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Gesellschafts- politische Kommentare - Leo Schütze Gmbh

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gpk SONDERAUSGABE<br />

gpk<br />

G 13550<br />

GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 1<br />

Sonderausgabe<br />

zum<br />

Abbott-Forum<br />

2007<br />

<strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong><br />

<strong>Kommentare</strong><br />

Berlin/Bonn, März 2008<br />

49. Jahrgang, Sonderausgabe Nr. 2<br />

Einzelpreis: EUR 4,00 März 2008<br />

Das umstrittene Prinzip –<br />

Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />

Editorial<br />

Hans-Joachim Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />

Grußwort<br />

Silke Lautenschläger, Hessische Sozialministerin . . . . . . . . . . . . 3<br />

Zugriff oder Übergriff<br />

Aufgaben des Staates im Gesundheitswesen<br />

Herbert Rebscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4<br />

Integrierte Versorgung<br />

Populationsorientiert ist sie ein wettbewerbliches Zukunftsmodell<br />

Volker Amelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />

Solidarisch oder risikoorientiert?<br />

Ohne Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen<br />

stimmt das Anreizsystem nicht<br />

Eckhard Knappe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

Der mündige Patient<br />

Eine deutliche Mehrheit will an Entscheidungen zu Diagnostik<br />

und Therapie beteiligt sein<br />

Marie-Luise Dierks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />

Grenzen der Ökonomisierung<br />

Schleichende Rationierung im GKV-System muss offen und<br />

ehrlich thematisiert werden<br />

Ekkehard Ruebsam-Simon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />

Positionen von Teilnehmern des Abbott-Forums 2007 . . . 27<br />

Wettbewerb ist nicht Anarchie<br />

Auch im Gesundheitswesen würde Wettbewerb zu besseren<br />

Ergebnissen führen<br />

Wulff-Erik von Borcke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

Autoren dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 2<br />

Editorial<br />

Neues tut sich schwer in einem Gesundheitssystem,<br />

das in seinen Grundzügen vor 130 Jahren<br />

begründet wurde – und damit auch 130 Jahre Zeit<br />

hatte, sich zu verfestigen. Doch es geht um einiges:<br />

um die Leistungsfähigkeit einer tragenden Säule<br />

unseres sozialen Sicherungssystems und um die<br />

Entfaltung eines Zukunftsmarktes, in dem schon<br />

jetzt in Deutschland 4 Millionen Menschen beschäftigt<br />

sind, in dem 250 Milliarden Euro umgesetzt<br />

werden und den die Ökonomen zur „Wirtschaftslokomotive“<br />

oder zur „Zukunftsbranche Nr. 1“ erklärt<br />

haben.<br />

Bisher ist man den stets neu sprießenden Unzulänglichkeiten<br />

des Systems in <strong>politische</strong>m Gleichmut<br />

mit immer neuen gesetzlichen Interventionen<br />

begegnet. Letztlich mit dem „GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz“,<br />

dessen Namen leider nicht Programm<br />

ist. Es ermöglicht zwar sowohl kollektive als<br />

auch individuelle Verträge zwischen den am Gesundheitsmarkt<br />

Beteiligten und wird mittelfristig<br />

auch deutlich wahrnehmbare Veränderungen im<br />

deutschen Gesundheitswesen hervorbringen. Wir<br />

sehen aber auch neue zentralistische Elemente<br />

und denken dabei an die Machtkonzentration beim<br />

Gemeinsamen Bundesausschuss, beim Institut für<br />

Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen<br />

und auch beim neuen Spitzenverband Bund.<br />

Letztlich orientiert sich das Reformgeschehen immer<br />

noch an den Tagesopportunitäten: Kassenlage,<br />

Widerstandskraft der Betroffenen, Medienecho.<br />

Historisch gewachsene Widersprüche bleiben<br />

ungeklärt, neue werden hinzureformiert. Ergebnis:<br />

jedermann stöhnt über die Überregulierung<br />

des Systems.<br />

Aber diese Methode hat sich erschöpft. Das System<br />

selbst steht inzwischen auf dem Prüfstand.<br />

Mehr „Wettbewerb“ gilt zwar generell als ausgemacht<br />

in den gesundheits<strong>politische</strong>n Salons, aber<br />

das Misstrauen ist unüberhörbar und eine ordnungs<strong>politische</strong><br />

Richtung ist nicht erkennbar. Der<br />

Geist des „Wettbewerbs“ ist im System noch nicht<br />

angekommen – kann er auch nicht, denn Wettbe-<br />

werb hat auch etwas mit gewinnen und verlieren zu<br />

tun und diesem Risiko möchte man sich generell<br />

nur ungern aussetzen. Das Nachsehen hat der<br />

Patient, der, umarmt von Überfürsorge, das Mündel<br />

bleibt, in dessen Namen andere die Beschlüsse<br />

fassen.<br />

Auch die Fachdiskussion bleibt vielfach an der<br />

Oberfläche. Grund für das Abbott-Forum, das Thema<br />

„Wettbewerb im Gesundheitswesen“ auf seine<br />

Agenda 2007 zu heben. Damit will das Abbott-<br />

Forum einen Beitrag leisten, die Reformdiskussion<br />

zu entwirren und Grundsteine für ihre Fortentwicklung<br />

zu legen. Es zerlegt das Thema „Wettbewerb<br />

im Gesundheitswesen“ in seine tragenden Elemente:<br />

Generelle Leistungsfähigkeit des Wettbewerbs,<br />

Standardisierbarkeit des Produkts „Gesundheitsleistung“,<br />

Rolle des Arztes, der Krankenkassen<br />

und des Patienten im Wettbewerbsprozess.<br />

Zu diesen Themenfeldern haben auf dem Abbott-<br />

Forum vom 25. September 2007 Sachverständige<br />

mit Sachverständigen diskutiert – über Strukturprobleme<br />

und Lösungsbeispiele. Sie haben ihre Konzepte<br />

vorgetragen, sie auf den Prüfstand gestellt<br />

und sicherlich auch neue Sichtweisen eröffnet. Um<br />

die Diskussion lebendig zu halten und in dem einen<br />

oder anderen Fall zu vertiefen, wurden die Teilnehmer<br />

gebeten, im Nachgang ihre Kernforderungen<br />

zum „Wettbewerb im Gesundheitswesen“ zu formulieren.<br />

Auf den folgenden Seiten finden Sie nun sowohl die<br />

Referate als auch die Kernforderungen der Teilnehmer.<br />

In Abstimmung mit den Referenten haben wir<br />

uns erlaubt, den Sprechtext der Bandaufzeichnung<br />

zum Lesetext aufzubereiten, und hoffen damit, die<br />

Lebhaftigkeit des gesprochenen mit der Nachvollziehbarkeit<br />

des geschriebenen Wortes zu verknüpfen.<br />

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.<br />

Hans-Joachim Fischer


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 3<br />

Grußwort<br />

von Silke Lautenschläger, Hessische Sozialministerin<br />

Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der<br />

gesetzlichen Krankenversicherung haben Bundestag<br />

und Bundesrat unverrückbar die Weichen zu mehr<br />

Wettbewerb im Gesundheitswesen gestellt. Dieses<br />

Mehr an Wettbewerb betrifft das Vertragsarztrecht,<br />

betrifft die Kassen mit der Einführung von Wahltarifen,<br />

betrifft den Hilfsmittelbereich und auch weitere Regelungen.<br />

Das Land Hessen hätte sich ein noch konsequenteres<br />

Vorgehen der Bundesregierung gewünscht,<br />

aber diese Weichenstellungen sind durchaus<br />

positiv zu bewerten.<br />

Die Einführung von Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />

ist ein fortlaufender Prozess, in dem immer wieder<br />

nachgesteuert werden muss. Wir brauchen Wettbewerb<br />

auf allen Ebenen und deswegen auch informierte<br />

und selbstbewusste Patienten, die zwischen verschiedenen<br />

Angeboten wählen und Mitverantwortung<br />

in der Behandlung übernehmen können. Wir brauchen<br />

motivierte Ärzte und leistungsfähige Krankenhäuser,<br />

die den Wettstreit um die beste Versorgungsleistung<br />

nicht scheuen.<br />

Wir brauchen Arzneimittelhersteller, die nach besseren<br />

Therapien forschen, weil sie wissen, dass sich die<br />

Innovationen auch für sie rechnen. Oder die sich<br />

bemühen, altbewährte Präparate besonders günstig<br />

anzubieten, weil sie auch davon profitieren. Wir brauchen<br />

leistungsfähige Krankenkassen, die professionell,<br />

flexibel und serviceorientiert arbeiten und die in<br />

der Lage sind, ihren Versicherten gute Versorgungsqualität<br />

zu günstigen Preisen anzubieten.<br />

Basis für Wettbewerb ist gelegt<br />

Ein wichtiger Schlüssel für mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit<br />

der gesundheitlichen Versorgung liegt<br />

auch in einer besseren Zusammenarbeit zwischen<br />

Krankenhäusern und Arztpraxen. Allerdings können<br />

integrierte Versorgungsverträge ihr qualitatives und<br />

ökonomisches Potenzial erst dann wirklich entfalten,<br />

wenn sie möglichst flächendeckend und für die Behandlung<br />

der großen Volkskrankheiten zur Verfügung<br />

stehen. Künftig können Krankenkassen allein oder im<br />

Verbund im erweiterten Umfang mit Ärzten besondere<br />

Vereinbarungen treffen, die von der kollektivvertraglichen<br />

Versorgung abweichen oder darüber hinausgehen.<br />

Ärzte ihrerseits können einzeln oder als Gruppe<br />

Vertragspartner sein. Auch wenn hier nicht kurzfristig<br />

eine Vielzahl neuer Verträge zustande kommt, so ist<br />

das doch die Basis für einen echten Wettbewerb um<br />

qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgungsangebote.<br />

Zusammen mit dem seit dem 1. Januar 2007 geltenden<br />

Vertragsarztrechtsänderungsgesetz bieten sich<br />

nun völlig neue Betätigungsmöglichkeiten sowohl für<br />

niedergelassene Ärzte als auch für Krankenhausärz-<br />

te. Durch die Flexibilisierung des Zulassungsrechtes<br />

wird nicht nur eine bessere Vereinbarkeit von Familie<br />

und Beruf erreicht, sondern auch die Verknüpfung<br />

zwischen ambulanter und stationärer Versorgung<br />

verbessert. Zusätzlich ergänzt um die Reform der<br />

vertragsärztlichen Gebührenordnung, die Leistungen<br />

nicht mehr nach Punkten, sondern in Euro bewertet<br />

und damit die ambulante Vertragstätigkeit wieder besser<br />

kalkulierbar macht, entsteht hier ein in sich geschlossenes<br />

Reformpaket, das die ärztliche Tätigkeit<br />

stark verändern kann, wenn die neuen Möglichkeiten<br />

von der Ärzteschaft und den Krankenkassen auch<br />

offensiv genutzt werden.<br />

Wettbewerb bedeutet aber auch, dass die Krankenkassen<br />

ihre Angebots- und Tarifgestaltung stärker an<br />

den unterschiedlichen Bedürfnissen der Versicherten<br />

orientieren. Das vorliegende Gesetz eröffnet den<br />

Krankenkassen deutlich erweiterte Vertragsmöglichkeiten<br />

für besondere Versorgungsangebote und eine<br />

weitgehende Gestaltungsfreiheit bei den Tarifen.<br />

Gesundheitsfonds nicht unterschätzen<br />

Der Gesundheitsfonds bewirkt die Trennung von einkommensbezogenen<br />

Beitragseinnahmen und risikoorientierten<br />

Einnahmen der Krankenkassen. Diese<br />

strukturelle Änderung darf nicht unterschätzt werden.<br />

Der Fonds weist den Krankenkassen pro Versicherten<br />

eine einheitliche um Risikokomponenten angepasste<br />

Pauschale zu. Dies ist ein wichtiger und richtiger<br />

Schritt hin zur Entkopplung der Gesundheitsausgaben<br />

von den Lohnkosten. Aber auch ein wichtiger<br />

Schritt hin zu mehr Wettbewerb um eine bessere<br />

Versorgung anstelle des heutigen Wettbewerbs um<br />

die besten Versicherungsrisiken.<br />

Im Gesetzgebungsverfahren hat Hessen zusammen<br />

mit anderen Ländern über den Bundesrat eine Reihe<br />

von Verbesserungen in der Arzneimittelversorgung<br />

durchsetzen können. Wesentliches Anliegen<br />

hierbei war es, den Zugang der Patienten zu wirksamen<br />

Therapien sicherzustellen. Zum anderen soll<br />

Deutschland als ein Standort für die forschende Industrie<br />

attraktiv bleiben. Denn diese leistet einen<br />

wichtigen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit und zur<br />

Beschäftigung.<br />

Die Gesundheitsreform ist sicherlich keine Jahrhundertreform.<br />

Wenn auch Hessen sich eine noch stärkere<br />

Wettbewerbsorientierung im Gesundheitswesen,<br />

allerdings immer begleitet von Regelungen für einen<br />

fairen Wettbewerb, sehr gut vorstellen kann, so ist<br />

doch mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz zumindest<br />

ein nicht mehr rückgängig zu machender<br />

Wettbewerbsrahmen geschaffen worden. Ich wünsche<br />

Ihnen eine gute Tagung.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 4<br />

Zugriff oder Übergriff<br />

Aufgaben des Staates im Gesundheitswesen<br />

Von Herbert Rebscher<br />

Die Diskussion um Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />

reicht bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts<br />

zurück. Es ist eine Diskussion, die weitgehend<br />

von Parolen lebt und nicht vom konkretisierten Sachargument.<br />

Um ihren Reformmaßnahmen eine höhere Weihe zu<br />

geben, hat insbesondere die Politik den Begriff des<br />

„Wettbewerbs“ politisch und ökonomisch dermaßen<br />

verunstaltet, dass die gesetzlichen Krankenkassen<br />

(GKV) jetzt tatsächlich eher gehindert sind, sinnvolle<br />

Wettbewerbsstrategien zu entwerfen.<br />

Mit dem inhaltlichen bzw. mit dem instrumentellen<br />

Charakter des Wettbewerbskonzepts und des Gesundheitsmarktes<br />

hat das nichts mehr zu tun.<br />

Die Kernfrage ist: Welche Rolle soll Wettbewerb in<br />

diesem System haben und was soll er instrumentell<br />

leisten können? Wo brauchen wir vielleicht auch nur<br />

verlässlichere Planungsprozesse oder einklagbare<br />

Rechte für Betroffene?<br />

Unterschiedliche Inanspruchnahme von<br />

Leistungen<br />

Zunächst ein gesundheitsökonomisches Grundfaktum:<br />

Eine schon alte, aber weiterhin gültige Faustformel<br />

besagt, dass rund 20 Prozent der Menschen<br />

80 Prozent der Leistungen benötigen. In meiner<br />

Kasse, der Deutschen Angestellten-Krankenkasse<br />

(DAK), ist dieses Verhältnis sogar noch verschärft: Da<br />

brauchen 15 Prozent der Menschen ungefähr 85 Prozent<br />

aller Leistungen.<br />

Mit diesem Grundfaktum müssen wir lernen umzugehen.<br />

Im Umkehrschluss heißt das nämlich, dass wir<br />

eine große Versichertenklientel haben, die gar keine<br />

oder kaum Leistungen in diesem System in Anspruch<br />

nimmt. Und wenn man nachforscht, wo dann überhaupt<br />

die relevanten Leistungsausgaben anfallen,<br />

dann erhält man als Ergebnis: erstens nur bei 15 bis<br />

20 Prozent der Menschen und zudem im Jahr kurz vor<br />

dem Tod. Um es zu betonen: Ausschlaggebend ist<br />

nicht das hohe Alter, sondern ausschlaggebend sind<br />

die Monate kurz vor dem Tod.<br />

Was heißt das für unseren Wettbewerbsbegriff? Zunächst<br />

existiert eine Marktspaltung in preisreagible<br />

Nichtleistungsempfänger und in leistungsreagible<br />

Versorgungsempfänger kurz vor und mitten in existenziellen<br />

Lebenskrisen. Damit müssen wir umgehen<br />

lernen und unsere Instrumente entsprechend<br />

justieren.<br />

Der soziale Charakter der<br />

Gesetzlichen Krankenversicherung<br />

steht auf dem Spiel<br />

■ Zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen<br />

Krankenversicherung wird ein Leistungsverweigerungs-Wettbewerb<br />

belohnt.<br />

■ Ein Qualitätswettbewerb wird ökonomisch<br />

diskriminiert.<br />

■ „Wirtschaftliche Kassen brauchen keine<br />

Prämie, unwirtschaftliche Kassen brauchen<br />

eine Prämie“ – so die gefährlich falsche <strong>politische</strong><br />

Botschaft. Das Gegenteil ist richtig!<br />

■ Zusatzprämie als alleiniger Wettbewerbsparameter<br />

– gegen jede gesundheitsökonomische<br />

Logik.<br />

Fataler Kurzschluss<br />

In diesem Punkt ist dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz<br />

(GKV-WSG) ein fataler Kurzschluss unterlaufen.<br />

Dieses Gesetz setzt nämlich durchgängig auf<br />

Preisreagibilität und vernachlässigt damit in eklatanter<br />

Weise die notwendige Orientierung an Leistungsinhalten.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 5<br />

