzgeber die wettbewerblichen<br />
Elemente gestärkt, parallel jedoch dirigistische<br />
Elemente, die mit dem Wettbewerb nicht kompatibel<br />
sind, beibehalten.<br />
Die Rahmenbedingungen für einen echten Wettbewerb<br />
im GKV-System sind somit z.Z. nicht geben. Das<br />
SGB V schließt in § 69 die Anwendbarkeit des Kartellund<br />
Wettbewerbsrechts auf die gesetzlichen Kran-<br />
daten der Kassen könnten bereits heute sowohl im<br />
ambulanten als auch im stationären Bereich für die<br />
Messung der Ergebnisqualität (zumindest ansatzweise)<br />
genutzt werden.<br />
Es ist Prof. Amelung ausdrücklich zuzustimmen, dass<br />
die Sicherstellung von Innovationen dem konkreten<br />
(Versorgungs-)Bedarf entsprechend gesteuert werden<br />
sollte. Obligate Vorgaben, wie zum Beispiel der<br />
Zwang zur flächendeckenden Hausarztzentrierten<br />
Versorgung, sind mit diesem Anspruch nicht zu vereinbaren,<br />
sondern verhindern innovative Suchprozesse.<br />
Anreize nicht bedarf. Der interessanten fünften und<br />
sechsten These von Herrn Prof. Knappe („Das generelle<br />
Altersverlaufsrisiko sollte man ... z.B. über eine<br />
alterskohorten-spezifische Gesundheitsprämie finanzieren<br />
...“) ist der Gesetzgeber für die LKV tendenziell<br />
bereits 1972 gefolgt, indem er mit den Leistungsaufwendungen<br />
für die sog. Alterteiler den Bund belastet<br />
hat.<br />
kenkassen aus. Das Verhältnis zwischen Krankenkassen<br />
und Leistungserbringern ist durch eine enorme<br />
Marktmacht der Krankenkassen einerseits und einer<br />
Abhängigkeit der Leistungserbringer andererseits gekennzeichnet.<br />
Um hier ein Verhandeln auf Augenhöhe – und somit<br />
einen fairen Wettbewerb – zu gewährleisten, müssen<br />
sich auch Krankenkassen beim Aushandeln von Verträgen<br />
und bei der Vergabe von Aufträgen an den<br />
Vorgaben des Wettbewerbs- und Kartellrechts messen<br />
lassen.<br />
Der Gesetzgeber fordert Wettbewerb im GKV-System,<br />
hat es jedoch versäumt hierzu die entsprechenden<br />
rechtlichen Rahmenbedingungen festzulegen.<br />
Solange dies nicht der Fall ist, wird es keinen fairen<br />
Wettbewerb im Gesundheitssystem geben.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 28<br />
Stephan F. Kraft,<br />
NAV-Wirchow-Bund<br />
Die Referate der Veranstaltung und die Diskussionen<br />
haben gezeigt, wie vielschichtig und komplex das<br />
Thema „Wettbewerb im Gesundheitswesen“ ist, und<br />
dabei verschiedene Ansätze zur Gestaltung des Gesundheitsmarktes<br />
vorgestellt.<br />
Dabei wurde klar, dass insbesondere Transparenz<br />
und der ehrliche Wille zu Reformen – auch gegenüber<br />
den Versicherten – zur Überwindung des gegenwärtigen<br />
Dilemmas im deutschen Gesundheitswesen beitragen<br />
können und müssen. Wettbewerb hat es aus<br />
meiner Sicht im Gesundheitswesen schon immer ge-<br />
Dr. Thomas Kriedel,<br />
Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe<br />
Der Wettbewerb im Gesundheitswesen kann nicht wie<br />
auf einem (idealen) Gütermarkt funktionieren, weil<br />
der Patient<br />
● nicht den Behandlungspreis zahlt (Versicherung)<br />
und<br />
● nicht das „Behandlungsgut“ auswählt, sondern der<br />
Arzt.<br />
Andererseits wird der Gesunde nur auf den Versicherungspreis<br />
achten und damit qualitativ bessere Angebote<br />