Das lässt sich sehr gut an dem – sicherlich ähnlich<br />

dem Wettbewerbsbegriff – sehr strapazierten Effizienzbegriff<br />

darstellen: Effizienz heißt nichts anderes,<br />

als eine definierte Leistung (und Qualität) möglichst<br />

wirtschaftlich, also zu möglichst geringen Kosten, zu<br />

erbringen.<br />

Effizienz kann im Gesundheitssystem nicht heißen,<br />

diese Leistung schlicht zu exekutieren, in dem man<br />

sich als Versicherer subtile Risikoselektionsstrategien<br />

ausdenkt oder indem man als Leistungserbringer in<br />

„lohnende“ Leistungskomplexe, aber nicht in die versorgungsintensiven,<br />

die chronischen oder sonstigen<br />

aufwändigen Behandlungsprozesse investiert.<br />

Wer sinnvollerweise von Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />

sprechen will, muss hier ansetzen, in dem Teil<br />

des Marktes, in dem vier Fünftel der Finanzmittel<br />

ausgegeben werden und der nahezu keine Nachfrageelastizität<br />

hat. Oder wir einigen uns darauf, dass wir<br />

über Wettbewerb nur in Randmärkten sprechen.<br />

Wir müssen also die Versorgung im Hochleistungsfall<br />

als das eigentliche ökonomische Problem begreifen<br />

und dann sehr genau untersuchen, ob unsere ökonomischen<br />

Instrumente und unsere Anreizstruktur mit<br />

den gesellschaftlich und politisch gewollten Zielen für<br />

diesen Bereich übereinstimmen.<br />

Qualitätsorientierte Vertragsstruktur wird<br />

verhindert<br />

Das GKV-WSG wird diesem ökonomischen Diktat in<br />

keiner Weise gerecht. Der Staatsfonds hat nichts mit<br />

„Zuteilungsgerechtigkeit“ zu tun. Diese könnte auch<br />

der Risikostrukturausgleich (RSA) herstellen, wenn<br />

man ihn denn technisch so ausstattet, wie man ihn<br />

jetzt ausstatten möchte. Aber die Suggestion des Einheitspreises<br />

via Staatsfonds hat eine ganz problematische<br />

Anreizwirkung. Er suggeriert der Bevölkerung,<br />

der Preis für die gesetzliche Krankenversicherung in<br />

Deutschland sei gleich, und er suggeriert ebenso,<br />

dass auch die Leistung gleich sei.<br />

Beides ist aber ein Irrtum und sicherlich alles andere<br />

als ein Anreiz für Wettbewerbsorientierung. Unterstrichen<br />

wird dieser Irrtum auch von der offiziellen<br />

Begründung dieses Gesetzes.<br />

Denn hierin wird behauptet, dass eine Krankenkasse,<br />

die mit der Zuweisung aus dem Staatsfonds ökonomisch<br />

nicht klarkommt und deshalb 10 oder 15 Euro<br />

als Zusatzprämie erheben muss, unwirtschaftlich sei,<br />

und eine Kasse, die mit dieser Zuweisung so gut<br />

klarkommt, dass sie noch 10, 15 oder 20 Euro zurücküberweisen<br />

kann, wirtschaftlich sei.<br />

Das aber ist der Startschuss für Risikoselektion und<br />

nicht für eine qualitätsorientierte Vertragsstruktur. Das<br />

Gegenteil wäre richtig: Die qualitätsorientierten Vertragsstrukturen<br />

müssen zentrale Steuerungseinheit<br />

werden und dürfen nicht auch noch zum Katalysator<br />

für Risikoselektion werden. Dafür aber sorgt exakt<br />

dieses Gesetz.<br />

Tiefschlag für Leistungs- und<br />

Qualitätswettbewerb<br />

Im Kern ist dieses Gesetz ein Tiefschlag für jeden<br />

leistungs- und qualitätsorientierten Wettbewerbsansatz,<br />

weil es suggeriert, dass geringe Ausgaben einer<br />

Krankenkasse pro Versichertem per se für eine wirtschaftliche<br />

Leistungserbringung sprechen.<br />

Hierzu ein Beispiel: Ein junges Ehepaar um die 30<br />

bekommt sein zweites Kind und lebt in einer Mietwohnung<br />

für 500 Euro. Und jetzt müssen wir begründen,<br />

dass die eine Krankenkasse 20 Euro Zusatzprämie<br />

verlangt und die andere Kasse 20 Euro zurückzahlt.<br />

Mit welchem Argument wollen wir das tun? Wir erreichen<br />

diese Familie in einer hoch preisreagiblen Situation,<br />

die Konsumquote dieser jungen Familie wird<br />

annähernd 100 Prozent sein, das heißt, 20 Euro netto<br />

im Monat sind für sie ein beachtlicher Betrag.<br />

Die Begründung für die unterschiedlichen Preisdeltas<br />

zwischen Krankenkassen bildet in der Lebenssituation<br />

dieser Familie keinerlei Nutzen ab. Das lässt sich<br />

auch nicht durch kompetente Beratung oder etwa mit<br />

Hinweis auf einen guten Vertrag in der geriatrischen<br />

Rehabilitation auffangen.<br />

Die Mitgliedschaft in dieser Krankenkasse wird jedenfalls<br />

nur preisreagibel entschieden und damit das<br />

Problem der Risikoentmischung verschärfen.<br />

Unökonomischer Ansatz<br />

Weitere These: Alle darauf aufbauenden Instrumentarien<br />

der Honorierung, und ich nehme mal das Beispiel<br />

DRG als möglichst leistungsorientiertes Vergütungsmodell,<br />

das wir auch für den ambulanten Bereich<br />

entwickeln wollen, setzen auf ein Wettbewerbsmodell<br />

des selektiven Kontrahierens.<br />

Das ist als solches ja sogar erwünscht. Hier aber ist<br />

die Selektion mit der Botschaft verbunden: Kontrahiert<br />

mit den billigsten Anbietern, dann vermeidet man eine<br />

Zusatzprämie.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 6<br />

Das ist ein völlig unökonomischer Ansatz. Der Versicherer<br />

muss mit dem Effizientesten kontrahieren.<br />

Dafür müssen wir für den Kontrakt ein Preis/Leistungs-Verständnis<br />

entwickeln.<br />

Denn es geht ja nicht um den unmittelbar erfahrbaren<br />

Nutzen und ein kurzfristig sinnvolles Preiskalkül, sondern<br />

um den mittel- und langfristigen Nutzen bei der<br />

Verhinderung oder Verringerung von Gesundheitsschäden.<br />

Das DRG-Modell bildet aber in seinem Ranking nichts<br />

von Qualität ab, sondern nur den Preisstatus. Wir<br />

brauchen also dazu zwingend so etwas wie parallele<br />

Qualitätsrankings, um überhaupt das Wort „Effizienz“<br />

in den Mund nehmen zu dürfen.<br />

Selektives Kontrahieren<br />

Die Krux dabei aber ist: Qualitätsrankings diskriminieren<br />

die Qualität. Denn dadurch wird das Bemühen<br />

wachgerufen, möglichst die Benchmark zu erreichen<br />

oder gar selbst zu definieren. Und hierfür werden<br />

dann komplexe Krankheitsfälle eher verdrängt und<br />

leichtere Fälle angezogen.<br />

Für ein selektives Kontrahieren fehlt dem heutigen<br />

Gesundheitssystem so ziemlich jede methodische<br />

Grundlage – erst recht, wenn wir dieses selektive<br />

Kontrahieren ernsthaft und verantwortbar zum Gegenstand<br />

von Vertragsmustern machen wollen. Dafür<br />

bräuchten wir verlässliche, messbare und verbindliche<br />

Qualitätsindikatoren – davon sind wir weit entfernt.<br />

Ähnlich ist es auf Kassenseite. Das Preisdelta bildet<br />

nur die zufällige aus der Vergangenheit gewonnene<br />

Morbidität ab, nicht die Frage der Wirtschaftlichkeit.<br />

Und auch hier ist verhängnisvoll, was sozialpolitisch<br />

und gesundheitspolitisch von uns erwartet wird, nämlich<br />

Beratung vor Ort zu organisieren. Beratung vor<br />

Ort korreliert mit der Attraktivität für leistungsintensive<br />

Fälle, für chronisch Kranke, für Behinderte und viele<br />

andere akute Leistungsfälle und passt nicht in ein von<br />

der Politik geplantes „Preissteuerungsmodell“.<br />

Ernsthafter Rückschritt<br />

Ich halte das beschlossene GKV-WSG für einen wirklich<br />

ernsthaften Rückschritt in der gesundheitsökonomischen<br />

Debatte der letzten 20 Jahre. Es wurden<br />

zentral falsche ökonomische Anreize als Systemelemente<br />

eingeführt, deren Dramatik man in Kürze gar<br />

nicht skizzieren kann. Wenn man dann noch die Bedingungen<br />

der Finanzierungsmechanik, Gesundheitsfonds,<br />

Zusatzprämie und 1-Prozent-Zuzahlungs-<br />

Logik für sozial Schwache einbezieht, dann wird es<br />

noch verrückter.<br />

Kein lebender Deutscher dürfte begründen können,<br />

was man da gesetzlich formuliert hat. Entsprechend<br />

ist es deshalb kein Wunder, dass sich der gesamte<br />

deutsche Sachverstand bei Ärzteschaft, Krankenhäusern,<br />

Krankenkassen und Wissenschaft einhellig, wie<br />

ich es nie geglaubt hätte, gegen die Grundstruktur<br />

dieses Gesetzes gewandt hat.<br />

Sicherlich brauchen wir uns hier nicht um eine intellektuelle<br />

Durchdringung von Wahltarifen in einem solidarischen<br />

Modell zu bemühen. Das ist im Grunde<br />

ordnungs<strong>politische</strong>r Unsinn.<br />

Das ist eine Anleihe an risikoäquivalente Modelle der<br />

privaten Krankenversicherung, die in einem solidarisch<br />

finanzierten Modell nur dazu führen, dass das<br />

individuelle Kalkül auf Finanzentzug jetzt legalerweise<br />

Platz greift. Das heißt, wir ziehen eine Menge Geld<br />

aus der Versorgung ab.<br />

Größere Staatsnähe und Staatsabhängigkeit<br />

Zurück zum Wettbewerbsbegriff: Das Wort Wettbewerb<br />

wird in dieses Gesetz ordnungspolitisch ziemlich<br />

wild eingestreut. Da wollte man wohl Regulierungsmacht<br />

demonstrieren und hat damit auch noch<br />

das, womit wettbewerbliche Interessen wenigstens<br />

ansatzweise verbunden waren, nämlich die frei gewählten<br />

Organisationsstrukturen in handlungsfähigen<br />

Größenordnungen, die Kassenärzte und andere Verbände,<br />

als Gestaltungsebene quasi auch noch eliminiert.<br />

Man hat einen staatlichen Spitzenverband geschaffen,<br />

der 80 Prozent der Leistungsausgaben regulieren<br />

wird. Das hat mit Wettbewerb überhaupt nichts mehr<br />

zu tun. Spielräume, die wir für einen Wettbewerb<br />

nutzen könnten, werden so immer mehr auf Randbereiche<br />

der Gesundheitsversorgung und der individuellen<br />

Nutzenabwägung reduziert.<br />

Jedenfalls wird die Einrichtung „Spitzenverband<br />

Bund“ – wir erwarten eine enge Führung des jeweils<br />

zuständigen Ministeriums – nicht in irgendeiner Form<br />

von irgendeiner Krankenkasse als ihre Interessenvertretung<br />

im <strong>politische</strong>n Raum anerkannt werden. Das<br />

sage ich in aller Deutlichkeit.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 7<br />

Mehr Staat –<br />

ein ordnungs<strong>politische</strong>r Rückschritt<br />

■ Durch SpiBu-Errichtung entfällt Steuerungsmöglichkeit.<br />

Kassen bei 70 Prozent ihrer<br />

Ausgaben keine Steuerungsmöglichkeiten.<br />

■ Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen<br />

und Leistungserbringern nicht weiter<br />

wettbewerblich geöffnet.<br />

■ Die einheitlich-staatliche Festsetzung der<br />

Beiträge eliminiert den Wettbewerbsparameter<br />

„unterschiedlicher Beitragssatz“.<br />

■ Fazit: Die Prämie wäre einziger Wettbewerbsparameter.<br />

Der Wettbewerb würde<br />

sich dann nur noch auf gesunde Versicherte<br />

konzentrieren.<br />

Der Spitzenverband Bund ist ein Stück mehr Staat,<br />

er bedeutet größere Staatsnähe und Staatsabhängigkeit<br />

– und blockiert gerade dann, wenn man<br />

das Instrument Wettbewerb nicht als Prinzip, sondern<br />

ganz pragmatisch, ganz zielführend und ge-<br />

Kernthesen von Prof. Dr. Herbert Rebscher<br />

■ Da gerade mal 20 Prozent der Patienten<br />

80 Prozent der Leistung abrufen, ist der Gesundheitsmarkt<br />

in zwei völlig unterschiedliche<br />

Marktsegmente gespalten: den der preisreagiblen<br />

Gesunden und den der leistungsreagiblen<br />

Kranken.<br />

■ Ein funktionierender Wettbewerb muss somit<br />

in diesem total nachfrage-unelastischen<br />

Marktsegment der Hochleistungsmedizin ansetzen<br />

– andernfalls bleibt er ein Randwettbewerb.<br />

■ Das GKV-WSG hat eine falsche Steuerungswirkung:<br />

Es setzt den Wettbewerb bei der<br />

Zusatzprämie an, somit allein beim Preis. Das<br />

sundheitsökonomisch verantwortlich in das System<br />

einbauen will.<br />

Diametraler Gegensatz zum Versorgungsauftrag<br />

Und letztlich: Die einheitliche Festsetzung des Beitragssatzes<br />

auf einem Niveau von mittelfristig 95 Prozent<br />

der Leistungsausgaben wird dem System massiv<br />

Geld entziehen – strukturell und dauerhaft.<br />

Und die Auswirkungen dann dem fragwürdigen Anreizmechanismus<br />

der Zusatzprämie in die Hand zu<br />

geben und damit zu versuchen, qua Risikoselektion<br />

irgendwelche vermuteten Wirtschaftlichkeitsreserven<br />

zu heben, ist volkswirtschaftlich völlig unproduktiv.<br />

Das läuft unserem Versorgungsauftrag diametral entgegen.<br />

Ich betone noch einmal: Das GKV-WSG halte<br />

ich für das gesundheitsökonomisch schlechteste Gesetz<br />

der letzten 20 Jahre in dieser Republik.<br />

Zumal die echten Wahl- und Freiheitsrechte aller Beteiligten<br />

eigentlich mit dem Gesetz zur Modernisierung<br />

des Gesundheitswesens im Jahre 2004 gekommen<br />

sind und nicht mit dem WSG des Jahres 2007.<br />

Uns bleibt die Aufgabe, zu diskutieren und dann aber<br />

auch zu definieren, welche Leistungen unter welchen<br />

Organisationsbedingungen erbracht werden sollen.<br />

© gpk<br />

ist der Startschuss für eine verschärfte Risikoselektion.<br />

Diese steht dem Versorgungsauftrag<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung diametral<br />

entgegen.<br />

■ Der Staatsfonds suggeriert den Einheitspreis<br />

und damit auch die Einheitsleistung –<br />

beides sind alles andere als Wettbewerb. Er<br />

eliminiert zudem den letzten Rest Beitragssatzwettbewerb.<br />

■ Wenn Wettbewerb im Gesundheitsmarkt<br />

wirklich steuern soll, kann es sich nur um einen<br />

Leistungs- und Qualitätswettbewerb handeln.<br />

Hierfür brauchen wir transparente Qualitätsrankings.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 8<br />

Integrierte Versorgung<br />

Populationsorientiert ist sie ein wettbewerbliches Zukunftsmodell<br />

Von Volker Amelung<br />

Für den Ökonom ist es selbstverständlich, aber nicht<br />

für alle Akteure in der gesundheits<strong>politische</strong>n Diskussion:<br />

Wettbewerb ist ein Suchprozess. Und ein Suchprozess<br />

bedeutet Fließgleichgewichte beachten, zu<br />

schauen, was funktioniert hat, immer wieder Anpassung,<br />

aber auch die stetige Bereitschaft, zu ändern<br />

und sich eventuell mit der second-best-Lösung zufriedenzugeben.<br />

Das ist eine ständige Aufgabe.<br />

Aber die öffentliche Diskussion ist weitgehend dominiert<br />

von der Vorstellung, dass jetzt der eine große<br />

Wurf gelingen müsse und das Thema damit durch sei.<br />

Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)<br />

war nicht die letzte Reform, sondern es wird immer<br />

weitere Reformen, immer wieder Anpassungsprozesse<br />

und Neubewertungen davon geben, welche Schritte<br />

erfolgreich waren, welche nicht und wie man dann<br />

sinnvollerweise weiter fortschreitet.<br />

Nicht überall ist Wettbewerb möglich<br />

Die Kernfrage lautet also: In welchen Bereichen des<br />

Gesundheitswesens wird Wettbewerb funktionieren<br />

und wo hat Wettbewerb nichts verloren. Es wird keine<br />

Generalformel geben, die die Beantwortung dieser<br />

Frage erübrigt. Nehmen wir beispielsweise die Palliativversorgung<br />

– ein klassischer Bereich, wo Wettbewerb<br />

als Prinzip nicht funktioniert.<br />

Deshalb ist es auch sinnvoll, diesen Bereich aus den<br />

Integrationsverträgen herauszunehmen. Hier brauche<br />

ich viel Planung und Organisation, muss funktionsfähige<br />

Zirkel aufbauen und die Leute an einen<br />

Tisch bringen.<br />

Wettbewerb ist wichtig und mir fällt nichts Besseres<br />

ein – das ist das übliche Argument für den Wettbewerb.<br />

Dennoch: Wo man sich mit der Problematik<br />

intensiver auseinandersetzen muss, z.B. bei der Integrierten<br />

Versorgung, sieht man, dass die Instrumente,<br />

die man in der populationsorientierten Integrierten<br />

Versorgung einsetzt, tendenziell wettbewerbsfeindlich<br />

sind. Ich möchte dies nicht an den bestehenden<br />

deutschen Modellen darlegen, sondern einmal in die<br />

Zukunft vorausgreifen.<br />

Wie man Integrierte Versorgung mit Wettbewerb vereinbaren<br />

kann, lässt sich sehr schön an einem Modell<br />

aus den USA deutlich machen: Hier wird populationsorientierte<br />

Integrierte Versorgung wirklich realisiert.<br />

Das Modell ist derzeit in Deutschland nicht umsetzbar,<br />

aber vielleicht in fünf oder zehn Jahren.<br />

Die Integrierte Versorgung ist eines der wenigen Themengebiete,<br />

die in der aktuellen Gesundheitspolitik<br />

und auch im Rahmen der neuesten Diskussionen<br />

nicht grundsätzlich hinterfragt wurden. Niemand sagt,<br />

wir wollen keine Integrierte Versorgung. Allerdings<br />

wird über die Details diskutiert, z.B. über Fragen der<br />

Anschubfinanzierung.<br />

Erfolgsfaktoren integrierter Systeme ...<br />

1. einheitliche und vernetzte IT-Infrastruktur,<br />

2. geographische Nähe der Einheiten,<br />

3. zentrale Steuerung und dezentrale Ausführung,<br />

4. starke und einheitliche Unternehmenskultur<br />

und<br />

5. adäquate Anreizsysteme und Kontrollsysteme<br />

Prof. Dr. Volker Amelung<br />

Natürlich ist die Anschubfinanzierung aus Sicht eines<br />

Ökonomen ein Paradebeispiel für Fehlanreize. Für<br />

einen Ökonomen ist das ein absurdes Instrument.<br />

Aber vielleicht braucht es das, vielleicht ist es die<br />

second-best-Lösung, vielleicht müssen wir Instrumente<br />

einsetzen, die dem Grundsatz widersprechen,<br />

bei denen wir aber keine andere Wahl haben.<br />

Impulse durch Paradigmenwechsel<br />

Die Integrierte Versorgung hat, und das ist deutlich<br />

hervorzuheben, einen wesentlichen Effekt gehabt,<br />

der nicht zu unterschätzen ist: Selbst bei uns an der


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 9<br />

Medizinischen Hochschule, ich erinnere mich sehr<br />

genau, wurde sofort, als die Gesetzgebung da war,<br />

nach Partnerschaften Ausschau gehalten. Ebenso bei<br />

den Krankenkassen.<br />

Was da der Gesetzgeber angestoßen hat, ist immens.<br />

Und ich glaube, dieser Paradigmenwechsel im Denken<br />

setzt viel stärkere Impulse als die einzelnen Verträge.<br />

Wir sollten uns viel weniger die einzelnen Verträge<br />

anschauen, sondern wir sollten uns anschauen, wie<br />

sich die Versorgungslandschaft, die Struktur des Systems,<br />

durch die Integrierte Versorgung verändert hat.<br />

Das Themengebiet Versorgungsforschung und Versorgungsmanagement<br />

hat einen ganz anderen Stellenwert<br />

bekommen. Das ist wichtig, das ist richtig. Und<br />

wir sollten hier nicht schon nach drei Monaten Ergebnisse<br />

erwarten. Die werden erst mittelfristig eintreten.<br />

Es geht zunächst einmal darum, einen anderen Weg<br />

einzuschlagen. Wir müssen uns doch die Frage stellen,<br />

wie muss ein System strukturiert sein, damit es<br />

15 Jahre wettbewerbsfähig ist. Und wenn man sich<br />

die Haupttreiber im Gesundheitssystem anschaut,<br />

sind es die Bereiche, die nach mehr Integration<br />

schreien.<br />

Haupttreiber: Demografie und Hochkostenfälle<br />

Da geht es zum einen um das Themengebiet Demografie.<br />

Darüber ist öffentlich genug diskutiert worden.<br />

Und es geht um die aufwändigen Volkskrankheiten,<br />

die Hochkostenfälle. Sie sind dominant. Demografie<br />

und Hochkostenfälle fordern Disease- und Case-Management<br />

und sind für die Integrierte Versorgung<br />

relevant.<br />

Nehmen wir konkrete Krankheiten. Da sind z.B. die<br />

psychischen Erkrankungen. Sie sind von zunehmender<br />

Bedeutung. Die Weltgesundheitsorganisation<br />

geht davon aus, dass im Jahr 2020 Depressionen den<br />

zweitgrößten Ausgabenblock verursachen werden.<br />

Wenn dem so ist, muss man sich schon jetzt überlegen,<br />

wie die Versorgungsstrukturen sinnvollerweise<br />

aufgebaut sein sollten. Sie müssen hausarztzentriert<br />

sein, sie müssen vernetzt, sie müssen wohnortnah<br />

sein.<br />

Man muss sich also ganz konkret überlegen, was<br />

diese langfristigen Veränderungen für meine Struktur<br />

bedeuten. Ähnlich die Volkskrankheit „Übergewicht“.<br />

In den USA haben mittlerweile 66 Prozent der Bevölkerung<br />

einen Body-Mass-Index von über 25. Das<br />

klassische Gesundheitssystem mit seinen starren<br />

Grenzen wird hier nichts bewirken können. Da muss<br />

man in die Kitas und in die Schulen rein, da braucht<br />

man neue Vernetzungsformen.<br />

Integrierte Versorgung ist mehr als ein Buzzword<br />

(Schlagwort), sie ist ein Zukunftsmodell. Medicare,<br />

die Versorgung der Amerikaner über 65, gibt 89 Prozent<br />

seiner Ausgaben für Versicherte aus, die drei<br />

oder mehr chronische Erkrankungen haben. Das sind<br />

Managementherausforderungen. Die Leistungsfähigkeit<br />

eines Gesundheitssystems wird sich daran messen<br />

müssen, wie es die Versorgung chronisch Kranker<br />

organisiert.<br />

Ein Beispiel aus den USA<br />

Populationsorientierte Integrierte Versorgung ist politisch<br />

gewollt und im Gesetz noch explizit gestärkt<br />

worden. Allerdings sind für Deutschland erhebliche<br />

Zweifel angebracht, wie schnell sie sich umsetzen<br />

lässt. Nehmen wir deshalb ein Beispiel aus den USA.<br />

Reden wir über die Bronx, über eine ausgesprochen<br />

schwer zu versorgende Bevölkerung. Dort hat sich ein<br />

Modell entwickelt, das ich schon seit mittlerweile fast<br />

10 Jahren fasziniert verfolge.<br />

Der Träger ist Montefiore, eine Nonprofitorganisation,<br />

eine alte Stiftung mit über 100 Jahren Tradition. Sie<br />

bekommt vom Staat New York über Medicaid, hier<br />

sind die Ärmsten der Amerikaner versorgt, eine feste<br />

Pauschale und dafür muss sie die gesamte Versorgung<br />

von 150.000 Bürgern der Bronx sicherstellen.<br />

Dies ist ein ganz schwer zu versorgender Bevölkerungsteil.<br />

Er ist gekennzeichnet durch einen sehr<br />

niedrigen Altersdurchschnitt, durch einen hohen Grad<br />

an Armut (ein Viertel der Bevölkerung in der Bronx<br />

lebt unterhalb der Armutsgrenze), durch eine immens<br />

hohe Prävalenz von Krankheiten (Asthma z.B. bei<br />

30 Prozent, Diabetes ebenfalls extrem hoch). Das ist<br />

alles andere als cherry-picking und stellt ganz eigene<br />

Herausforderungen an die Versorgung.<br />

Lassen Sie mich aufzeigen, wie diese populationsorientierte<br />

Integrierte Versorgung funktioniert. Sie hat<br />

in der Bronx einen Marktanteil von 25 Prozent. Es gibt<br />

medizinische Zentren für die ambulante Versorgung –<br />

die auch in den Schulen tätig sind. Diese Versorgung<br />

unmittelbar in den Schulen übernimmt eine eigene<br />

Organisation. Dazu kommt ein ambulantes Netzwerk,<br />

ein Krankenhaus, an das – auf dem gleichen Gelände<br />

– ein Pflegeheim direkt angebunden ist.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 10<br />

WHY<br />

■ Chronic diseases cause avoidable morbidity<br />

and mortality<br />

■ Epidemiology, impact on health and utilization<br />

in the Bronx<br />

■ Chronic diseases increase utilization and<br />

costs<br />

■ A few diseases have a major impact<br />

■ CHF<br />

■ Asthma<br />

■ Diabetes<br />

■ Depression<br />

■ ESRD<br />

■ Hypertension<br />

Viele Schnittstellen<br />

Angesichts der großen Herausforderungen durch die<br />

alternde Gesellschaft ist diese Schnittstelle zwischen<br />

Akutversorgung und Pflege extrem erfolgskritisch.<br />

Gleichermaßen zum System gehört eine Home<br />

Health Agency, durch die die Weiterversorgung in der<br />

häuslichen Umgebung – ein wesentlicher Erfolgsfaktor<br />

– gewährleistet ist. Dann gehört dazu eine klassische<br />

medizinische Universität mit einem angegliederten<br />

Versicherungsprodukt. Das brauche ich für Medicaid.<br />

Es existieren sehr viele Schnittstellen in die Community,<br />

in die ehrenamtlichen Bereiche. Man übernimmt<br />

medizinische Versorgung für andere Krankenhäuser.<br />

Und bis vor kurzem hat man auch noch eine Knastinsel<br />

mitversorgt. Also insgesamt ein äußerst ausgeklügeltes<br />

System in einer Größenordnung, die der<br />

Medizinischen Hochschule Hannover oder dem UKE<br />

in Hamburg vergleichbar ist.<br />

Was zeichnet das Modell aus? Zum einen: Es integriert<br />

die gesamte Wertschöpfungskette. Zum anderen:<br />

Es hat eine einheitliche Unternehmenskultur. Das<br />

sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren. Hier sind die<br />

Brüche zwischen ambulant und stationär eben nicht<br />

vorhanden. Hier in der Bronx finden wir nur eine<br />

Gesamtinstitution, nur eine Informationstechnologie,<br />

und – ganz zentral – wir haben adäquate Anreizsysteme.<br />

Managing Chronic Disease Is Essential<br />

HOW<br />

■ Multi-disciplinary management and system<br />

of care<br />

■ Application of best practices<br />

■ Involvement of primary care providers<br />

■ Accessible speciality care/consults<br />

■ Home care and telemedical supports<br />

■ Information system for tracking of care and<br />

outcomes<br />

■ Patient referral and “registry”<br />

■ Tracking of process, and outcome measures<br />

■ Expert case management<br />

■ Patient education, involvement<br />

Quelle: Steve Rosenthal, COO, Montefiore, Jan. 2007 Prof. Dr. Volker Amelung<br />

Hochkarätige Informationssysteme<br />

Wie funktioniert das System, wie wird es gemanagt?<br />

Von zentraler Bedeutung ist die Informationstechnologie,<br />

denn populationsorientierte Integrierte Versorgung<br />

muss auf Informationen aufbauen, die an verschiedenen<br />

Stellen zur Verfügung stehen und einheitlich<br />

interpretiert werden.<br />

Das ist mit immensen Investitionen verbunden. In<br />

diese populationsorientierte Integrierte Versorgung<br />

der Bronx wurden in den letzten 10 Jahren von der<br />

Non-profit-Organisation Montefiore 950 Millionen Dollar<br />

investiert. Und davon allein 150 Millionen in eine<br />

adäquate Informationstechnologie.<br />

Was bedeutet das für das deutsche Gesundheitssystem?<br />

Zunächst: Wenn man über populationsorientierte<br />

Integrierte Versorgung redet, dann über solche und<br />

ähnliche Modelle. Entscheidend ist dabei das Disease<br />

Management – insbesondere für die Steuerung chronisch<br />

Kranker. Es geht um die klassischen Volkskrankheiten,<br />

um Asthma, Diabetes, Depressionen usw.<br />

Und es geht um das Fundament, um Predictive Modelling,<br />

weil es keinen Sinn macht, erst zu reagieren<br />

wenn man angekommen ist. Man muss vorher wissen,<br />

wo das Patientenkollektiv in 5 oder 10 Jahren steht.<br />

Wenn man diese Entwicklung kennt, kann man entsprechend<br />

steuernd eingreifen. Hierfür sind hochkarätige<br />

Informationssysteme nötig, ein Case-Mana-


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 11<br />

gement und – das ist ein ganz wesentlicher Erfolgsfaktor<br />

– die Einbindung der Patienten.<br />

Wir müssen wegkommen von dem Gedanken, sämtliche<br />

Segmente eines Gesundheitssystems in einem<br />

System oder mit einer Konzeption bedienen zu wollen.<br />

Vielmehr muss die Frage lauten, welche Teile des<br />

versicherten Kollektivs man mit welchem Instrumentarium<br />

bedienen kann.<br />

Ein Beispiel ist das Frail Elderly Program in der Bronx.<br />

Es richtet sich an die über 80-Jährigen. Ihr Versorgungsbedarf<br />

ist speziell. Wichtig z.B. ist die Ausstattung<br />

der Wohnung. Gibt es Sturzgefahren, wie sieht<br />

das Badezimmer aus usw.? Und die wird dann aktiv<br />

mitgestaltet.<br />

Oder ein anderes Beispiel: Wer die Strukturen in der<br />

Bronx kennt, weiß wie schwer es ist, an die Bevölkerung<br />

heranzukommen. Deshalb hat man sich folgende<br />

Relation zunutze gemacht: Je ärmer eine Bevölkerung<br />

ist, desto höher ist die Penetration mit Pay-TV.<br />

Man hat also einen Fernsehkanal entwickelt, wo Ärzte<br />

oder Betreuer mit den einzelnen Patienten Kontakt<br />

aufnehmen bzw. halten können.<br />

Und damit schließt sich auch wieder der Bogen zu<br />

unserer Frage: Was bedeuten derartige Systeme nun<br />

für den Wettbewerb? Zunächst: Populationsorientierte<br />

Integrierte Versorgung – wie sie das Gesetz ja auch<br />

vorsieht – braucht eine kritische Größe.<br />

Bei dem amerikanischen Versicherer „Kaiser Permanente“<br />

hält man für eine funktionierende populationsorientierte<br />

Integrierte Versorgung eine Mindestgröße<br />

von 200.000 eingeschriebenen Personen für notwendig.<br />

Man braucht also Größe, damit eine gewisse<br />

Markt- und Informationsmacht. Und man braucht geografische<br />

Nähe der Einheiten. Das klappt nicht mit fünf<br />

Prozent Marktanteil, das braucht eher an die 30 Prozent<br />

Marktanteil. Und dann muss man überlegen, wie<br />

der Wettbewerb organisiert werden kann. Dazu sind<br />

eine starke einheitliche Unternehmenskultur, adäquate<br />

Anreizsysteme und eine starke Steuerung vonnöten.<br />

Einige Forderungen zum Thema Wettbewerb<br />

1. Wir müssen weg davon kommen, Wettbewerbslösungen<br />

für das ganze System zu suchen. Es<br />

geht um Leistungssegmente und Regionen. In der<br />

Uckermark werden Wettbewerbsmodelle kaum<br />

funktionieren.<br />

2. Es muss um die zentralen aufwändigen Leistungen<br />

gehen. Bei irgendwelchem Nebenservice<br />

macht Wettbewerb keinen Sinn.<br />

3. Wir brauchen Transparenz – Transparenz über<br />

Leistungen und über Ergebnisqualität, auch wenn<br />

dies nicht einfach ist.<br />

4. Wir sollten nicht erst dann starten, wenn unsere<br />

hohen Erwartungen abgesichert sind. Nein, der<br />

erste Wurf wird nicht der letzte sein und entscheidend<br />

ist, zunächst einmal anzufangen.<br />

5. Wir sollten bereit sein, die großen Fragen, z. B.<br />

zum Sicherstellungsauftrag, zur Budgetbereinigung,<br />

zur Bedarfsplanung anzugehen.<br />

6. Überlassen wir es den einzelnen Institutionen, die<br />

Innovation ins System zu holen. Wir brauchen auch<br />

hier mehr Gesundheitsmanagement und weniger<br />

Gesundheitspolitik.<br />

© gpk<br />

Kernthesen von Prof. Dr. Volker Amelung<br />

■ Wettbewerb ist ein permanenter Suchprozess.<br />

Auch in einem wettbewerblich orientierten<br />

Gesundheitswesen wird es deshalb immer wieder<br />

Reformdruck, Neubewertungen und Anpassungen<br />

geben.<br />

■ Wettbewerb funktioniert nicht überall im<br />

Gesundheitswesen. Aufgabe der Gesetzgebung<br />

ist, die Segmente zu definieren, in denen<br />

er funktioniert.<br />

■ Das Konzept der „Populationsorientierten<br />

Integrierten Versorgung“ ist ein wettbewerbliches<br />

Zukunftsmodell, weil es in der Lage ist,<br />

Gesundheitsversorgung eng an dem tatsächlichen<br />

Bedarf der Zielgruppe und an Qualitätskriterien<br />

auszurichten.<br />

■ Allerdings braucht „Populationsorientierte<br />

Integrierte Versorgung“ einen nennenswerten<br />

Marktanteil, um in der Fläche die Ressourcen<br />

rationell nutzen zu können, braucht eine einheitliche<br />

Unternehmenskultur, adäquate Anreizsysteme<br />

und eine starke Steuerung.<br />

■ Es sollte den dezentralen Strukturen überlassen<br />

sein, die Innovation ins System zu holen.<br />

Hier muss der Gesundheitsmanager nach seinem<br />

konkreten Bedarf entscheiden, nicht die<br />

der Politik verpflichtete Zentralinstitution.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 12<br />

Solidarisch oder risikoorientiert?<br />

Ohne Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen stimmt das Anreizsystem nicht<br />

Von Eckhard Knappe<br />

Ansätze zu einem Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />

bestehen in Deutschland auf drei Ebenen: Wettbewerb<br />

der Leistungserbringer um Patienten, Wettbewerb<br />

der Krankenkassen um Versicherte und schließlich<br />

Wettbewerb zwischen Leistungserbringern und<br />

Krankenkassen um Versorgungs- und Entgeltverträge.<br />

Ich möchte mich hier auf den Finanzierungsaspekt<br />

der gesetzlichen Krankenkassen (GKV), die solidarische<br />

Beitragserhebung, so wie sie heute ist bzw. wie<br />

sie mit einem Wettbewerbssystem kompatibel wäre,<br />

konzentrieren. Die Krankenkassen finanzieren sich<br />

über Beiträge, die als Prozentsatz vom Bruttolohn<br />

ihrer Versicherten (derzeit durchschnittlich 14,8 Prozent)<br />

erhoben werden.<br />

Der Beitragssatz differiert zwischen den Krankenkassen<br />

nur wenig. 0,9 Prozent vom Bruttolohn werden<br />

allein von den Arbeitnehmern, der Rest je zur Hälfte<br />

von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt, allerdings<br />

nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze von zurzeit<br />

3.562,50 Euro.<br />

Problematische Finanzierung<br />

Diese Art der „solidarischen Finanzierung“ ist in mancherlei<br />

Hinsicht problematisch. Wir handeln uns auf<br />

diese Weise z.B. ein künstlich verschärftes Generationenproblem<br />

ein, das wir im Umlageverfahren gar nicht<br />

haben müssten. Es ist bereits eine Herausforderung<br />

für die Finanzierung der Krankenkassen, dass Ältere,<br />

die in ihrer Zahl zunehmen, im Durchschnitt sehr viel<br />

höhere Krankheitsrisiken haben und sehr viel höhere<br />

Ausgaben verursachen als Jüngere.<br />

Aber wir koppeln auch noch die Beiträge der Älteren<br />

an die Renten und senken sie damit im Durchschnitt<br />

für Ältere (für Rentner) auf die Hälfte. Das ist gesundheitspolitisch<br />

nicht zu begründen, letztlich aber auch<br />

nicht sozialpolitisch, denn Renteneinkommen und<br />

Einkommensarmut sind keinesfalls dasselbe. Viele<br />

Rentnerhaushalte beziehen Einkommen aus mehreren<br />

Quellen, nicht grundsätzlich müssen Haushalte<br />

mit (geringen) Renten über entsprechend geringe<br />

Beiträge unterstützt werden.<br />

Sinnvoller wäre es, wenn Ältere zwar keine höheren,<br />

aber auch keine verringerten Beiträge bezahlen<br />

müssten, wie z.B. im Gesundheitsprämienmodell vorgeschlagen<br />

wurde.<br />

Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die Arbeitsmarktprobleme,<br />

die wir uns durch den Arbeitgeberbeitrag<br />

einhandeln. Der Zusammenhang zwischen Arbeitgeberbeitrag<br />

und Arbeitslosigkeit bzw. Beschäftigung<br />

ist vielschichtig, letztlich behindert aber ein steigender<br />

Beitragssatz der Krankenversicherung eine<br />

Rückkehr zur Vollbeschäftigung. Er zwingt daher die<br />

Gesundheitspolitik zu Ausgabendämpfungsprogrammen,<br />

die zwar arbeitsmarktpolitisch, nicht aber gesundheitspolitisch<br />

zu begründen sind.<br />

Das heutige, lohnbezogene Beitragssystem:<br />

■ künstlich verschärftes Generationenproblem,<br />

■ künstlich verschärftes Arbeitsmarktproblem<br />

■ vierfach „ungerecht“:<br />

– Lohn/Rente ist der falsche Maßstab<br />

– linear und bis zur Beitragsbemessungsgrenze<br />

– Widerspruch zwischen Familien- und<br />

Lohnkomponente<br />

– Umverteilung ist gesamtgesellschaftliche<br />

Aufgabe<br />

■ verhindert Preiswettbewerb der Versicherungen<br />

ZfG<br />

Man sollte den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmerbeitrag<br />