im Markt verhindern. Wettbewerb ist damit allenfalls<br />
auf engen Teilmärkten möglich. Dadurch entsteht<br />
die Gefahr einer Suboptimierung. In der GKV beschränkt<br />
sich der Wettbewerbsparameter des Versi-<br />
Harald Kuhne,<br />
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWT)<br />
Wettbewerb im Gesundheitswesen wird im <strong>politische</strong>n<br />
Raum von fast allen Seiten für sinnvoll erachtet. Die<br />
Unterschiede in den Positionen verschiedener Akteure<br />
lassen sich vielfach darauf zurückführen, ob Wettbewerb<br />
als Mittel oder als Ziel betrachtet wird.<br />
Das Gesundheitssystem hat sich in den letzten zehn<br />
Jahren deutlich in Richtung Wettbewerb entwickelt.<br />
● Startschuss war 1996 das Ende des Zuweisungssystems<br />
bei den Krankenkassen verbunden mit<br />
der Freiheit der Versicherten zur Wahl ihrer Krankenkasse.<br />
● Herausragend war ferner die Einführung des Fallpauschalensystems<br />
bei den stationären Leistungen.<br />
Dieser Schritt hat enorme Kräfte freigesetzt.<br />
Die bundesweite konsequente Anwendung des<br />
geben und sollte es auch weiter geben. Eine rein<br />
marktwirtschaftliche Orientierung dieses Wettbewerbes<br />
kann aber aus den besonderen ethischen und<br />
sozialen Anspekten, denen dieser Markt unterliegt,<br />
nicht verantwortet werden.<br />
Daher ist eine Regulierung zwingend erforderlich. Insbesondere<br />
aus ärztlicher Sicht ist jedoch zu betonen,<br />
dass die Instrumente der Regulierung keine der am<br />
Wettbewerb beteiligten Gruppen einseitig benachteiligen<br />
darf. Denn so würde aus einem regulierten Wettbewerb<br />
– Staatsmedizin!<br />
cherten auf die Auswahl einer Krankenkasse mit einer<br />
günstigen Prämie. Die Leistungsfähigkeit spielt kaum<br />
eine Rolle. Warum soll der Gesunde z.B. teure Diabetiker-Programme<br />
mitfinanzieren?<br />
Erst wenn wirkliche Leistungsunterschiede bei den<br />
Krankenkassen mit höherer Eigenverantwortung<br />
sichtbar werden, kann diese Auswahl rational erfolgen.<br />
Damit wird Wettbewerb aber allein zum Leistungs-<br />
und Qualitätswettbewerb bei fixen Preisen.<br />
Der Versicherte/Patient kann sonst rational nur ein<br />
besseres Leistungsangebot bei fixen Prämien oder<br />
bei fixen Leistungen (GKV-Vorgabe) den günstigsten<br />
Preis wählen. Damit bleibt Wettbewerb rudimentär.<br />
Systems (Ende der Konvergenzphase) wird die<br />
Entwicklung in diesem Bereich beschleunigen.<br />
● Das Festhalten an der Investitionsfinanzierung<br />
durch die Bundesländer verhindert eine freie wirtschaftliche<br />
Entwicklung. Aber die duale Finanzierung<br />
im Krankenhausbereich erodiert unaufhaltsam.<br />
● Elemente für mehr Eigenverantwortung der Patienten<br />
wie die Praxisgebühr waren und sind psychologisch<br />
wichtig; ihre Steuerungswirkung verblasst<br />
allerdings.<br />
● Die entsprechende Anwendung des Wettbewerbsund<br />
Kartellrechts im Gesundheitswesen ist noch<br />
stockend. Die Erfahrung aus anderen Wirtschaftsbereichen<br />
sollte genutzt werden.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 29<br />
Fazit: Der Weg vom (staatlich regulierten) Gesundheitswesen<br />
zur Gesundheitswirtschaft mit mehr Eigenverantwortung<br />
erfolgt schrittweise. Die Akteure,<br />
Beteiligten und Betroffenen müssen eine faire Chance<br />
haben, sich auf veränderte Bedingungen einzu-<br />
Friedhelm Ochs,<br />
Barmer Ersatzkasse; LGSt. Rheinland-Pfalz<br />
Es gibt zwei Ebenen des Wettbewerbs: den zwischen<br />
den Kassen um den Versicherten und den zwischen<br />
den Leistungserbringern um den Patienten. Es handelt<br />
sich um die gleiche Zielperson – aber in<br />
unterschiedlichen Situationen.<br />
Der Versicherte entscheidet sich als junger Gesunder<br />
für seine Krankenkasse, der Patient als älterer<br />
Kranker für seinen Arzt. Im ersten Fall wird die Entscheidung<br />
häufig auch vom Preis (= Beitragssatz)<br />
abhängig gemacht, im zweiten Fall von der Versorgungsqualität.<br />
In diesem System kann Krankenkassenwettbewerb<br />
als Qualitätswettbewerb nur in Randbereichen funktionieren.<br />
Wer den teuren Schwerstkranken bessere<br />
Leistungen bieten will als der GKV-Durchschnitt, begeht<br />
tendenziell ökonomischen Selbstmord. Die Beitragssätze<br />
müssen höher liegen.<br />
Damit steigen die Gesunden als Versicherte aus und<br />
die Schwerkranken ein. Zumal ohnehin die Leistungs-<br />
Otto Späth,<br />
Bundesverband deutscher Apotheker e.V. (BVDA)<br />
Wettbewerb im Gesundheitswesen wird in der <strong>politische</strong>n<br />
Diskussion nahezu ausschließlich auf den<br />
Preiswettbewerb reduziert. Man wird den Verdacht<br />
nicht los, dass Leistungs- und Qualitätswettbewerb<br />
eher unerwünscht sind.<br />
Die öffentliche Apotheke ist das Stiefkind dieser Diskussion.<br />
Dort, wo sie von <strong>politische</strong>n Entscheidungen<br />
betroffen ist, geht es letztlich darum, den „unternehmerischen“<br />
Spielraum des Apothekers zu verengen –<br />
wie z.B. durch das Rabattverbot.<br />
Dabei ist die Apotheke als Einrichtung, die die niedrigsten<br />
Zugangsschwellen für den Patienten bietet<br />
und wohnortnah ist, prädestiniert dazu, eine wesentlich<br />
bedeutendere Rolle in der Gesundheitsversorgung<br />
zu spielen. Gerade die älteren Menschen wür-<br />
stellen; der Weg muss von der Detailregulierung zur<br />
verlässlichen Rahmensetzung führen. Der Gesundheitsfonds<br />
ist eine große Chance. Er ermöglicht perspektivisch<br />
in der Finanzierung von der lohnkostenbasierten<br />
Finanzierung auf andere Modelle umzustellen.<br />
palette (sowie die Qualitäten) weitestgehend gesetzlich<br />
vorgegeben sind. Dieses Problem ist unter<br />
den Bedingungen lohnabhängiger Beiträge und der<br />
politisch gewollten Umverteilungseffekte – insbesondere<br />
des Solidarausgleichs zwischen Jung und Alt –<br />
grundsätzlich nicht lösbar.<br />
Der eigentliche Wettbewerb findet hier notgedrungen<br />
als Werbewettbewerb um die guten Risiken statt. Dies<br />
kann nicht das Ziel sein. Die gesetzliche Krankenversicherung<br />
muss für Erkrankte eine möglichst optimale<br />
Versorgung bieten. Um dies zu gewährleisten, ist ein<br />
morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich unverzichtbar.<br />
Nichtsdestoweniger kann ein Wettbewerb der Leistungserbringer<br />
um Versorgungsverträge mit den<br />
Krankenkassen zu mehr Effizienz führen – vorausgesetzt,<br />
dass die Krankenkassen echte Alternativen für<br />
die Auswahl haben.<br />
den hiervon entscheidenden Nutzen ziehen. In einem<br />