zusammen mit dem Lohn auszahlen, der Arbeitnehmer<br />

müsste dann aus dem erhöhten Bruttoeinkommen<br />

den gesamten Krankenkassenbeitrag<br />

bezahlen. Für die Arbeitnehmer würde sich dadurch<br />

nichts ändern, außer dass sie die Gesamtkosten der<br />

Krankenversicherung sehen würden und verstärkt<br />

den Kassenwettbewerb nutzen würden, um Kosten zu<br />

sparen.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 13<br />

Haushaltseinkommen als Maßstab<br />

Warum halten wir trotz verschärfter Demografieprobleme<br />

und trotz verschärfter Arbeitsmarktprobleme<br />

an dieser Art Finanzierung fest? Wir meinen, auf<br />

diese Art einen sozial<strong>politische</strong>n Grundsatz einlösen<br />

zu können, nach dem sich die Leistungsansprüche<br />

nach dem Bedarf der Versicherten, die finanzielle<br />

Belastung aber nach der ökonomischen Situation der<br />

Versicherten richten sollten.<br />

De facto wird dieser Grundsatz aber durch das bestehende<br />

Finanzierungssystem nicht eingelöst. Die Beitragshöhe<br />

ist – wie gesagt – als Prozentsatz an den<br />

Bruttolohn/die Rente (bis zur Beitragsbemessungsgrenze)<br />

gekoppelt. Dieses Verfahren ist gleich „dreifach<br />

ungerecht“.<br />

1. Was haben Bruttolohn- und Rentenhöhe (bis zur<br />

Beitragsbemessungsgrenze) mit der ökonomischen<br />

Leistungsfähigkeit von Haushalten zu tun? Nur wenig.<br />

Ein Haushalt mit geringem Lohn (oder geringer Rente),<br />

aber z.B. hohem Kapitaleinkommen ist nicht leistungsunfähig,<br />

dennoch erhält er eine finanzielle Unterstützung<br />

in Form von niedrigen Krankenkassenbeiträgen.<br />

Die sozial<strong>politische</strong> Absicht einer Finanzierung<br />

nach der ökonomischen Situation müsste zumindest<br />

das Haushaltsgesamteinkommen zugrunde legen.<br />

2. Durch die prozentuale Koppelung der Beiträge an<br />

Bruttolohn und Rente steigen die Belastungen linear<br />

mit der Lohn-/Rentenhöhe. Eine solche proportionale<br />

Belastung wird z.B. in Bezug auf die Einkommensteuer<br />

als „grob ungerecht“ beurteilt. Es ergibt sich zudem<br />

ein ungerechtfertigter Belastungssprung zwischen<br />

gleichgestellten Haushalten, sofern sie einerseits So-<br />

ZfG<br />

zialhilfe beziehen (einschließlich Krankenversicherung)<br />

und andererseits bei gleichem (Lohn-)Einkommen<br />

den vollen Beitragssatz bezahlen müssen.<br />

Besonders unsinnig wird die sozial<strong>politische</strong> Wirkung<br />

durch die Beitragsbemessungsgrenze. Dadurch werden<br />

Haushalte mit Lohneinkommen von 3.562,50<br />

Euro und Haushalte mit weit darüber liegendem Einkommen<br />

absolut gleich belastet. Eine derart degressive<br />

Belastungswirkung widerspricht allen sozial<strong>politische</strong>n<br />

Gerechtigkeitskriterien.<br />

Aber nicht nur der Grundsatz vertikaler Gerechtigkeit<br />

im Sinne von „höheres Einkommen = höhere Beitragslast“<br />

wird auf diese Weise grob missachtet, sondern<br />

auch der Grundsatz horizontaler Gerechtigkeit<br />

im Sinne von „gleiches Einkommen = gleiche Beitragslast“.<br />

Diese Widersprüche ergeben sich aus der Beitragsbemessungsgrenze<br />

in Kombination mit der Koppelung<br />

an den Bruttolohn (die Rentenhöhe). Ein Beispiel<br />

kann das verdeutlichen: Drei gleichgestellte Haushalte<br />

mit einem Monatseinkommen von je 5.000 Euro<br />

sollten auch gleiche Beitragslasten tragen, aber<br />

– bei einem Beitragssatz von 14,8 Prozent läge der<br />

Beitrag eines Ein-Verdiener-Lohneinkommens-<br />

Haushaltes (wegen der Beitragsbemessungsgrenze)<br />

de facto bei monatlich 527,25 Euro;<br />

– verdienen zwei Personen je 2.500 Euro, zahlt der<br />

Haushalt 740 Euro;<br />

– handelt es sich um einen Rentner mit einer Rente<br />

von 1.500 Euro (einschließlich Zuschuss zur Krankenversicherung)<br />

und 3.500 Euro Kapitaleinkommen,<br />

wären 222 Euro zu bezahlen.<br />

Einnahmen- und Ausgabenverlauf GKV bei lohnbezogenen Prämien<br />

14,2 % vom Bruttolohn bis 3.562,50 Euro (2006)<br />

450<br />

400<br />

85u.älter 450,– Euro<br />

Krankheitskostenverlauf<br />

350<br />

300<br />

65–85=320,– Euro<br />

250<br />

Deckungslücke<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

Überdeckung<br />

ca. 50 %<br />

ca. 60 %<br />

Prämienverlauf<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Quelle: Universität Trier, ZfG Alter in Jahren<br />

© Prof. Dr. Eckhard Knappe<br />

Euro pro Monat


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 14<br />

Von „Gleichbehandlung bei gleicher ökonomischer<br />

Situation“ kann dabei keine Rede sein.<br />

3. Auch zwischen der familien<strong>politische</strong>n und einkommens<strong>politische</strong>n<br />

Zielsetzung existiert ein Widerspruch.<br />

Es sollen zwei unterschiedliche Aspekte des<br />

Sozialausgleichs verwirklicht werden: Einerseits sollen<br />

größere Familien durch die beitragsfreie Mitversicherung<br />

von Mitgliedern ohne eigenes Lohneinkommen<br />

unterstützt werden (Ziel: Familienlastenausgleich),<br />

andererseits sollen aber auch Haushalten mit<br />

niedrigem Einkommen niedrige Beiträge gewährt<br />

werden.<br />

Da aber beide Ziele ohne Gewichtung nebeneinander<br />

stehen, führt das auch dazu, dass „arme Singles“<br />

„reiche Großfamilien“ unterstützen. Es kommt hinzu,<br />

dass – durch die Versicherungspflichtgrenze (zurzeit<br />

3.975 Euro) – Haushalte mit einem Einkommen oberhalb<br />

der Versicherungspflichtgrenze wählen dürfen,<br />

ob sie sich einer solidarischen Zahlungsverpflichtung<br />

entziehen wollen oder ob sie sich – trotz des hohen<br />

Einkommens (z.B. bei großer Kinderzahl) – über den<br />

Familienlastenausgleich unterstützen lassen wollen.<br />

Will man solche Widersprüche vermeiden, müssen<br />

die beiden sozial<strong>politische</strong>n Ziele „Familienlastenausgleich“<br />

und „Umverteilung von oben nach unten“ neu<br />

austariert werden.<br />

Drei verschiedene Ebenen<br />

In Bezug auf die für eine Krankenversicherung relevanten<br />

Solidaritätsaspekte ist es sinnvoll, drei verschiedene<br />

Ebenen zu unterscheiden.<br />

1. Der Solidaritätsaspekt, der in jedem Krankenversicherungssystem<br />

einzulösen ist, ist die Solidarität<br />

zwischen aktuell Gesunden und aktuell Kranken (man<br />

denke z. B. an die Behandlung einer Blinddarmentzündung,<br />

eines Knochenbruchs usw.). Entscheidend<br />

sind der Zufallscharakter der Gesundheitsstörung<br />

und die Kurzzeitigkeit des Behandlungsbedarfs.<br />

Ein weiterer krankheitsbezogener Solidaritätsaspekt<br />

ist die Solidarität zwischen Personen mit dauerhaft<br />

niedrigen und Personen mit dauerhaft hohen Krankheitsrisiken.<br />

Letztere zeigen sich z.B. bei chronisch<br />

Kranken, bei denen ein hoher und dauerhafter Behandlungsbedarf<br />

erkennbar ist. Auch diese Art des<br />

Risikos ist in der GKV (sowie in der privaten Krankenversicherung<br />

für deren Mitglieder) abgedeckt.<br />

Gerade diese Art des Krankenversicherungsschutzes<br />

ist erforderlich, um existenzbedrohende Risiken abzudecken.<br />

Generell gilt: Risikobezogene Beiträge dürfen<br />

existenzielle Risiken nicht ausgrenzen.<br />

2. Weiterhin geht es um die Solidarität „zwischen<br />

jung und alt“. Selbst für durchschnittlich Gesunde<br />

steigt das Risiko mit dem Alter an. Trotzdem zahlt man<br />

in der Krankenversicherung keine mit dem Alter steigenden<br />

Beiträge. Mit 80 Jahren ist das Ausgabenrisiko<br />

im Durchschnitt rund fünfmal so hoch wie das<br />

Ausgabenrisiko im Alter von 30 Jahren.<br />

Im Umlageverfahren wird dieses überproportionale<br />

Risiko „der Alten“ von „den Jungen“ finanziert. Dadurch<br />

entsteht ein Generationenproblem im Umlageverfahren.<br />

Teils handelt es sich lediglich um eine zeitliche<br />

Umschichtung von Vor- und Nachteilen, denn<br />

auch die belasteten Jungen werden älter und erhalten<br />

entsprechende Vorteile im Alter. Auch ein Anstieg der<br />

Lebenserwartung erhöht die Belastung der Jüngeren,<br />

kommt diesen aber ebenfalls im Alter zugute.<br />

Lediglich der demografische Wandel, der sich aus<br />

einer geringen/sinkenden Geburtenrate ergibt, führt<br />

zu einer Belastung der Jungen, ohne diesen jemals<br />

zugute zu kommen. Die Solidarität zwischen den Generationen<br />

wird dadurch im Umlageverfahren empfindlich<br />

gestört. Hier würde nur ein Übergang zum<br />

Kapitaldeckungsverfahren helfen oder – im Umlageverfahren<br />

– ein Übergang zu mit dem Alter steigenden<br />

Beiträgen.<br />

3. Schließlich geht es im Rahmen einer sozialen<br />

Krankenversicherung um einen Sozialausgleich nach<br />

der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nach der<br />

Zahl der Haushaltsmitglieder (Familienlastenausgleich).<br />

Es wird versucht, diesen sozialen Ausgleich – wie<br />

beschrieben – über lohn- und rentenbezogene Beiträge<br />

sowie über die beitragsfreie Mitversicherung von<br />

Familienmitgliedern ohne eigenes Einkommen zu<br />

realisieren. Damit ist dieser Sozialausgleich integraler<br />

Bestandteil der Krankenversicherung.<br />

Gerade dadurch entstehen aber wesentliche Probleme,<br />

weil die Krankenversicherung durch die Vielzahl<br />

der Zielvorgaben überfordert ist. Einerseits kann kein<br />

zielgerichteter Sozialausgleich erreicht werden, andererseits<br />

wird dadurch zuverlässig ein funktionsfähiger<br />

Wettbewerb der Krankenversicherungen behindert.<br />

Ein Finanzierungssystem, das mit Wettbewerb<br />

verträglich ist, muss die beiden Ebenen, die Ebene<br />

der Finanzierung der Krankenkassen und die Ebene<br />

der Umverteilung nach Einkommen und Familiengröße<br />

organisatorisch trennen.<br />

Es ist grundsätzlich nicht möglich, an einem Umverteilungssystem<br />

innerhalb der Krankenversicherung<br />

festzuhalten und zugleich den Beiträgen die Funktion<br />

kostendeckender Wettbewerbspreise zuzuweisen.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 15<br />

Dieser Widerspruch zwischen Wettbewerbspreisen<br />

und Sozialbeiträgen ist grundsätzlich innerhalb der<br />

Krankenversicherung unlösbar.<br />

Risikobeitrag widerspricht solidarischer<br />

Krankenversicherung<br />

Wettbewerbspreise müssen in Bezug auf das abzudeckende<br />

Risiko kostendeckend sein. „Risikobeitrag“<br />

kann jedoch alles Mögliche heißen. In Privatversicherungsmärkten<br />

werden die versicherten Risiken zumeist<br />

ursachenbezogen definiert, z.B. im Rahmen<br />

der Feuerversicherung. Wenn das Haus abbrennt, ist<br />

man versichert, bei einem Schwelbrand häufig jedoch<br />

nicht, da kein offenes Feuer die Ursache des Verlustes<br />

ist. Eine Sturmschadenversicherung tritt ein,<br />

wenn Sturm die Ursache des Schadens ist, meist<br />

jedoch nicht, wenn Starkwind den Schaden angerichtet<br />

hat.<br />

Eine soziale Krankenversicherung sollte dagegen<br />

zwischen den Ursachen des Risikos nicht differenzieren,<br />

sondern existenzbedrohende Folgen absichern.<br />

In der gesetzlichen Krankenversicherung wird z.B.<br />

immer wieder über Ausschluss von Sportunfällen<br />

oder von Rauchen als spezielle Ursachen von Krankheiten<br />

diskutiert.<br />

Auch in der Pflegeversicherung wurde bisher zwischen<br />

physischen und psychischen Ursachen einer<br />

Pflegebedürftigkeit unterschieden. Im Gegensatz zu<br />

einer Marktversicherung sollte sich eine Sozialversicherung<br />

auf die Folgen konzentrieren.<br />

Ein weiteres Problem ist die Befristung des Versicherungsvertrages.<br />

Ein kurzfristiger Risikobezug, bei-<br />

ZfG<br />

Altersgestaffelte Pauschalprämien?<br />

spielsweise für eine Vertragsdauer von zwei oder drei<br />

Jahren, deckt die lebenslangen Risiken nicht ab. Gerade<br />

diese können aber existenzbedrohende Folgen<br />

haben.<br />

Wer z. B. im Alter von 30 Jahren einen kurzfristigen<br />

Krankenversicherungsvertrag abschließt und in dieser<br />

Zeit durch ein Unglück oder eine chronische<br />

Krankheit sein Ausgabenrisiko stark erhöht, der sollte<br />

nach Ablauf seines Vertrages nicht einen neuen Vertrag<br />

zu neuen Risikoprämien (die in ihrer Höhe dann<br />

ruinös sein können) abschließen müssen. Es ist daher<br />

sinnvoll, eine lebenslange Risikoabdeckung vorzusehen,<br />

so wie dies in der gesetzlichen und (mit Abstrichen)<br />

in der privaten Krankenversicherung auch vorgesehen<br />

ist.<br />

Einnahmen-Ausgaben-Problem<br />

Allerdings gilt es in Bezug auf die lebenslange Risikoentwicklung<br />

zu unterscheiden: Einerseits kann sich<br />

das Risiko eines Einzelnen durch Unglück, chronische<br />

Krankheit usw. drastisch erhöhen, andererseits<br />

steigt im Laufe des Lebens das Krankheitsrisiko auch<br />

im Durchschnitt (etwa um das Fünf- bis Achtfache)<br />

altersbedingt an.<br />

Für eine Krankenversicherung bedeutet das: Wer Ältere<br />

versichert hat, hat höhere Ausgaben. Unser System<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung ist zusätzlich<br />

so eingerichtet, dass dann auch niedrigere Einnahmen<br />

(weil an die Renten gebunden) zu erwarten<br />

sind. Letzteres könnte durch den Übergang zu einem<br />

Gesundheitsprämienmodell korrigiert werden.<br />

450 Altersgestaffelte Pauschalprämien<br />

Krankheitskosten-<br />

400<br />

350<br />

300<br />

250<br />

verlauf<br />

200<br />

150<br />

175,– Euro Pauschalprämie<br />

100<br />

50<br />

0<br />

. . . . . . .<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Quelle: Universität Trier, ZfG<br />

Alter in Jahren<br />

© Prof. Dr. Eckhard Knappe<br />

Euro pro Monat<br />

➤<br />


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 16<br />

Aber auch bei Gesundheitsprämien, die nicht mit dem<br />

Lebensalter zunehmen, entsteht im Durchschnitt ab<br />

dem Alter von 55 Jahren eine Einnahmen-Ausgaben-<br />

Lücke. Ältere Versicherte bedeuten höhere Ausgaben<br />

bei zwar nicht sinkenden, aber auch nicht zunehmenden<br />

Beiträgen. Wenn die Zahl der älteren Versicherten<br />

im Verhältnis zur Zahl der jüngeren Versicherten zunimmt,<br />

muss die jüngere Generation zusätzlich belastet<br />

werden. Dieses Problem bleibt bei Gesundheitsprämien.<br />

Es sei denn, man korrigiert auch das.<br />

Das durchschnittliche Ausgabenprofil in einer Krankenversicherung<br />

zeigt, dass das Ausgabenrisiko im<br />

Lebensverlauf mit dem Alter – wie gesagt – um das<br />

Fünf- bis Achtfache zunimmt. Um die Jüngeren nicht<br />

mit diesen Ausgaben zu belasten, bieten sich zwei<br />

wettbewerbskompatible Wege an:<br />

Altersgestaffelte Pauschalprämien<br />

Eine Möglichkeit besteht darin, die Prämien an das<br />

durchschnittlich mit dem Alter steigende Ausgabenrisiko<br />

anzupassen, z.B. durch Gesundheitsprämien,<br />

die alle fünf Jahre nach Alterskohorten steigen (siehe<br />

Grafik S. 15).<br />

Junge Menschen (bzw. Familien) erhalten damit zwar<br />

eine deutliche Entlastung, später aber kommt eine<br />

erhebliche Belastung auf die Versicherten zu. Der in<br />

jedem Gesundheitsprämienmodell vorzusehende externe<br />

Sozialausgleich über Steuern und Transferzahlungen<br />

müsste dann auch unzumutbare Belastungen,<br />

die mit dem Alter auftreten, auffangen.<br />

Wenn Gesundheitsprämien nicht nach dem Alter<br />

gestaffelt werden, kann ein Wettbewerb der Krankenversicherungen<br />

nur dann funktionieren, wenn zwischen<br />

den Krankenkassen ein Risikostrukturausgleich<br />

(RSA) nach dem Kriterium „Alter“ eingeführt<br />

wird.<br />

Ein Risikostrukturausgleich hat aber selbst wiederum<br />

die Tendenz, den Wettbewerb zu behindern, weil –<br />

politisch – im Zeitablauf versucht werden wird, immer<br />

mehr Risikounterschiede durch Zahlungen zwischen<br />

den Krankenkassen auszugleichen. Letztlich führt<br />

das zu einer Einheitsversicherung, der jeglicher Wettbewerbsanreiz<br />

genommen wird.<br />

Kapitaldeckungsverfahren<br />

Die andere Möglichkeit besteht in einem Übergang<br />

zum Kapitaldeckungsverfahren, in dem jeder Einzelne<br />

durch „angesparte“ Beitragsanteile für höhere<br />

Ausgaben im Alter vorsorgt und damit Jüngere nicht<br />

belastet. Hier ergibt sich ein Übergangsproblem (Doppelbelastung<br />

der Übergangsgeneration), das schwierig<br />

zu lösen ist.<br />

Außerdem muss, wenn man die Wechselmöglichkeit<br />

zwischen den Versicherungen erhalten will, die Portabilität<br />

der Altersrückstellungen gewährleistet werden.<br />

Welchen Kapitalwert jedoch ein Wechsler zu einer<br />

anderen Versicherung „mitnehmen“ kann, ohne dass<br />

dadurch Fehlanreize entstehen, ist nicht leicht zu berechnen.<br />

Eingangs wurde bereits von drei ganz unterschiedlichen<br />

Wettbewerbsebenen im Gesundheitswesen<br />

gesprochen: Wettbewerb der Krankenkassen um Versicherte,<br />

Wettbewerb der Leistungserbringer um Patienten<br />

sowie Wettbewerb zwischen Versicherungen<br />

und Leistungserbringern um Versorgungs- und Entgeltverträge.<br />

Zweifacher Wettbewerb<br />

Bisher ging es um Wettbewerb der Versicherungen<br />

um Versicherte. In Bezug auf den Wettbewerb um<br />

Versorgungs- und Entgeltverträge, der heute politisch<br />

forciert werden soll, ergeben sich andere Probleme.<br />

Generell muss sich der Vertragswettbewerb aus dem<br />

Wettbewerb der Versicherungen um Versicherte und<br />

dem Wettbewerb der Leistungserbringer um Patienten<br />

ableiten, und zwar aus beiden gleichzeitig.<br />

Würde man sich allein oder auch nur schwerpunktmäßig<br />

auf den Wettbewerb der Leistungserbringer um<br />

die Nachfrage der Patienten konzentrieren, würden<br />

daraus rasch explodierende Beitragssätze resultieren.<br />

Solange die Nachfrage der Patienten aus den<br />

Zahlungen der Krankenkassen finanziert wird, haben<br />

sie ein Interesse an „allem, dem Besten und möglichst<br />

sofort“. Die dafür erforderliche Finanzierungssumme<br />

könnte niemand aufbringen.<br />

Dieser Wettbewerb müsste in jedem Fall durch einen<br />

„Finanzierungsdeckel“ eingefangen werden. Bisher<br />

wurde das über <strong>politische</strong> Maßnahmen zur Beitragssatzstabilität<br />

und direkte Budgetvorgaben sicherzustellen<br />

versucht. In Zukunft wird dies zunehmend<br />

durch das DRG-Entgeltsystem im Krankenhaus erfolgen.<br />

Hierbei handelt es sich um ein staatliches Festpreissystem,<br />

in dem der Budgetrahmen durch die<br />

Festlegung der „base rate“ politisch vorgegeben wird.<br />

Ein ähnliches Festpreissystem wird in Zukunft auch<br />

im Bereich der niedergelassenen Ärzte eingeführt<br />

werden, während der Arzneimittelsektor durch ein<br />

ständig verfeinertes Festbetrags-System ebenfalls<br />

staatlich gesteuert wird. Soll der Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />

gestärkt werden, müssten zumindest<br />

die DRG-Festpreise durch DRG-Höchstpreise ersetzt<br />

werden, deren tatsächliche Höhe z.B. im Vertragswege<br />

zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern<br />

ausgehandelt werden kann.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 17<br />