funktionsfähigen Wettbewerb würden sich Apotheken<br />
mit den unterschiedlichsten Betriebsstrukturen und<br />
Geschäftsmodellen ausformen – z.B. Discountapotheken,<br />
Kettenapotheken, Individualapotheken.<br />
Das ist notwendige Folge und auch politisch erwünscht,<br />
denn nur so können Effizienzreserven bei<br />
hoher Versorgungsqualität gehoben werden. Es ist<br />
Aufgabe der Politik, die Entwicklungen im Apothekenmarkt<br />
nicht allein unter dem Kostenaspekt zu<br />
sehen oder sie dem Interventionswildwuchs zu überlassen.<br />
Es geht um die Versorgungssicherheit und -qualität –<br />
auch z.B. auf dem Land, wo immer weniger Apotheker<br />
das Wagnis eingehen wollen, sich niederzulassen.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 30<br />
Dr. Thomas Spies,<br />
MdL Hessen<br />
Der Patient ist nie oder fast nie „Kunde“ im Sinne des<br />
gleichstarken Verhandlungspartners der Akteure im<br />
Gesundheitswesen, sondern immer – wegen Krankheit<br />
und Hilfsbedürftigkeit – in einer ungleich schwächeren<br />
Position.<br />
Deshalb hat jede wettbewerbliche Steuerung, sofern<br />
sie direkt oder mittelbar den Patienten betrifft, einen<br />
ergänzenden Kontrollbedarf, mit dem der Patient<br />
durch einen öffentlichen Garanten geschützt wird.<br />
Dr. Frank Thoss,<br />
Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller (VFA)<br />
Das deutsche Gesundheitssystem ist nicht zukunftsfähig.<br />
Die bestehenden Strukturen und Steuerungsinstrumente<br />
sind weder effektiv noch effizient. Nur ein<br />
wettbewerblicher Systemwechsel bietet einen Ausweg.<br />
Mit mutigen Strukturreformen können die positiven<br />
Wirkungen von Markt und Wettbewerb auch im<br />
Gesundheitswesen genutzt werden. Die Leistungsfähigkeit<br />
des Systems wird gesteigert und die Versorgung<br />
orientiert sich zuallererst an den Wünschen und<br />
Bedürfnissen der Versicherten und Patienten.<br />
Der Arzneimittelsektor ist in eine umfassende wettbewerbliche<br />
Neuausrichtung des Gesamtsystems ein-<br />
Dr. Albrecht Winkler,<br />
Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen Rheinland Pfalz<br />
● Risikoselektion ist kein Problem der Zukunft, sondern<br />
der Gegenwart. Mit der Komplettierung des<br />
Finanzkraftausgleichs und der Einführung von<br />
Morbiditätselementen im Risikostrukturausgleich<br />
trägt der Gesundheitsfonds gerade dazu bei, die<br />
Funktionsfähigkeit des Krankenversicherungswettbewerbs<br />
weiter zu verbessern. Der Preis, egal<br />
ob nun Beitragssatz oder Zusatzprämie genannt,<br />
behält seine wichtige Steuerungsfunktion bei, wird<br />
aber auch in Zukunft nicht alleiniger Wettbewerbsparameter<br />
sein.<br />
● Unser solidarisches Krankenversicherungssystem<br />
hat sich – gerade auch bei international vergleichender<br />
Betrachtung – im Grundsatz bewährt,<br />
Wir sind weit davon entfernt, auch nur die erforderlichen<br />
Parameter und Methoden einer solchen, den<br />
gleichstarken und informierten Kunden schaffenden<br />
Prüfung zu kennen, geschweige denn implementiert<br />
zu haben.<br />
Es bleibt fraglich, ob die wettbewerblich gewonnenen<br />
Effizienzvorteile dann die Kosten der Sicherungsparameter<br />
noch übersteigen.<br />
zubeziehen. Zentrale Eingriffe in die Marktpreisbildung,<br />