Einkaufsmodelle der Krankenkassen<br />

Die staatliche Steuerung könnte in Zukunft durch einen<br />

„Vertragswettbewerb“, einen Wettbewerb um Verträge<br />

zwischen Krankenkassen und „Gruppen von<br />

integrierten Versorgern“ um Entgelt- und Versorgungsverträge<br />

abgelöst werden. Das Wettbewerbsstärkungsgesetz<br />

(GKV-WSG) aus dem Jahr 2007<br />

sieht hier bereits eine gewisse Lockerung der Vertragsbedingungen<br />

vor. Zwei völlig unterschiedliche<br />

Arten von Versorgungsverträgen sind dabei zu unterscheiden.<br />

Indikationsbezogene Verträge beziehen<br />

sich auf Teilaspekte ärztlicher Behandlung und regeln<br />

neben Entgeltfragen vor allem Qualitäts- und Behandlungsstandards.<br />

Sie können in einem Vertragswettbewerbskonzept<br />

immer nur ergänzenden Charakter haben. Soll Vertragswettbewerb<br />

zur zentralen Steuerungsfunktion<br />

des Gesundheitssektors ausgebaut werden, müssen<br />

(vermehrt) „Einkaufsmodelle der Krankenkassen“ in<br />

Form populationsbezogener Verträge, in denen die<br />

Versorgung ganzer Bevölkerungsgruppen Zusammenschlüssen<br />

von Leistungserbringern übertragen<br />

wird, entwickelt werden. Diese Art von Vertragswettbewerb<br />

setzt aber eine bestimmte Organisation der<br />

Krankenkassen voraus.<br />

Wenn wir eine Einheitsversicherung hätten, wären<br />

über „Einkaufsmodelle“ populationsbezogene Versorgungskonzepte<br />

relativ einfach zu realisieren. Nachteil:<br />

die Leistungserbringer ständen im Wettbewerb einem<br />

monopolähnlichen Nachfrager gegenüber. Heute haben<br />

wir in Deutschland noch rund 200 Krankenkassen<br />

im Wettbewerb.<br />

Unternehmerisches Verhalten erfordert<br />

Fachkenntnisse<br />

Doch selbst wenn deren Zahl z.B. auf 30 sinken würde,<br />

kann sich eine einzelne Krankenkasse nur schwer<br />

auf die Versorgung ganzer Bevölkerungsgruppen<br />

konzentrieren. Eine Steuerung über populationsbezogene<br />

Versorgungsverträge setzt auf Seiten der Krankenkassen<br />

nennenswerte Marktanteile voraus und<br />

damit eine „oligopolistische Wettbewerbssituation“.<br />

Im Rahmen einer Steuerung des Gesundheitswesens<br />

über Versorgungsverträge übernehmen die Krankenkassen<br />

zunehmend die Verantwortung für Qualität<br />

und Kosten der Gesundheitsversorgung gegenüber<br />

ihren Versicherten. Das erfordert „unternehmerisches<br />

Verhalten“, es setzt auf Seiten der Krankenkassen<br />

mindestens so viel medizinische Sachkenntnis voraus,<br />

dass sie beurteilen können, was eine gute und<br />

preiswerte Versorgung ist.<br />

Erst wenn das der Fall ist, kann man wirklich auf<br />

Vertragswettbewerb setzen. Die Krankenkassen sind<br />

bisher de facto kaum in der Lage, das zu beurteilen,<br />

sie fangen erst langsam an, sich in diese Richtung zu<br />

bewegen.<br />

© gpk<br />

Kernthesen von Prof. Dr. Eckhard Knappe<br />

■ Grundsätzlich findet Wettbewerb im Gesundheitswesen<br />

auf zwei Ebenen statt: der des<br />

Wettbewerbs der Leistungserbringer um Patienten<br />

und der des Wettbewerbs der Krankenkassen<br />

um Versicherte. Durch die zusätzlichen<br />

Beziehungen der Krankenkassen mit den Leistungserbringern<br />

ergibt sich als dritte Ebene der<br />

Vertragswettbewerb.<br />

■ Wettbewerb allein als Vertragswettbewerb<br />

ist ohne Versicherungswettbewerb nicht funktionsfähig<br />

– allein schon deshalb, weil dann die<br />

Anreize für den Vertragswettbewerb fehlen.<br />

■ Ein Wettbewerb der Leistungserbringer um<br />

die Patienten ist ohne Restriktionen auf der<br />

finanziellen Ebene nicht funktionsfähig – der<br />

Patient will das Beste, sofort, zu jedem Preis,<br />

was dem Einkommensinteresse der Leistungserbringer<br />

entgegenkommt.<br />

■ Versicherungswettbewerb ist ohne kostendeckende<br />

Risikoprämien unvollständig (also bei<br />

lohnbezogenen Beiträgen unmöglich). Die Risikoprämien<br />

müssen auch die existenziellen Risiken<br />

der einzelnen Versicherten im Lebensverlauf<br />

beinhalten. Risikoprämien entsprechen<br />

dann weitgehend dem Gesundheitsprämienmodell.<br />

■ Das generelle Altersverlaufsrisiko sollte<br />

man aus der solidarischen Krankenversicherung<br />

herausnehmen und z.B. über eine alterskohorten-spezifische<br />

Gesundheitsprämie finanzieren.<br />

■ Gesundheitsprämien generell, also auch<br />

Gesundheitsprämien nach Alterskohorten, setzen<br />

einen externen Sozialausgleich nach Einkommen<br />

und Familiengröße über Steuern und<br />

direkte Transferzahlungen voraus. Nur ein<br />

externer Sozialausgleich könnte die zentralen<br />

Widersprüche der heutigen Umverteilung, die<br />

über lohnbezogene Beiträge der Krankenkassen<br />

versucht wird, vermeiden.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 18<br />

Der mündige Patient<br />

Eine deutliche Mehrheit will an Entscheidungen zu Diagnostik und Therapie beteiligt sein<br />