wie Zwangsrabatt und Festbeträge, sind abzuschaffen<br />
und durch bilaterale Verhandlungen zwischen<br />
den Krankenversicherern und Arzneimittelherstellern<br />
zu ersetzen. Voraussetzung für dezentrale<br />
Abstimmungen ist aber, dass auch zwischen den<br />
Krankenversicherern echter Wettbewerb herrscht und<br />
die Regeln der Wettbewerbskontrolle greifen. Ferner<br />
müssen Versicherte und Patienten die Möglichkeit<br />
haben, sich über alle Gesundheitsthemen kundig zu<br />
machen und sich direkt beim Hersteller über verfügbare<br />
Medikamente zu informieren.<br />
muss aber weiter entwickelt werden. Ein Systemwechsel<br />
etwa zu alterskohortenspezifischen Gesundheitsprämien<br />
ist schon aufgrund der damit<br />
verbundenen gravierenden Doppelbelastungen<br />
Älterer nicht umsetzbar.<br />
● Mit den Reformen der letzten Jahre hat die Politik<br />
sowohl die Rolle der Patientinnen und Patienten<br />
gestärkt als auch den Ärztinnen und Ärzten – zuletzt<br />
mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz<br />
und dem GKV-WSG – neue Perspektiven eröffnet.<br />
Mit der Neuordnung der ambulanten Vergütung<br />
wird dem berechtigten Interesse der Ärztinnen und<br />
Ärzte an einer auskömmlichen, transparenten und<br />
kalkulierbaren Honorierung Rechnung getragen.
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 31<br />
Wettbewerb ist nicht Anarchie<br />
Auch im Gesundheitswesen würde Wettbewerb zu besseren Ergebnissen führen<br />
Von Wulff-Erik von Borcke<br />
In anderen Märkten gilt er als das Erfolgsmodell<br />
schlechthin, im Gesundheitsmarkt dagegen wird<br />
Wettbewerb mit offenem Argwohn verfolgt. Es scheint,<br />
als stünden sich sozialstaatlicher Gestaltungsanspruch<br />
und das Steuerungsprinzip Wettbewerb in<br />
unversöhnlichem Gegensatz gegenüber.<br />
Die Argumente sind bekannt: Einerseits ist Wettbewerb<br />
der Regelmechanismus, der die Ressourcen<br />
höchst effektiv einsetzt und große Innovationsdynamik<br />
entfaltet. Er ist der Suchprozess nach der effizientesten<br />
Leistung. Andererseits ist Gesundheit ein<br />
ethisch unumstößliches „Gut“, das jedem Menschen<br />
zuerkannt und sozial abgesichert ist – ausgestattet<br />
mit all den Interventionsrechten, die sich der Staat<br />
daraus ableitet.<br />
In Deutschland leiden rund 800.000 Menschen<br />
an dieser Krankheit, die man deshalb<br />
auch als eine Volkskrankheit bezeichnen<br />
kann. Heute stehen moderne<br />
Medikamente zur Behandlung zur Verfügung.<br />
Folgende Autorinnen und Autoren sind<br />
mit einem Beitrag vertreten:<br />
Die Schuppenflechte ist eine „lebenslängliche“<br />
Erkrankung, von der rund zwei<br />
Prozent der Menschen betroffen sind.<br />
Eine verbesserte Versorgung durch Früherkennung<br />
und moderne Therapiemethoden<br />
kann erhebliche Folgekosten einsparen.<br />
Folgende Autorinnen und Autoren stellen<br />
ihre Folgen und ihre Behandlungsmöglichkeiten<br />
dar:<br />
Zudem sind da die zahlreichen „Eigenheiten“ dieses<br />
Marktes, wie z.B. die Aufspaltung der Nachfragerseite<br />
zwischen „Verbraucher“ (Patient) „Kaufentscheider“<br />
(Arzt) und „Bezahler“ (Krankenkasse) oder auch die<br />
verschiedenen politisch gewollten Umverteilungsprogramme<br />
(Gesund ➛ Krank, Reich ➛ Arm, Jung ➛ Alt,<br />
Erwerbstätig ➛ Familienmitglied), die die „Nachfrage“<br />
unabhängig von individueller Kaufkraft machen sollen<br />
und die wir gemeinhin als „Solidarität“ bezeichnen.<br />
Und das Kernproblem ist: Wir müssen mit einem<br />
„Verbraucher“ klarkommen, der als Versicherter einen<br />
möglichst geringen Beitrag zahlen will, aber als Patient<br />
die maximal verfügbare Leistung in Anspruch nehmen<br />
möchte.<br />
Sonderausgaben der <strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong>n <strong>Kommentare</strong><br />
– RHEUMATOIDE ARTHRITIS –<br />
Axel Böhnke<br />
Wulff-Erik von Borcke<br />
Dr. rer. nat. Eva Susanne Dietrich<br />
Lutz Freiberg<br />
Prof. Dr. Erika Gromnica-Ihle<br />
Annelie Heilhecker<br />
Andreas Hering<br />
Eike Hovermann (MdB)<br />
– PSORIASIS –<br />
Prof. Dr. med. Matthias Augustin<br />
Dipl.-Kffr. Karin Berger<br />
Axel C. Böhnke<br />
Wulff-Erik von Borcke<br />
Dr. rer. pol. Gerhard Brenner<br />
Prof. Dr. med. Dr. jur. Christian Dierks<br />
Dr. Stefan Etgeton<br />
San.-Rat Dr. med. Günter Gerhardt<br />
Dr. <strong>Leo</strong>nhard Richard Hansen<br />
Eike Hovermann (MdB)<br />
Fortsetzung auf der folgenden Seite<br />
Dr. Gisela Kobelt<br />
Prof. Dr. Klaus Krüger<br />
Gerhard Kruse<br />
Prof. Dr. med. Wilfried Mau<br />
Dr. Thomas Mittendorf<br />
Dipl.-Med. Hans-Werner Pfeifer<br />
Prof. Dr. rer. pol. h.c. Herbert Rebscher<br />
Dr. med. Ina Ueberschär<br />
Prof. Dr. Angela Zink<br />
Dr. Gisela Kobelt<br />
Prof. Dr. Thomas A. Luger<br />
Dr. med. M.P.H. Bernd Metzinger<br />
Dipl.-Med. Hans-Werner Pfeifer<br />
Dr. med. Marc Alexander Radtke<br />
Dr. med. Michael Reusch<br />
Stephan Turk<br />
Dr. med. Ina Ueberschär<br />
Prof. Dr. med. Helmut Vedder<br />
Dr. Marlies Volkmer (MdB)<br />
Die Sondernummern können bezogen werden bei der <strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong> GmbH · Postfach 10 17 · 54614 Schönecken<br />
Telefon (0 65 53) 9 2110 · Telefax (0 65 53) 9 2113 · E-Mail: Schuetze-Eifel@t-online.de
gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 32<br />
Wettbewerb ist nicht Anarchie<br />
Auch im Gesundheitswesen würde Wettbewerb zu besseren Ergebnissen führen<br />
Von Wulff-Erik von Borcke<br />
Fortsetzung von der vorigen Seite<br />
Wo in dieser Gemengelage mit dem Instrument „Wettbewerb“<br />
ansetzen? Wahrscheinlich würde diese Frage<br />
gar nicht auf der Agenda stehen, wenn der Konflikt<br />
zwischen Fiskalpolitik und (Gesundheits-)Marktdynamik<br />
nicht immer brisanter würde. So tritt „Wettbewerb“<br />
zwar als die Zukunftsformel schlechthin auf.<br />
Aber jeder Systemteilnehmer versucht gleichzeitig,<br />
die historisch gewachsene Struktur zu verteidigen.<br />
Der Status quo wird so festgeschrieben.<br />
Nicht jeder Einwand stimmt<br />
Bei genauem Hinsehen allerdings erledigen sich einige<br />
der zentralen Einwände von selbst: So ist der<br />
„ideale Wettbewerb“, in dem Nachfrage- und Angebotsseite<br />
z.B. über die gleiche Marktmacht, den gleichen<br />
Informationsstand, über in gleicher Zeit zu realisierende<br />
Alternativen verfügen, in kaum einem<br />
Marktsegment gegeben. Warum wird er dann im komplexen<br />
Gesundheitsmarkt zur Messlatte gemacht? So<br />
ist das Produkt, das Versicherungen anbieten, nahezu<br />