Von Marie-Luise Dierks<br />

Die Ausgangsfragen sind: Was muten wir den Menschen<br />

zu, wenn wir über Wettbewerb auf unterschiedlichen<br />

Ebenen im Gesundheitswesen reden? Welche<br />

Unterstützung brauchen Menschen, um sich in einem<br />

so gestalteten Gesundheitswesen zurechtzufinden?<br />

Dass der Wettbewerb voranschreitet, ist unübersehbar<br />

und für Patienten zunehmend spürbar. Elemente<br />

wie zunehmende Selbstbeteiligung, Wahlfreiheit, Individuelle<br />

Gesundheitsleistungen (IGeL), verdeckte<br />

oder offene Werbung sind nur einige Aspekte dieser<br />

Ausrichtung, die die Patienten, Versicherten und Bürger<br />

tangieren.<br />

Die Menschen werden auf verschiedene Weise als<br />

Kunden betrachtet, auch wenn, wie wir inzwischen<br />

wissen, der Kundenbegriff nicht vollständig greift, weil<br />

die Nutzer nicht über alle typischen Kundenmerkmale<br />

verfügen und zudem der besondere Charakter des<br />

Gutes „Gesundheit“ bei einer rein marktorientierten<br />

Sichtweise nicht hinreichend gewürdigt wird.<br />

So haben die Anbieter von Gütern im Gesundheitswesen<br />

in der Regel bessere Informationen als die Nachfrager,<br />

den Nutzern fehlen individuelle Vergleichsmöglichkeiten,<br />

die Qualität der Leistungen der Anbieter<br />

ist intransparent. Hinzu kommt, dass angesichts<br />

der Situation, dass der Arzt durch seinen Wissensvorsprung<br />

die wesentlichen Nachfragen nach medizinischer<br />

Leistung selbst festlegt und zugleich das Leistungsangebot<br />

bereitstellt, der Marktmechanismus<br />

aufgehoben wird.<br />

Dennoch, insofern Behandlung ihren Preis hat und<br />

Ärzte und andere Leistungserbringer darüber ihr Einkommen<br />

erwerben, war und ist der Patient im ökonomischen<br />

Sinne Kunde. Zumindest in dieser Hinsicht<br />

ist die Behandlung gesundheitlicher Beeinträchtigungen<br />

eine Dienstleistung wie jede andere.<br />

Einen gewissen Charme hat für den Patienten jener<br />

„Kunden“-Aspekt, der ihm nahelegt: Ich werde als<br />

Patient „Kunde“ und somit wie der König oder die<br />

Königin behandelt und ich kann über mein Wahlverhalten<br />

Einfluss auf Inhalt und Qualität des Angebots<br />

nehmen. Dass die reale Versorgungspraxis bislang<br />

leider nicht immer dieses Bild zeichnet, brauche ich<br />

an dieser Stelle nicht zu unterstreichen.<br />

Patient ist kein Kunde<br />

Menschen im Gesundheitswesen kommen aus unterschiedlichen<br />

Anlässen und in unterschiedlichen Situationen<br />

in Kontakt mit den Versorgungseinrichtungen.<br />

Wir haben es auf der einen Seite mit relativ<br />

gesunden Personen zu tun, die nur punktuell Kontakt<br />

zum Gesundheitswesen haben. Auf der anderen Seite<br />

des Kontinuums finden wir die schwer kranken und<br />

sterbenden Menschen, die ganz andere Bedürfnisse<br />

haben und ganz besonders auf Unterstützung und<br />

Hilfe angewiesen sind.<br />

Wie sehen die Menschen selbst ihre Rolle im Gesundheitswesen?<br />

Wollen sie sich als Kunden, als Konsumenten<br />

sehen? Interessant sind hier die Ergebnisse<br />

einer kanadischen Studie, in der man systematisch<br />

Wollen Patienten Konsumenten sein?<br />

Hohe und sehr hohe Zustimmung<br />

Patient 79,2 %<br />

Klient 14,4 %<br />

Partner 14,9 %<br />

Konsument (Consumer) 4,0 %<br />

Überlebender (Survivor) 21,8 %<br />

Kunde (Costumer) 0,0 %<br />

Deber RB, Kreaetschner N, Urowitz S, Sharpe N.<br />

Patient, consumer, client or costumer: What do<br />

people want to be called? Health expectations<br />

2005 (chronisch Kranke in Kanada)<br />

Dierks ML, Medizinische Hochschule Hannover,<br />

Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitsforschung


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 19<br />

die Bevölkerung befragt hat, wie sie selbst im Erkrankungsfall<br />

bezeichnet werden will.<br />

Dabei zeigt sich, dass „Patient“ die Bezeichnung ist,<br />

bei der sich die Menschen, die das Gesundheitswesen<br />

in Anspruch nehmen, am wohlsten fühlen. „Konsument“<br />

wollen nur ganz wenige genannt werden und<br />

– besonders interessant – „Kunde“ will keiner genannt<br />

werden.<br />

Das konnten wir auch im Rahmen von Gruppendiskussionen,<br />

die wir mit deutschen Patienten durchgeführt<br />

haben, bestätigen. Auf die Frage: „Wollen Sie im<br />

Gesundheitswesen als Kunde betrachtet werden?“<br />

wurden überwiegend abwehrende Argumente vorgebracht.<br />

Die Ängste, dass der Profit im Mittelpunkt der Versorgung<br />

steht und nicht mehr der Mensch, dass das<br />

Interesse der Versorger am Wohlergehen der Erkrankten<br />

eher vordergründig ist, dass das Verhältnis<br />

von Arzt und Patient eher technisch und autokratisch<br />

wird, dass Therapieempfehlungen eher eine lukrative<br />

Erwerbsquelle für Ärzte darstellen – ich werde es<br />

noch anhand der IGeL-Leistungen darstellen – wurden<br />

offensichtlich.<br />

Die Patienten befürchten, dass ihr Bedürfnis, im Erkrankungsfall<br />

eine auf ihre Erkrankung und ihre spezielle<br />

Situation zugeschnittene Behandlung zu erhalten<br />

und sich darauf verlassen zu können, dass Ärzte<br />

fürsorglich mit ihnen umgehen, unter dieser Diktion<br />

verloren gehen könnte.<br />

Und immer wieder wird – zu Recht – die Frage gestellt:<br />

Was geschieht mit den vulnerablen Gruppen, mit den<br />

Menschen, die nicht gut gebildet sind und sich nicht<br />

selbstbewusst in einem Markt Gesundheitswesen<br />

bewegen können? Dass Verkaufsaspekte immer<br />

mehr in die Arzt/Patient-Beziehung eindringen, zeigt<br />

sich nicht zuletzt an der kontinuierlichen Zunahme der<br />

angebotenen IGeL-Leistungen.<br />

Hier kommt ein „Verkaufselement“ in die Arzt/Patient-<br />

Beziehung, das bei den Patienten zu einer starken<br />

Verunsicherung führt: „Wurde die Leistung angeboten,<br />

weil sie gut für mich ist, oder wurde sie angeboten,<br />

weil sie gut ist für denjenigen, der die Leistung<br />

durchführt?“<br />

Diese Form der Interaktion zwischen Arzt und Patient<br />

ist neu. Plötzlich müssen Patienten lernen, sich wie<br />

Kunden zu verhalten, nämlich sich sehr genau darüber<br />

zu informieren, ob die angebotene Leistung im<br />

eigenen Fall wirklich sinnvoll ist. Möglicherweise geht<br />

so auch ein Stück Vertrauen in die ärztliche Versorgung<br />

und die ärztliche Ethik in diesem Zusammenhang<br />

verloren.<br />

Der mündige Patient, der Partner im Gesundheitssystem<br />

ist in aller Munde, wir muten den Menschen<br />

inzwischen eine ganze Menge zu. Der Mensch soll<br />

sich zurechtfinden im Gesundheitswesen, er soll verstehen,<br />

was ihm geraten wird, er soll die adäquate<br />

Behandlungseinrichtung finden, sich entscheiden, zu<br />

welchem Arzt, in welches Krankenhaus er geht, in<br />

welcher Krankenkasse er sich versichern lässt, er soll<br />

über Zusatzversicherungen nachdenken, seine Rechte<br />

kennen und einfordern, seine Interessen vertreten,<br />

sich aktiv an Entscheidungen beteiligen usw.<br />

Anforderungen an den mündigen Nutzer<br />

des Gesundheitssystems<br />

■ Sich im Gesundheitssystem zurechtfinden<br />

■ Verstehen, interpretieren und analysieren<br />

von Informationen zu Gesundheit und<br />

Krankheit<br />

■ Adäquate Entscheidungen in bezug auf den<br />

Leistungsumfang von Krankenversicherungen<br />

treffen<br />

■ Die adäquate Behandlungseinrichtung finden<br />

■ Patientenrechte kennen und einfordern<br />

■ Patienteninteressen vertreten<br />

■ Sich aktiv an Entscheidungen beteiligen<br />

■ Informierte Entscheidungen treffen<br />

Dierks ML, Medizinische Hochschule Hannover,<br />

Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitsforschung<br />

Das sind ziemlich viele Anforderungen und wir können<br />

uns auch vorstellen, dass nicht jeder Mensch<br />

gleichermaßen diese Art von Anforderungen tatsächlich<br />

bewältigen kann.<br />

Unbestritten ist, dass die Menschen sich einbringen<br />

wollen in Entscheidungen im Gesundheitssystem.<br />

Eine europäische Vergleichsstudie hat untersucht,<br />

wie die Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungen in<br />

Bezug auf ihre Diagnostik und Therapie beteiligt sein<br />

wollen. Ergebnis ist, dass knapp 90 Prozent der Befragten<br />

in Deutschland ein hohes Interesse daran<br />

haben, gemeinsam mit ihrem Arzt Entscheidungen zu<br />

treffen.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 20<br />

Professionelle unterschätzen die Partizipationsbereitschaft<br />

der Patienten<br />

Dass dies beeinflusst ist durch eine ganze Reihe von<br />

Variablen, wie Alter, Sozialschicht usw., müssen wir<br />

an dieser Stelle nicht unterstreichen. Interessant ist,<br />

dass nur 44,8 Prozent der Befragten angeben, dass<br />

dieser Wunsch in konkreten Behandlungskontakten<br />

auch tatsächlich akzeptiert wird. Zwischen dem, was<br />

die Menschen wünschen, und dem, wie die Professionellen<br />

darauf reagieren, klafft offenbar eine ziemliche<br />

Lücke.<br />

Interessant ist in diesem Zusammenhang der kulturelle<br />

Vergleich. Die Bereitschaft, sich auf eine aktive<br />

Rolle als Patient einzulassen, ist in Spanien und Polen<br />

deutlich geringer als in Deutschland.<br />

Diese und ähnliche Studien zeigen: Die Partizipationsbereitschaft<br />

der Menschen wird von den Professionellen<br />

deutlich unterschätzt und kaum abgefordert.<br />

Das bedeutet: Wir brauchen eine neue Kommunikationskultur<br />

im Gesundheitswesen. Wir brauchen gezielte<br />

Ermutigung für die Menschen, sich aktiv einzubringen.<br />

Nicht jeder Patient hat von sich aus die Fähigkeit,<br />

seine Bedürfnisse zu artikulieren. Was wir sicherlich<br />

auch brauchen – und damit sind wir wieder auf der<br />

Ebene der Systemfragen – sind finanzielle Anreize<br />

für eine gesprächsorientierte Medizin und eine konsequente<br />

Patientenorientierung als Leitmotiv in der<br />

Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe.<br />

Es gibt Merkmale für die Kompetenz des Patienten,<br />

sich im Gesundheitssystem zu bewegen. Das entsprechende<br />

Stichwort in der theoretischen Debatte<br />

heißt „health literacy“. Ausgangsfrage ist: Wie gut ist<br />

jemand in der Lage, sich und seine Interessen nicht<br />

nur zu vertreten, sondern gesundheitsbezogene Themen<br />

überhaupt zu verstehen?<br />

„Health literacy“ als Begriff kommt aus den USA und<br />

setzt sich aus verschiedenen Aspekten zusammen.<br />

Ein Patient muss zunächst das Notwendige hören und<br />

verstehen können, er muss auch geschriebene Texte<br />

verstehen können usw. Wettbewerb setzt voraus,<br />

dass Menschen in der Lage sind, Material, das sie für<br />

ihre Entscheidung brauchen, erstens zu finden, zweitens<br />

zu lesen und drittens wirklich zu verstehen.<br />

In den USA beispielsweise sind mehr als 50 Prozent<br />

der Menschen nicht in der Lage, einfache Informationen<br />

zu verstehen. Man hofft, dass es in Deutschland<br />

besser aussieht, aber einige Studien lassen uns, gerade<br />

was die prospektive Entwicklung angeht, nicht<br />

unbedingt optimistisch sein.<br />

Jedenfalls brauchen wir, wenn wir Wettbewerb wollen,<br />

deutliche Anstrengungen, die „health literacy“ der<br />

Menschen entscheidend zu verbessern. Das geht<br />

natürlich zunächst über Information. Es gibt eine Fülle<br />

von Informationen auf der einen Seite – wir diskutieren<br />

sogar über einen Informations-Overload –, auf der<br />

anderen Seite ist die Qualität sehr heterogen.<br />

Wir müssen also mehr als bisher die Information so<br />

aufbereiten, dass sie auch diejenigen verstehen können,<br />

die nicht auf einem hohen „health literacy“-Level<br />

sind. Wir müssen auf die unterschiedlichen Informationstypen<br />

eingehen, auf diejenigen, die sehr viel Information<br />

wollen, und auch diejenigen, die Entscheidungen<br />

vollständig ihrem Arzt überlassen möchten<br />

und nur wenige, ausgewählte Informationen wünschen.<br />

Deutschland Schlusslicht bei Information<br />

und Kommunikation<br />

Wie sieht es mit der Informationsvermittlung, einem<br />

zentralen Bedürfnis der Patienten, in Deutschland<br />

aus. In einer international vergleichenden Studie des<br />

Commonwealth Fund hat Deutschland, wenn es um<br />

den Zugang zu medizinischen Leistungen geht, sehr<br />

gute Ergebnisse erzielt. Wir haben hierzulande sehr<br />

kurze Wartezeiten, eine gute Versorgung von chronisch<br />

kranken Patienten, zeitnahe Befunde und eine<br />

niedrige Rate von Infektionen im Krankenhaus.<br />

Allerdings ist Deutschland Schlusslicht bei der Koordination<br />

von Leistungserbringern und Sektoren, im Entlassungsmanagement<br />

und im Bereich der Information<br />

und Kommunikation. Was die Menschen sich wünschen<br />

und häufig schmerzhaft vermissen sind Information,<br />

Kommunikation und das Eingehen auf ihre<br />

Bedürfnisse.<br />

Hier brauchen wir zukünftig deutlich mehr Anstrengungen<br />

im System, diese Bedürfnisse tatsächlich zu<br />

realisieren. Dazu zählen Anreizsysteme für Professionelle,<br />

möglicherweise neue Berufsprofile, aber auch<br />

der Ausbau niedrigschwelliger, leicht zugänglicher<br />

und verständlicher Informationsangebote. Patienten<br />

müssen Zugang zu guten, möglichst evidenz-basierten<br />

Informationen haben, und sie brauchen Unterstützungsinstanzen,<br />

die ihnen bei der Aneignung von<br />

Informationen helfen.<br />

Ein weiteres, zentrales Bedürfnis der Menschen ist<br />

der Wunsch nach Transparenz über die Qualität der<br />

Versorgung. Patienten wollen wissen, wie gut die<br />

Leistungserbringer sind, an wen sie sich im Krankheitsfall<br />

wenden können. Auch wenn wir zur Zeit noch<br />

keine genauen Kenntnisse darüber haben, wie Transparenzinformationen<br />

tatsächlich genutzt würden und


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 21<br />

welchen Einfluss auf die Wahl einer Einrichtung entsprechende<br />

Informationen haben, sollte der Ausbau<br />

vorangetrieben werden.<br />

Neue Kommunikationskultur erforderlich<br />

Wenn Patientenorientierung ernst genommen wird,<br />

brauchen Patienten Teilhabe, verständliche Informationen,<br />

adäquate Kommunikationsformen, Transparenz<br />

über die Qualität und Transparenz über das, was<br />

im Gesundheitswesen passiert. Was sie zudem brauchen,<br />

sind unterstützende Instanzen, die sie dann in<br />

Anspruch nehmen können, wenn sie Probleme haben,<br />

wenn sie dezidierte Fragen haben, wenn sie sich<br />

zum Beispiel über Ärzte oder ihre Krankenkassen<br />

beschweren möchten.<br />

Als Beispiel sind hier die unabhängigen Patientenberatungsstellen<br />

zu nennen. Die Berater sind Lotsen im<br />

Gesundheitswesen, geben Adressen weiter und helfen<br />

Patienten, wenn sie sich beschweren wollen, Hilfe<br />

bei Widersprüchen brauchen oder sich in einer psychischen<br />

Notsituation befinden. Diese Beratungsmöglichkeiten<br />

müssen ausgebaut werden. Außerdem<br />

brauchen wir Unterstützungsstrukturen besonders für<br />

die vulnerablen Gruppen, z.B. für Menschen in Altenund<br />

Pflegeheimen.<br />

Daraus folgt für Partizipation<br />

■ Neue Kommunikationskulturen in den Institutionen<br />

des Gesundheitswesens<br />

■ Ermutigung der Patienten, sich aktiv an Entscheidungen<br />

zu beteiligen<br />

■ Finanzielle Anreize für gesprächsorientierte<br />

Medizin<br />

■ Konsequente Patientenorientierung als Leitthema<br />

für Aus-, Fort- und Weiterbildung in<br />

den Gesundheitsberufen<br />

Dierks ML, Medizinische Hochschule Hannover,<br />

Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitsforschung<br />

Um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu<br />

erhöhen, braucht es neben diesen Beratungsinstanzen<br />

aber auch Angebote, die eher im Bildungsbereich<br />

angesiedelt sind. Ein Beispiel – und Werbung in eigener<br />

Sache: Wir haben an der Medizinischen Hochschule<br />

Hannover die Patienten-Universität gegründet.<br />

In ihrem Rahmen laden wir Menschen der Region zu<br />

strukturierten Bildungsveranstaltungen über die<br />

Funktionsweise des menschlichen Körpers und damit<br />

verbundene Aspekte ein.<br />

Hier nur einige Impressionen: Im großen Hörsaal treffen<br />

sich 300 Menschen, die sich für das Thema Gesundheit<br />

interessieren. Nach einem Expertenvortrag<br />

haben sie an Lernstationen die Möglichkeit, Medizin<br />

zum Anfassen zu erleben, gleichzeitig Informationen<br />

zu Patientenrechten und weiteren relevanten Themen<br />

zu bekommen.<br />

Wir wollen den Dialog zwischen Medizinern und (potenziellen)<br />

Patienten zu einem Zeitpunkt fördern, wo<br />

beide sich in einer ganz neuen Situation befinden,<br />

nämlich auf gleicher Augenhöhe. Das ist für beide<br />

eine interessante Lernerfahrung. Wir sind davon überzeugt,<br />

dass Modelle, wie die Patienten-Universität,<br />

dazu beitragen können, dass Menschen sich in einem<br />

Gesundheitssystem, das zudem wettbewerbliche Elemente<br />

enthält, besser als vorher zurechtzufinden.<br />

© gpk<br />

Kernthesen von Prof. Dr. Marie-Luise Dierks<br />

■ Patienten selbst verstehen sich nur in Ausnahmefällen<br />

als „Kunde“. Sie kaufen keine Leistung<br />

ein – sie lassen sich behandeln. Sie sind<br />

Patienten mit dem Anspruch, mit ihren Bedürfnissen<br />

akzeptiert und nicht lediglich als zahlende<br />

Kunden betrachtet zu werden.<br />

■ Menschen wollen ernst genommen werden<br />

und sich aktiv an Entscheidungen über ihre<br />

Gesundheitsversorgung beteiligen.<br />

■ Die Bereitschaft und Fähigkeit der Patienten,<br />

eine aktive Rolle zu übernehmen, wird von<br />

vielen Professionellen noch deutlich unterschätzt<br />

und zu wenig akzeptiert.<br />

■ Wir brauchen eine neue Kommunikationskultur<br />

im Gesundheitswesen. Wir brauchen aktive<br />

Ermutigung und Unterstützung für die Menschen<br />

sich zu beteiligen. Das muss deutlich<br />

intensiver als bisher in die Curricula der Gesundheitsprofessionen<br />

integriert werden.<br />

■ Wettbewerb, dem die Patienten ausgesetzt<br />

werden, bedingt, dass Menschen in die Lage<br />

versetzt werden, Informationen, die sie für Entscheidungen<br />

brauchen, zu finden und in ihrer<br />

Reichweite wirklich zu verstehen.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 22<br />

Grenzen der Ökonomisierung<br />

Schleichende Rationierung im GKV-System muss offen und ehrlich thematisiert werden<br />

Von Ekkehard Ruebsam-Simon<br />

Die folgenden Ausführungen gliedern sich in drei Teile:<br />

Im ersten Teil gehe ich auf die Grundfragen ein, im<br />

zweiten beschreibe ich den Istzustand, im dritten Teil<br />

zeichne ich die Perspektiven auf.<br />

Die Grundfragen<br />

Da ist zunächst die Rolle des Arztes, die wir mitbedenken<br />

sollten, wenn wir über ökonomische Themen<br />

sprechen. Wir müssen sie im Hinterkopf haben, sonst<br />

wird die Diskussion zu flach. Sind Ärzte Treuhänder<br />

oder letztes Glied der Wertschöpfungskette im Gesundheitsmarkt?<br />

Befragt man die rechtlichen Grundlagen der ärztlichen<br />

Tätigkeit, so lesen wir in der Bundesärzteordnung<br />

Paragraph 1: „1., der Arzt dient der Gesundheit<br />

des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes.<br />

2., der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe, er ist seiner<br />

Natur nach ein freier Beruf.“<br />

Damit könnte man eigentlich schließen. Denn nach<br />

den Worten dieser Grundlegung haben Ärzte mit so<br />

etwas Degoutantem wie einem Gewerbe nichts zu<br />

tun. Die Wirklichkeit ist anders, das wissen wir alle.<br />

Ohne Ökonomie, das heißt, ohne wirtschaftliche und<br />

betriebswirtschaftliche Basierung können wir uns die<br />

Ethik zunehmend nicht mehr leisten.<br />

Einige weitere kursorische Bemerkungen zur Rolle<br />

des Arztes und der besonderen Beziehung zum Patienten:<br />

Neben dem Priester ist der Arzt der älteste<br />

Beruf. Es gibt praktisch keine menschliche Gemeinschaft<br />

ohne Heilkundige. Zu Ärzten werden Heilkundige<br />

aber erst in Hochkulturen, also in Gesellschaften,<br />

in denen Geld vorhanden ist, eine „Kaste“ zu<br />

bezahlen.<br />

Unabhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen<br />

Prägung und Umgebung handeln Ärzte mit endgültigen<br />

Dingen. Darin beruht ihre besondere Position und<br />

ihre Macht in den verschiedenen Gesellschaften, unabhängig<br />

davon, ob sie theologisch aufgeladen sind<br />

oder nicht.<br />

Ein Arzt wird wie der Priester mit existenziellen Problemen<br />

befasst. Biologische Radikale, Krankheit, Antizipation<br />

des eigenen Todes, Tod des anderen sind<br />

Grenzerfahrungen, die man aushalten muss und die<br />

erfahren werden. Das sind die Dinge, mit denen wir zu<br />

tun haben, und das beschreibt den sozialen und psychologischen<br />

Unterbau, auf dem Ärzte stehen.<br />

Jeder Arzt steht in der Folge oder einer Nachfolge<br />

unzähliger Ärztegenerationen und darin hat die Arzt-<br />

Patienten-Beziehung ihre emotionale archaische<br />

Wurzel. Der Arzt ist sozusagen qua Behandlungsauftrag<br />

selbstverständlich der Treuhänder des Patienten.<br />

Er ist gebunden zu helfen und zu heilen.<br />

In diesem Zusammenhang ist die Verschwiegenheit<br />

in der Arzt-Patienten-Beziehung, also die ärztliche<br />

Schweigepflicht, der Kitt, der diese Elemente zusammenhält.<br />

Ein Angriff auf sie zerstört etwas Grundlegendes.<br />

Das ist einer der Gründe, warum die Ärzte bei<br />

der E-Card und all diesen Themen, die damit verbundenen<br />

sind, wie Internettechnologie, so sensibel reagieren.<br />

Hier wird etwas ganz Entscheidendes in Frage<br />

gestellt.<br />

Der Istzustand<br />

1. Trotz der Überzeugung von vielen, das deutsche<br />

Gesundheitssystem könnte wettbewerblich organisiert<br />

werden, bezweifele ich das grundsätzlich. Ein<br />

System, das Sachleistungen verkauft und darüber<br />

noch soziale Ausgleichsfunktionen betreibt, ist im eigentlichen<br />

Sinne nicht ökonomisierbar. Weder der<br />

EBM 2000 plus noch der nächste 2008 können betriebswirtschaftliche<br />

Vernunft hineinbringen.<br />

2. Die Preise ärztlicher Dienstleistungen entsprangen<br />

bisher eher einer philosophischen Schätzometrie<br />

als einer durchgerechneten Vollkostenkalkulation, in<br />

der ärztliche Arbeitszeit und unternehmerisches Risiko<br />

adäquat abgebildet werden. Hier hatten und haben<br />

wir <strong>politische</strong> Preise, die dem Diktat der Beitragssatzstabilität<br />

gehorchen. Es darf alles geleistet werden,


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 23<br />

nur nicht teurer als bisher. Das ist die fundamentale<br />

Logik.<br />

Nach 15 Jahren Budgetierung haben wir inzwischen<br />

eine etwa 30-prozentige Unterdeckung des ambulanten<br />

Systems erreicht. Die Möglichkeiten der Ärzte, als<br />

ökonomisch potente Player aufzutreten, sind damit<br />

sehr stark begrenzt. Auf den Punkt gebracht, es fehlt<br />

schlicht das Geld für Investitionen.<br />

3. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) mutierten<br />

nach den letzten Reformen zu staatlich dominierten<br />

Unterorganisationen, die mit der Selbstverwaltung<br />

im umfassenden Sinne kaum noch etwas zu<br />

tun haben.<br />

Durch strukturelle Veränderungen, Professionalisierung,<br />

Entzug von Funktionen, die ihr „Kerngeschäft“<br />

betreffen – also Integrationsverträge, §-73-Verträge<br />

(Hausarztverträge) usw. – wurden sie, politisch gewollt,<br />

geschwächt und spielen deshalb gegenüber<br />

den Krankenkassen eindeutig den untergeordneten<br />

Part. Die Kräfteverhältnisse haben sich verschoben,<br />

sie wurden bewusst in diese Richtung gebracht.<br />

4. Not tut die Entwicklung qualitäts- und kostengerechter<br />

Vergütungssysteme, die auf einer Kosten-/<br />

Leistungs-Rechnung beruhen wie in der freien Wirtschaft.<br />

Legt man diesen Maßstab an, sind zahlreiche<br />

ärztliche Praxen schon längst nicht mehr rentabel. Sie<br />

existieren unter ständiger maximaler Ausbeutung der<br />

eigenen Arbeitskraft, vielfach finanziert der Arzt sich<br />

allenfalls seinen eigenen Arbeitsplatz, mehr nicht.<br />

In vielen Praxen arbeitet die Ehefrau zu reduziertem<br />

Lohn oder gar kostenfrei mit, es gibt Praxen, wo sogar<br />

die Putzarbeiten von der Arztfamilie übernommen<br />

werden, damit die Fixkosten gesenkt werden können.<br />

Angemessene Vergütungssysteme würden die Versorgung<br />

allerdings erheblich verteuern.<br />

5. Im Folgenden einige Beispiele für die jetzige<br />

Preiskalkulation. Grundlage ist eine Patientenquittung<br />

aus dem August 2007 zu realen Punktwerten, die ich<br />

jetzt geltend gemacht habe: ein Arztbesuch: 15,20<br />

Euro, Wegepauschale 2 bis 5 km: 3,20 Euro, eine<br />

Konsultation durch den Arzt zeitlich nicht begrenzt:<br />

1,33 Euro, ein EKG: 8,36 Euro, Ultraschalluntersuchung<br />

des Abdomens: 16,15 Euro. Das heißt, bundesweit<br />

liegt die Arztstunde zwischen 20 und 40 Euro<br />

über alle Fachgebiete. Jeder kann das mit einer Handwerkerstunde<br />

vergleichen.<br />

Konsequenz dieser Vergütungsstrukturen ist die<br />

hochgetaktete Fließbandmedizin, das heißt, nur<br />

durch Masse und Geschwindigkeit lässt sich ein an-<br />

nehmbares Honorar für den Arzt erwirtschaften. Das<br />

gilt umso mehr für techniklastige Bereiche der Medizin.<br />

Die von allen gewünschte sprechende Medizin<br />

bleibt extrem unterbezahlt, lohnt sich, betriebswirtschaftlich<br />

betrachtet, nicht.<br />

6. Die fortlaufenden Budgetierungen haben zu einem<br />

dramatischen Punktwertverfall geführt und viele<br />

Praxen an den Rand des Konkurses gedrängt. Das<br />

heißt, mit der durch Sozialgerichte und Politik ausgelösten<br />

Inflation des Leistungsversprechens wird die<br />

kassenärztliche Selbstverwaltung mit einem Leistungsvolumen<br />

ohne realistische Gegenkalkulation<br />

konfrontiert.<br />

Leider wollen weder Gesundheitspolitiker noch die<br />

ärztliche Selbstverwaltung – ich schließe unsere eigenen<br />

Leute ein – die Verantwortung für die eigentlich<br />

notwendige Kürzung des Leistungskatalogs übernehmen.<br />

Das ist aber der eigentliche Knackpunkt – wir<br />

sprechen nicht über die Belastung durch den medizinischen<br />

Fortschritt. Der wird ungeheuer teuer.<br />

Die Politik geht den Weg der heimlichen Rationierung<br />

von Gesundheitsdienstleistungen. Die Verantwortung<br />

dafür wird großzügig den Ärzten in Klinik und Praxis<br />

überlassen und die können sich dann mit Patienten<br />

und Versicherten gefälligst auseinandersetzen.<br />

7. Im ambulanten Bereich werden durch ausgeklügelte<br />

Pressionsinstrumente die Ärzte unter ständigen<br />

Regressdruck gesetzt. Sie haften mit ihrem Einkommen<br />

für die Fehler der Politik. Das Ganze wird<br />

dann auch noch mit dem Etikett der wirtschaftlichen<br />

Vernunft bemäntelt. Zurzeit läuft eine Regresswelle<br />

über Deutschland, deren Ausmaße sich viele gar<br />

nicht vorstellen können. Hunderttausende von Euro<br />

an Forderungen gegenüber Ärzten, die angeblich<br />

zu viel verordnet haben. Meistens fällt das in sich<br />

zusammen, aber es ist unerträglich. Es gibt Wirtschaftlichkeitsprüfung,<br />

Plausibilitätskontrollen, Fallzahlzuwachsbegrenzungen,<br />

Arznei- und Heilmittelbudget,<br />

Laborbudget usw. usw.<br />

Die Krankenkassen liefern – oft mit etlichen Monaten<br />

Verzögerung – Daten zu den Medikamentenkosten.<br />

Zeitnahe Informationen fehlen oft gänzlich. Was und<br />

wie soll der Arzt hier steuern? Wo bleibt die Therapiefreiheit,<br />

wenn Dutzende kaum überschaubare Rabattverträge<br />

das Handeln begrenzen.<br />

Der Arzt, der sein aut idem-Kreuzchen nicht auf das<br />

Rezept setzt, ist in meinen Augen ein Dummkopf. Er<br />

haftet für ein Medikament, das der Apotheker herausgibt.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 24<br />

8. Eine verrückt gewordene Bürokratie frisst inzwischen<br />

20 bis 40 Prozent der täglichen Arbeitszeit<br />

eines niedergelassenen Arztes. Darin liegt meines<br />

Erachtens der wesentliche Grund für die innere Kündigung<br />

vieler Ärzte. Am 14. September 2007 meldete<br />

die Ärztekammer Nordrhein, jeder fünfte junge Arzt<br />

leide an Burnout.<br />

Die Zufriedenheit mit dem Beruf sinkt dramatisch.<br />

Viele junge Ärzte gehen ins Ausland. Ältere arbeiten<br />

am Wochenende in Großbritannien. Das heißt, die<br />

Überalterung der niedergelassenen Ärzteschaft, insbesondere<br />

der Hausärzte, führt demnächst zu einer<br />

Art Systemausstieg im Bypass.<br />

9. Durch rigide Budgetierung und schleichende Rationierung<br />

koppelt sich Deutschland vom medizinischen<br />

Fortschritt ab. Viele Pharmahersteller verlassen<br />

ganz allmählich den deutschen Markt. Es gibt<br />

erhebliche Mängel in der Versorgung geriatrischer<br />

Patienten, Schmerzpatienten, Demenzkranken, Psychotiker,<br />

Depressiven.<br />

In diesen Bereichen, in denen vorwiegend innovative<br />

hochpreisige Medikamente angewendet werden,<br />

fürchten viele Ärzte die Regresse und vermeiden dieses<br />

Thema, indem sie einfach ausweichen. Dieses<br />

Verschreibungsverhalten hat nur bedingt etwas mit<br />

Qualität zu tun, ein großer Teil ist Ergebnis der Angst<br />

vor Regressen.<br />

Zusammenfassend: Es ist äußerst zweifelhaft, ob wir<br />

längerfristig in einer globalisierten Wirtschaft unsere<br />

Art des Gesundheitswesens, die auf einer sozialistischen<br />

Insel, die noch auf Tauschwirtschaft beruht,<br />

leisten können. Ich denke, wir brauchen andere Konzepte.<br />

Die Perspektiven<br />

1. Der geplante Gesundheitsfonds wird das Wettbewerbsproblem<br />

für die niedergelassenen Ärzte verschärfen.<br />

Die Abkoppelung der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

(GKV) vom Wirtschaftswachstum bleibt<br />

weiterhin erhalten. Das nominale Bruttoinlandsprodukt<br />

wuchs 2006 um 4,2 Prozent, während die Beitragseinnahmen<br />

der Krankenkassen um 0,5 Prozent<br />

zulegten.<br />

Da diese auf einen einheitlichen Hebesatz festgelegt<br />

werden, kann es nur einen Wettbewerb in verschiedenen<br />

Tarifen geben und beim Einkaufen von Dienstleistungen.<br />

Um Zusatzbeiträge zu vermeiden, werden<br />

die Krankenkassen die Einkaufskosten durch Einzelverträge<br />

immer mehr drücken und ein Dumping bei<br />

den Leistungserbringern auslösen.<br />

Die AOK hat angekündigt, das Kollektivvertragssystem<br />

mittelfristig durch dieses Instrumentarium ablösen<br />

zu wollen. Das ist die Kündigung des bestehenden<br />

Systems. Damit verlieren die KVen ihre Funktion<br />

langfristig. Das ist meines Erachtens eine Art Systemausstieg.<br />

2. Die Einzelpraxis ist sicherlich ein Auslaufmodell,<br />

zumindest in den großen Städten. Die Zukunft gehört<br />

den vergesellschafteten Formen, also den Berufsausübungsgemeinschaften,<br />

Gemeinschafspraxen, Medizinischen<br />

Versorgungszentren (MVZs), Teilgemeinschaftspraxen<br />

und Ärztehäusern.<br />

3. Da die Niedergelassenen mangels Kapital nur<br />

schwache Player in der Gesundheitswirtschaft sein<br />

können, können sie nur durch Verbünde, also Arztnetze,<br />

ihren Einfluss vermehren. Wenn die KVen als<br />

Interessenvertretung obsolet werden, gehört die Zukunft<br />

den Netzverbindungen, die politisch und wirtschaftlich<br />

arbeiten.<br />

Nur so können Ärzte langfristig an der Wertschöpfung<br />

im Gesundheitsmarkt mitwirken. Ich denke, dass die<br />

Bewusstseinsstruktur vieler Ärzte noch weit von dieser<br />

Einsicht entfernt ist. Dem Nachfrage-Oligopol der<br />

Krankenkassen können Ärzte dann nur ein Anbieter-<br />

Oligopol für medizinische Dienstleistungen entgegenstellen.<br />

Gegenüber dem einzelnen Arzt ist die Krankenkasse<br />

eine beherrschende Übermacht.<br />

4. Mit dem Ausbau des Selbstzahlermarktes – Individuelle<br />

Gesundheitsleistungen (IGeL) – haben Ärzte<br />

erkannt, dass sie zunehmend ökonomische Verantwortung<br />

übernehmen müssen für sozialrechtlich nicht<br />

mehr abgedeckte medizinische Dienstleistungen. Der<br />

Verbund „Medi“ ist der größte Praxisverbund in<br />

Deutschland. Er hat mit überörtlichen Teilgemeinschaftspraxen<br />

ein interessantes und funktionierendes<br />

– auch berufsrechtlich abgeklärtes – Modell für unternehmerische<br />

ärztliche Tätigkeit entwickelt.<br />

5. Die Zukunft unseres Gesundheitswesens wird<br />

von zunehmender Privatisierung gekennzeichnet<br />

sein, wie wir im Krankenhaussektor bereits sehen.<br />

Auch der Versuch der Bundesgesundheitsministerin,<br />

die private Krankenversicherung (PKV) abzuwickeln,<br />

ist rückwärts gewandt und macht genau den Teil des<br />

Systems, der noch einigermaßen funktioniert, ebenfalls<br />

krank.<br />

Langfristig wäre die Option besser, die gesetzlichen<br />

Krankenkassen zu privatisieren und auf ihre eigentliche<br />

Versicherungsfunktion zurückzuführen. Dann<br />

könnten sie nämlich auch wirklich als ökonomische


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 25<br />

Player agieren. Damit wären sie auch dem unheilvollen<br />

Tun der Gesundheitspolitiker entzogen und könnten<br />

ordentlich wirtschaften.<br />

Denn seitdem diese die GKV als unerschöpfliche<br />

Steuerquelle erkannt haben und als Spielwiese für<br />

ihre Verschiebebahnhöfe zwecks Haushaltsstabilisierung,<br />

sind wir weiter denn je davon entfernt.<br />

6. Ärzte werden einen Teil der Rationierungsaufgaben<br />

übernehmen müssen. Ich plädiere für eine ehrliche<br />

und offensive Gestaltung derselben. Das gilt aber<br />

nur, wenn die anderen Player im System – also Kassensozialpolitiker<br />

– ebenfalls ehrlich und offensiv damit<br />

umgehen. Es darf nicht weiter so sein, dass diese<br />

gesellschaftspolitisch brisanten Fragen am Tresen<br />

der Arztpraxis sozusagen nebenbei von überforderten<br />

Helferinnen und Ärzten beantwortet werden<br />

müssen.<br />

7. Es ist kein Geheimnis, dass ich ein Befürworter<br />

des Systemausstiegs per kollektiver Zulassungsrückgabe<br />

der Ärzte bin, wenn die <strong>politische</strong>n und ökonomischen<br />

Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens<br />

in Zukunft weiterhin die Ärzteschaft in bisherigem<br />

Maße belasten. Zurzeit wird ein Drittel der ärztlichen<br />

Leistung durch die Budgetierung weggeregelt,<br />

es wird von den Ärzten alljährlich der Gesellschaft<br />

geschenkt. Die maliziöse Erinnerung an den Eid des<br />

Hippokrates, die immer dann kommt, wenn Ärzte eine<br />

angemessene Bezahlung einfordern, sollte man getrost<br />

vergessen.<br />

8. Um überhaupt wirtschaftlich verantwortlich handeln<br />

zu können, brauchen Ärzte eine transparente<br />

betriebswirtschaftlich kalkulierte Honorarregelung,<br />

die die real existierende Morbidität auch angemessen<br />

abbildet, ohne die unsägliche Zahl von Komplexziffern.<br />

Mir leuchtet nicht ein, dass das, was in der gesamten<br />

Volkswirtschaft gang und gäbe ist – nämlich eine<br />

saubere Definition der Leistungen mit äquivalentem<br />

Euro-Preis – für den Bereich der Gesundheitswirtschaft<br />

nicht gültig sein soll. Erst wenn wir das erreicht<br />

haben, wenn wir eine transparente Taxe anwenden,<br />

können wir Ärzte im Wirtschaftsmarkt Gesundheitswesen<br />

adäquat handeln.<br />

Im Moment sind Ärzte die Autofahrer, denen der Tacho<br />

ausgebaut wurde, für die überall Radarfallen aufgebaut<br />

wurden und die man dann mit Strafen überzieht,<br />

wenn sie die Höchstgeschwindigkeit überschritten<br />

haben. So ist in etwa die Situation. Zudem: Die<br />

Kostendämpfungspolitik, die wir über Jahrzehnte ha-<br />

ben, steht vor ihrem Ende. Das System – das haben<br />

sicherlich die meisten Player gemerkt – lässt sich<br />

nicht noch mehr auspressen.<br />

9. Eine vollständige Ökonomisierung des Gesundheitswesens<br />

wird es aber nicht geben können, da<br />

medizinische Dienstleistungen nur bis zu einem gewissen<br />

Punkt rationalisierbar und rationierbar sind.<br />

Ärzte sind nicht nur Vollzugsorgane einer ökonomischen<br />

Vernunft.<br />

Es bleibt ein inkompressibler Rest der oben beschriebenen<br />

fundamentalen Beziehung übrig. Der Arzt ist<br />

durch seine Funktion immer auch Sachwalter des<br />

Patienten und zunehmend auch Partner.<br />

In einer Zeit, in der Laien häufig besser informiert sind<br />

als professionelle Heiler, verfängt der Gestus Dr. Allwissend<br />

wirklich nicht mehr. Zuwendung, Fürsorge,<br />

Mitleid und Begleitung in großer körperlicher und seelischer<br />

Not sind nicht quantifizierbar und auch nicht<br />

ökonomisierbar. Ich denke, dass das die immanente<br />

Grenze des Leistungsbedarfs ist.<br />

© gpk<br />

Kernthesen von Ekkehard Ruebsam-Simon<br />

■ Der Arzt ist der Treuhänder des Patienten.<br />

Das ganz besondere Vertrauensverhältnis zwischen<br />

Arzt und Patient muss gewährleistet bleiben.<br />

■ Um wirtschaftlich verantwortlich handeln zu<br />

können, brauchen Ärzte eine transparente betriebswirtschaftlich<br />

kalkulierte Honorarregelung,<br />

eine saubere Definition der Leistungen mit<br />

äquivalentem Euro-Preis.<br />

■ Die Einzelpraxis ist ein Auslaufmodell, die<br />

Zukunft gehört den vergesellschafteten Kooperationsformen.<br />

■ Die Kassenärztlichen Vereinigungen<br />

(KVen) werden als Interessenvertretung obsolet.<br />

Die Ärzte werden sich in Netzverbindungen<br />

zusammenschließen, die politisch und wirtschaftlich<br />

arbeiten und dem Nachfrage-Oligopol<br />

der Kassen ein Anbieter-Oligopol der Ärzte<br />

entgegensetzen.<br />

■ Die schleichende Rationierung im GKV-<br />

System muss offen und ehrlich thematisiert<br />

werden. Auch die Ärzte müssen sich an dieser<br />

Diskussion beteiligen.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 26<br />

Prof. Dr. Volker Amelung (Jahrgang<br />

1965), Prof. für Gesundheitssystemforschung<br />

an der Medizinischen Hochschule<br />

Hannover und Vorstandsvorsitzender<br />

des Bundesverbandes Managed Care.<br />

Mehrere Jahre Gastwissenschaftler an<br />

der Columbia University (New York). Berater<br />

für internationale und nationale Unternehmen<br />

im Gesundheitswesen. Forschungsschwerpunkte:Gesundheitssystemforschung,<br />

Managed Care, Gesundheitsmanagement.<br />

Wulff-Erik von Borcke (Jahrgang 1967),<br />

General Manager Deutschland des Pharmaunternehmens<br />

Abbott. Zuvor in verschiedenen<br />

Positionen bei Abbott in den<br />

USA tätig.<br />

Prof. Dr. Marie-Luise Dierks (Jahrgang<br />

1953), seit 1999 Leitung des Arbeitsschwerpunkts<br />

Patienten und Konsumenten<br />

der Abteilung Epidemiologie, Sozialmedizin<br />

und Gesundheitssystemforschung<br />

an der Medizinischen Hochschule<br />

Hannover. Forschungsschwerpunkte:<br />

Patientenperspektive im Gesundheitswesen,<br />

Empowerment, Patientenzufriedenheit,<br />

Qualitätsmanagement, Patientenberatung<br />

und Patienteninformation, Neue<br />

Medizin.<br />

Dr. med. Hans-Joachim Fischer (Jahrgang<br />

1949), seit 2005 Director Gover-<br />

<strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong><br />

gpk<br />

<strong>Kommentare</strong><br />

ISSN: 0016–9102<br />

Herausgeber: <strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong> und<br />

Erich Schwaiger<br />

Redaktion: <strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong> (Chefredakteur),<br />

Dr. Rudolf Hammerschmidt (verantwortlich),<br />

Dr. Franz-Josef Bohle, Günther Sauerbrey,<br />

Erich Schwaiger<br />

Umbruch: Wolfgang Laack<br />

<strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong> GmbH<br />

Verlag <strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong> <strong>Kommentare</strong><br />

Bestellanschrift: Zentralbüro (Eifel)<br />

Postfach 10 17, 54614 Schönecken<br />

Tel.: (0 65 53) 9 21 10, Fax: (0 65 53) 9 2113;<br />

E-Mail: Schuetze-Eifel@t-online.de<br />

www.<strong>Leo</strong>Schuetze.de<br />

Hauptstadtbüro Berlin:<br />

Reinhardtstraße 18, 10117 Berlin<br />

Tel.: (030) 20 65 87-0, Fax: (030) 20 65 87-29;<br />

E-Mail: berlin@leoschuetze-eurogroup.de<br />

Autoren dieser Ausgabe<br />

mental Affairs & Communication Abbott.<br />

Von 1977– 1982 Tätigkeit als Assistenzarzt<br />

und anschließend Tätigkeit bei verschiedenen<br />

Pharmaunternehmen. Von<br />

2001–2005 Leiter Gesundheitspolitik bei<br />

Abbott.<br />

Prof. Dr. Eckhard Knappe (Jahrgang<br />

1943), Lehrstuhlinhaber SAM-Volkswirtschaftslehre<br />

an der Universität Trier. Seit<br />

1986 Co-Direktor des Zentrums für Arbeit<br />

und Soziales (ZENTRAS) und seit 1997<br />

Direktor des Zentrums für Gesundheitsökonomie<br />

(ZiG) der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte:Dienstleistungsmärkte,<br />

Arbeitsökonomik, Gesundheitsökonomik,<br />

Systeme der sozialen Sicherung.<br />

Silke Lautenschläger (Jahrgang 1968),<br />

Rechtsanwältin. Seit 1999 Mitglied des<br />

Landtages Hessen und seit 2001 Hessische<br />

Sozialministerin. Vorsitzende des<br />

Bundesratsausschusses für Arbeit und<br />

Sozialpolitik, Mitglied des Beirats der<br />

„Kids Care Stiftung“, stellv. Vorsitzende<br />

des Kuratoriums der Akademie der Arbeit<br />

(Frankfurt).<br />

Prof. Dr. rer. pol. h.c. Herbert Rebscher<br />

(Jahrgang 1954), Vorsitzender des Vorstandes<br />

der Deutschen Angestellten-<br />

Krankenkasse (DAK). Honorarprofessor<br />

für Gesundheitsökonomie an der Rechts-<br />

Wir bitten, Paket- und Päckchensendungen ausschließlich<br />

an <strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong>, c/o Johann Weber,<br />

Kapellenweg 3, 54614 Dingdorf, zu senden.<br />

Erscheinungsweise: monatlich. Der monatliche<br />

Bezugspreis beträgt EUR 4,00 zuzüglich Porto<br />

und Versandkosten.<br />

Zu wichtigen Themen erscheinen Sonderausgaben.<br />

Diese werden gesondert berechnet.<br />

Bankkonto:<strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong><strong>Kommentare</strong>,<br />

Konto 5 023 228, Raiffeisenbank Westeifel eG,<br />

BLZ 586 619 01<br />

Druck: Grafische Werkstatt Franz Pruckner,<br />

Detmolder Straße 13, 10715 Berlin.<br />

Tel. (030) 85479590, Fax (030) 85731196<br />

E-Mail: gw-pruckner@t-online.de<br />

Die mit Verfassernamen oder Abkürzungen gekennzeichneten<br />

Artikel geben nicht in jedem Fall<br />

die Auffassung der Redaktion wieder.<br />

Die mit „gpk“ gekennzeichneten Anmerkungen<br />

stammen von der Redaktion, nicht vom Verfasser.<br />

Nachdruck zu den üblichen Honorarbedingungen<br />

nur nach Zustimmung durch die Redaktion.<br />

Zitierung nur mit Quellenangabe.<br />

und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät<br />

der Universität Bayreuth. Studium<br />

der Wirtschafts- und Organisationswissenschaften<br />

an der Universität der Bundeswehr<br />

München mit Schwerpunkt Wirtschafts-<br />

und Sozialpolitik sowie Gesundheitsökonomie;<br />

sozialwissenschaftliches<br />

Studium mit Schwerpunkt Medizinische<br />

Ethik. Von 1996–2003 Vorsitzender des<br />

Vorstandes des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen<br />

e.V. (VdAK) und des<br />

Arbeiter-Ersatzkassen-Verbandes e.V.<br />

(AEV).<br />

Dipl.-Pol. Ekkehard Ruebsam-Simon<br />

(Jahrgang 1944), Facharzt für Allgemeinmedizin.<br />

Schwerpunkte: Orthopädie, Allergologie,<br />

Psychotherapie. Mitglied des<br />

Vorstands der Bezirksärztekammer<br />

Nordbaden, Mitglied der Vertreterversammlung<br />

der Kassenärztlichen Vereinigung<br />

Baden-Württemberg. Seit 2004<br />

stellv. Vorsitzender Medi Baden-Württemberg<br />

und Vorstandssprecher der<br />

Nordbadischen Ärzteinitiative (NAI).<br />

Das Abbott-Forum 2007 wurde organisatorisch<br />

und redaktionell unterstützt von<br />

Joachim Roscher, ipse Communication,<br />

Berlin.<br />

Beirat:<br />

Dr. Franz Altherr MdL (Mittelbrunn), Erwin<br />

Aymann (Kleve), Wolf-Michael Catenhusen<br />

(Münster), Dr. Paul Hoffacker (Essen), Peter<br />

Keller (Zellingen), Monika Knoche MdB<br />

(Hannover), Prof. Paul Krupp (Kempten/Allgäu),<br />

Alfred Kugler † (München), Karl-Josef<br />

Laumann (Hörstel-Riesenbeck), Dr. Volker<br />

Leienbach (Köln), Dr. Rolf Linkohr (Stuttgart),<br />

Dr. Bruno Menzel † (Dessau), Friedrich<br />

Merz MdB (Brilon), Dr. Gerd Müller MdB<br />

(München), Dr. Helga Otto (Claßnitz), Prof.<br />

Dr. Martin Pfaff (Stadtbergen), Dr. Godelieve<br />

Quisthoudt-Rowohl MdEP (Hildesheim),<br />

Willi Rothley (Rockenhausen), Gudrun<br />

Schaich-Walch (Frankfurt a.M.), Regina<br />

Schmidt-Zadel (Ratingen), Theo Starzner<br />

M.A. (München), Dr. Dieter Thomae (Sinzig-<br />

Bad Bodendorf), Dr. Hans-Peter Voigt (Northeim),<br />

Josef Vosen (Düren).