immer „ökonomische Sicherheit“. Warum machen<br />
wir die Krankenversicherungen immer mehr zu Serviceunternehmen<br />
für die Krankenbehandlung?<br />
So sind dezentrale Entscheidungen und ihr Ringen<br />
um die bessere Lösung die bewährtesten Triebkräfte<br />
für den Fortschritt. Warum meint man, das äußerst<br />
dynamische (und gewünschte) Innovationsgeschehen<br />
im Gesundheitsmarkt ausgerechnet in den Händen<br />
eines Zentralinstituts monopolisieren zu müssen,<br />
das eigens dafür geschaffen wurde, den budgetären<br />
Status quo zu sichern, und das deshalb dem Neuen<br />
mit gebührlicher Abwehrhaltung zu begegnen hat? So<br />
braucht man auch im Gesundheitsmarkt den kompetenten<br />
„Kunden“. Warum werden nicht die Positionen<br />
der Versicherten und Patienten wirklich gestärkt – und<br />
damit auch die Rollen von Ärzten und Krankenkassen<br />
besser justiert.<br />
Damit verlöre der Sozialstaat keineswegs seine Ansprüche.<br />
Diese können durchaus auch in einem wettbewerblich<br />
geprägten System zur Geltung kommen:<br />
z. B. durch generelle Versicherungspflicht, soziale<br />
Umverteilung über das Steuerbudget, staatlich geför-<br />
derte Sicherstellung usw. Sicherlich müssten auch<br />
Verantwortlichkeiten neu verteilt werden, müssten<br />
Leistungs- und Qualitätstransparenz geschaffen und<br />
institutionalisiert werden, müssten Kosten/Nutzen-<br />
Vergleiche ermöglicht werden.<br />
Wettbewerb braucht Alternativen auf Anbieter- und<br />
Nachfragerseite, braucht Freiheiten bei der Kaufentscheidung<br />
sowie bei der Produkt- und Preisgestaltung,<br />
braucht Transparenz und Kompetenz. Für den<br />
forschenden Arzneimittelhersteller ist der Wettbewerb<br />
um die bessere Innovation und mit dem preiswerten<br />
Generikum harter Alltag.<br />
Er hat auch nichts gegen einen Vertragswettbewerb<br />
gegenüber den Kassen – soweit diese keine Marktbeherrschung<br />
ausspielen können. Damit werden auch in<br />
den Unternehmen Überlegungen angestoßen, ihre<br />
Rolle im Gesundheitsmarkt zu überprüfen.<br />
Neues Selbstverständnis auch für Pharma<br />
Wenn z.B. Abbott sich dem Leitspruch „turning science<br />
into care“ verpflichtet, dann zeigt das die Abkehr<br />
vom klassischen Selbstverständnis der Pharma als<br />
bloßer Lieferant des (formulierten) Wirkstoffes hin zu<br />
einem Selbstverständnis des Unternehmens, das seine<br />
Leistung vom Forschungslabor bis in die besondere<br />
Bedürfniswelt des Patienten hinein definiert.<br />
Auch Abbott muss sich mit seiner Produktpalette aus<br />
Arzneimitteln, Diagnostika und medizinischer Nahrung<br />
permanent dem Wettbewerb stellen. Das ist richtig<br />
so, weil es erwiesenermaßen die besten Ergebnisse<br />
für den Patienten bringt.<br />
Umso unverständlicher ist, dass wir immer noch nicht<br />
bereit sind, auch andere Leistungsbereiche, Regeln<br />
und Prozesse konsequent auf den Prüfstand der<br />
Wettbewerbstauglichkeit zu stellen. Das ist auch der<br />
Grund, weshalb Abbott als traditionell eher zurückhaltendes<br />
Unternehmen, sich aktiv an der Diskussion zu<br />
diesem Thema beteiligt.<br />
Denn generell gilt: Wirklicher Wettbewerb ist nicht<br />
anarchisch, sondern dynamisch und er schafft das<br />
Bessere.<br />
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