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 27<br />

Positionen von Teilnehmern des Abbott-Forums 2007<br />

Klaus Böttcher,<br />

Kaufmännische Krankenkasse KKH<br />

Wettbewerb der Kassen zur kurzfristigen Senkung<br />

von Kosten wird keinen nachhaltigen Erfolg haben, da<br />

letztendlich nicht der Versorgungsbedarf der Versicherten,<br />

sondern die Orientierung am Beitragssatz im<br />

Fokus steht.<br />

Wettbewerb um optimale Versorgungsmodelle setzt<br />

voraus, dass sowohl Leistungserbringer als auch Kostenträger<br />

bereit sind, die Qualität der Leistungserbringung<br />

durch Messung des Outcomes zu bewerten.<br />

Hieran mangelt es in der überwiegenden Anzahl von<br />

Verträgen, sei es im Bereich der Hausarztzentrierten<br />

als auch der Integrierten Versorgung. Die Routine-<br />

Dr. Erich Koch,<br />

Spitzenverbände der landwirtschaftlichen Sozialversicherung<br />

Für die Landwirtschaftlichen Krankenkassen und ihren<br />

Spitzenverband hat der Vertragswettbewerb einen<br />

hohen und weiter steigenden Stellenwert.<br />

Der zweiten These von Herrn Prof. Knappe („Wettbewerb<br />

allein als Vertragswettbewerb ist ohne Versicherungswettbewerb<br />

nicht funktionsfähig ...“) ist folglich<br />

zu widersprechen: Ein gesetzlich implementierter Vertragswettbewerb<br />

(vgl. z.B. die §§ 125 Abs. 2, 127,<br />

130 a Abs. 8 SGB V) ist alleintragend, weil es weiterer<br />

Cosima Kötting,<br />

Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH)<br />

Zur Reformierung des deutschen Gesundheitswesens<br />

werden zwei ordnungspolitisch entgegengesetzte<br />

Ansätze diskutiert. Zum einen die stärkere Zentralisierung<br />

und zum anderen die dezentrale Stärkung<br />

von Wettbewerbselementen.<br />

Beide entgegengesetzten Ansätze sind jeweils nur<br />

erfolgversprechend, wenn sie ordnungspolitisch konsequent<br />

umgesetzt werden. Mit der letzten Gesundheitsreform<br />

hat der Gesetzgeber die wettbewerblichen<br />

Elemente gestärkt, parallel jedoch dirigistische<br />

Elemente, die mit dem Wettbewerb nicht kompatibel<br />

sind, beibehalten.<br />

Die Rahmenbedingungen für einen echten Wettbewerb<br />

im GKV-System sind somit z.Z. nicht geben. Das<br />

SGB V schließt in § 69 die Anwendbarkeit des Kartellund<br />

Wettbewerbsrechts auf die gesetzlichen Kran-<br />

daten der Kassen könnten bereits heute sowohl im<br />

ambulanten als auch im stationären Bereich für die<br />

Messung der Ergebnisqualität (zumindest ansatzweise)<br />

genutzt werden.<br />

Es ist Prof. Amelung ausdrücklich zuzustimmen, dass<br />

die Sicherstellung von Innovationen dem konkreten<br />

(Versorgungs-)Bedarf entsprechend gesteuert werden<br />

sollte. Obligate Vorgaben, wie zum Beispiel der<br />

Zwang zur flächendeckenden Hausarztzentrierten<br />

Versorgung, sind mit diesem Anspruch nicht zu vereinbaren,<br />

sondern verhindern innovative Suchprozesse.<br />

Anreize nicht bedarf. Der interessanten fünften und<br />

sechsten These von Herrn Prof. Knappe („Das generelle<br />

Altersverlaufsrisiko sollte man ... z.B. über eine<br />

alterskohorten-spezifische Gesundheitsprämie finanzieren<br />

...“) ist der Gesetzgeber für die LKV tendenziell<br />

bereits 1972 gefolgt, indem er mit den Leistungsaufwendungen<br />

für die sog. Alterteiler den Bund belastet<br />

hat.<br />

kenkassen aus. Das Verhältnis zwischen Krankenkassen<br />

und Leistungserbringern ist durch eine enorme<br />

Marktmacht der Krankenkassen einerseits und einer<br />

Abhängigkeit der Leistungserbringer andererseits gekennzeichnet.<br />

Um hier ein Verhandeln auf Augenhöhe – und somit<br />

einen fairen Wettbewerb – zu gewährleisten, müssen<br />

sich auch Krankenkassen beim Aushandeln von Verträgen<br />

und bei der Vergabe von Aufträgen an den<br />

Vorgaben des Wettbewerbs- und Kartellrechts messen<br />

lassen.<br />

Der Gesetzgeber fordert Wettbewerb im GKV-System,<br />

hat es jedoch versäumt hierzu die entsprechenden<br />

rechtlichen Rahmenbedingungen festzulegen.<br />

Solange dies nicht der Fall ist, wird es keinen fairen<br />

Wettbewerb im Gesundheitssystem geben.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 28<br />

Stephan F. Kraft,<br />

NAV-Wirchow-Bund<br />

Die Referate der Veranstaltung und die Diskussionen<br />

haben gezeigt, wie vielschichtig und komplex das<br />

Thema „Wettbewerb im Gesundheitswesen“ ist, und<br />

dabei verschiedene Ansätze zur Gestaltung des Gesundheitsmarktes<br />

vorgestellt.<br />

Dabei wurde klar, dass insbesondere Transparenz<br />

und der ehrliche Wille zu Reformen – auch gegenüber<br />

den Versicherten – zur Überwindung des gegenwärtigen<br />

Dilemmas im deutschen Gesundheitswesen beitragen<br />

können und müssen. Wettbewerb hat es aus<br />

meiner Sicht im Gesundheitswesen schon immer ge-<br />

Dr. Thomas Kriedel,<br />

Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe<br />

Der Wettbewerb im Gesundheitswesen kann nicht wie<br />

auf einem (idealen) Gütermarkt funktionieren, weil<br />

der Patient<br />

● nicht den Behandlungspreis zahlt (Versicherung)<br />

und<br />

● nicht das „Behandlungsgut“ auswählt, sondern der<br />

Arzt.<br />

Andererseits wird der Gesunde nur auf den Versicherungspreis<br />

achten und damit qualitativ bessere Angebote<br />

im Markt verhindern. Wettbewerb ist damit allenfalls<br />

auf engen Teilmärkten möglich. Dadurch entsteht<br />

die Gefahr einer Suboptimierung. In der GKV beschränkt<br />

sich der Wettbewerbsparameter des Versi-<br />

Harald Kuhne,<br />

Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWT)<br />

Wettbewerb im Gesundheitswesen wird im <strong>politische</strong>n<br />

Raum von fast allen Seiten für sinnvoll erachtet. Die<br />

Unterschiede in den Positionen verschiedener Akteure<br />

lassen sich vielfach darauf zurückführen, ob Wettbewerb<br />

als Mittel oder als Ziel betrachtet wird.<br />

Das Gesundheitssystem hat sich in den letzten zehn<br />

Jahren deutlich in Richtung Wettbewerb entwickelt.<br />

● Startschuss war 1996 das Ende des Zuweisungssystems<br />

bei den Krankenkassen verbunden mit<br />

der Freiheit der Versicherten zur Wahl ihrer Krankenkasse.<br />

● Herausragend war ferner die Einführung des Fallpauschalensystems<br />

bei den stationären Leistungen.<br />

Dieser Schritt hat enorme Kräfte freigesetzt.<br />

Die bundesweite konsequente Anwendung des<br />

geben und sollte es auch weiter geben. Eine rein<br />

marktwirtschaftliche Orientierung dieses Wettbewerbes<br />

kann aber aus den besonderen ethischen und<br />

sozialen Anspekten, denen dieser Markt unterliegt,<br />

nicht verantwortet werden.<br />

Daher ist eine Regulierung zwingend erforderlich. Insbesondere<br />

aus ärztlicher Sicht ist jedoch zu betonen,<br />

dass die Instrumente der Regulierung keine der am<br />

Wettbewerb beteiligten Gruppen einseitig benachteiligen<br />

darf. Denn so würde aus einem regulierten Wettbewerb<br />

– Staatsmedizin!<br />

cherten auf die Auswahl einer Krankenkasse mit einer<br />

günstigen Prämie. Die Leistungsfähigkeit spielt kaum<br />

eine Rolle. Warum soll der Gesunde z.B. teure Diabetiker-Programme<br />

mitfinanzieren?<br />

Erst wenn wirkliche Leistungsunterschiede bei den<br />

Krankenkassen mit höherer Eigenverantwortung<br />

sichtbar werden, kann diese Auswahl rational erfolgen.<br />

Damit wird Wettbewerb aber allein zum Leistungs-<br />

und Qualitätswettbewerb bei fixen Preisen.<br />

Der Versicherte/Patient kann sonst rational nur ein<br />

besseres Leistungsangebot bei fixen Prämien oder<br />

bei fixen Leistungen (GKV-Vorgabe) den günstigsten<br />

Preis wählen. Damit bleibt Wettbewerb rudimentär.<br />

Systems (Ende der Konvergenzphase) wird die<br />

Entwicklung in diesem Bereich beschleunigen.<br />

● Das Festhalten an der Investitionsfinanzierung<br />

durch die Bundesländer verhindert eine freie wirtschaftliche<br />

Entwicklung. Aber die duale Finanzierung<br />

im Krankenhausbereich erodiert unaufhaltsam.<br />

● Elemente für mehr Eigenverantwortung der Patienten<br />

wie die Praxisgebühr waren und sind psychologisch<br />

wichtig; ihre Steuerungswirkung verblasst<br />

allerdings.<br />

● Die entsprechende Anwendung des Wettbewerbsund<br />

Kartellrechts im Gesundheitswesen ist noch<br />

stockend. Die Erfahrung aus anderen Wirtschaftsbereichen<br />

sollte genutzt werden.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 29<br />

Fazit: Der Weg vom (staatlich regulierten) Gesundheitswesen<br />

zur Gesundheitswirtschaft mit mehr Eigenverantwortung<br />

erfolgt schrittweise. Die Akteure,<br />

Beteiligten und Betroffenen müssen eine faire Chance<br />

haben, sich auf veränderte Bedingungen einzu-<br />

Friedhelm Ochs,<br />

Barmer Ersatzkasse; LGSt. Rheinland-Pfalz<br />

Es gibt zwei Ebenen des Wettbewerbs: den zwischen<br />

den Kassen um den Versicherten und den zwischen<br />

den Leistungserbringern um den Patienten. Es handelt<br />

sich um die gleiche Zielperson – aber in<br />

unterschiedlichen Situationen.<br />

Der Versicherte entscheidet sich als junger Gesunder<br />

für seine Krankenkasse, der Patient als älterer<br />

Kranker für seinen Arzt. Im ersten Fall wird die Entscheidung<br />

häufig auch vom Preis (= Beitragssatz)<br />

abhängig gemacht, im zweiten Fall von der Versorgungsqualität.<br />

In diesem System kann Krankenkassenwettbewerb<br />

als Qualitätswettbewerb nur in Randbereichen funktionieren.<br />

Wer den teuren Schwerstkranken bessere<br />

Leistungen bieten will als der GKV-Durchschnitt, begeht<br />

tendenziell ökonomischen Selbstmord. Die Beitragssätze<br />

müssen höher liegen.<br />

Damit steigen die Gesunden als Versicherte aus und<br />

die Schwerkranken ein. Zumal ohnehin die Leistungs-<br />

Otto Späth,<br />

Bundesverband deutscher Apotheker e.V. (BVDA)<br />

Wettbewerb im Gesundheitswesen wird in der <strong>politische</strong>n<br />

Diskussion nahezu ausschließlich auf den<br />

Preiswettbewerb reduziert. Man wird den Verdacht<br />

nicht los, dass Leistungs- und Qualitätswettbewerb<br />

eher unerwünscht sind.<br />

Die öffentliche Apotheke ist das Stiefkind dieser Diskussion.<br />

Dort, wo sie von <strong>politische</strong>n Entscheidungen<br />

betroffen ist, geht es letztlich darum, den „unternehmerischen“<br />

Spielraum des Apothekers zu verengen –<br />

wie z.B. durch das Rabattverbot.<br />

Dabei ist die Apotheke als Einrichtung, die die niedrigsten<br />

Zugangsschwellen für den Patienten bietet<br />

und wohnortnah ist, prädestiniert dazu, eine wesentlich<br />

bedeutendere Rolle in der Gesundheitsversorgung<br />

zu spielen. Gerade die älteren Menschen wür-<br />

stellen; der Weg muss von der Detailregulierung zur<br />

verlässlichen Rahmensetzung führen. Der Gesundheitsfonds<br />

ist eine große Chance. Er ermöglicht perspektivisch<br />

in der Finanzierung von der lohnkostenbasierten<br />

Finanzierung auf andere Modelle umzustellen.<br />

palette (sowie die Qualitäten) weitestgehend gesetzlich<br />

vorgegeben sind. Dieses Problem ist unter<br />

den Bedingungen lohnabhängiger Beiträge und der<br />

politisch gewollten Umverteilungseffekte – insbesondere<br />

des Solidarausgleichs zwischen Jung und Alt –<br />

grundsätzlich nicht lösbar.<br />

Der eigentliche Wettbewerb findet hier notgedrungen<br />

als Werbewettbewerb um die guten Risiken statt. Dies<br />

kann nicht das Ziel sein. Die gesetzliche Krankenversicherung<br />

muss für Erkrankte eine möglichst optimale<br />

Versorgung bieten. Um dies zu gewährleisten, ist ein<br />

morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich unverzichtbar.<br />

Nichtsdestoweniger kann ein Wettbewerb der Leistungserbringer<br />

um Versorgungsverträge mit den<br />

Krankenkassen zu mehr Effizienz führen – vorausgesetzt,<br />

dass die Krankenkassen echte Alternativen für<br />

die Auswahl haben.<br />

den hiervon entscheidenden Nutzen ziehen. In einem<br />

funktionsfähigen Wettbewerb würden sich Apotheken<br />

mit den unterschiedlichsten Betriebsstrukturen und<br />

Geschäftsmodellen ausformen – z.B. Discountapotheken,<br />

Kettenapotheken, Individualapotheken.<br />

Das ist notwendige Folge und auch politisch erwünscht,<br />

denn nur so können Effizienzreserven bei<br />

hoher Versorgungsqualität gehoben werden. Es ist<br />

Aufgabe der Politik, die Entwicklungen im Apothekenmarkt<br />

nicht allein unter dem Kostenaspekt zu<br />

sehen oder sie dem Interventionswildwuchs zu überlassen.<br />

Es geht um die Versorgungssicherheit und -qualität –<br />

auch z.B. auf dem Land, wo immer weniger Apotheker<br />

das Wagnis eingehen wollen, sich niederzulassen.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 30<br />

Dr. Thomas Spies,<br />

MdL Hessen<br />

Der Patient ist nie oder fast nie „Kunde“ im Sinne des<br />

gleichstarken Verhandlungspartners der Akteure im<br />

Gesundheitswesen, sondern immer – wegen Krankheit<br />

und Hilfsbedürftigkeit – in einer ungleich schwächeren<br />

Position.<br />

Deshalb hat jede wettbewerbliche Steuerung, sofern<br />

sie direkt oder mittelbar den Patienten betrifft, einen<br />

ergänzenden Kontrollbedarf, mit dem der Patient<br />

durch einen öffentlichen Garanten geschützt wird.<br />

Dr. Frank Thoss,<br />

Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller (VFA)<br />

Das deutsche Gesundheitssystem ist nicht zukunftsfähig.<br />

Die bestehenden Strukturen und Steuerungsinstrumente<br />

sind weder effektiv noch effizient. Nur ein<br />

wettbewerblicher Systemwechsel bietet einen Ausweg.<br />

Mit mutigen Strukturreformen können die positiven<br />

Wirkungen von Markt und Wettbewerb auch im<br />

Gesundheitswesen genutzt werden. Die Leistungsfähigkeit<br />

des Systems wird gesteigert und die Versorgung<br />

orientiert sich zuallererst an den Wünschen und<br />

Bedürfnissen der Versicherten und Patienten.<br />

Der Arzneimittelsektor ist in eine umfassende wettbewerbliche<br />

Neuausrichtung des Gesamtsystems ein-<br />

Dr. Albrecht Winkler,<br />

Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen Rheinland Pfalz<br />

● Risikoselektion ist kein Problem der Zukunft, sondern<br />

der Gegenwart. Mit der Komplettierung des<br />

Finanzkraftausgleichs und der Einführung von<br />

Morbiditätselementen im Risikostrukturausgleich<br />

trägt der Gesundheitsfonds gerade dazu bei, die<br />

Funktionsfähigkeit des Krankenversicherungswettbewerbs<br />

weiter zu verbessern. Der Preis, egal<br />

ob nun Beitragssatz oder Zusatzprämie genannt,<br />

behält seine wichtige Steuerungsfunktion bei, wird<br />

aber auch in Zukunft nicht alleiniger Wettbewerbsparameter<br />

sein.<br />

● Unser solidarisches Krankenversicherungssystem<br />

hat sich – gerade auch bei international vergleichender<br />

Betrachtung – im Grundsatz bewährt,<br />

Wir sind weit davon entfernt, auch nur die erforderlichen<br />

Parameter und Methoden einer solchen, den<br />

gleichstarken und informierten Kunden schaffenden<br />

Prüfung zu kennen, geschweige denn implementiert<br />

zu haben.<br />

Es bleibt fraglich, ob die wettbewerblich gewonnenen<br />

Effizienzvorteile dann die Kosten der Sicherungsparameter<br />

noch übersteigen.<br />

zubeziehen. Zentrale Eingriffe in die Marktpreisbildung,<br />

wie Zwangsrabatt und Festbeträge, sind abzuschaffen<br />

und durch bilaterale Verhandlungen zwischen<br />

den Krankenversicherern und Arzneimittelherstellern<br />

zu ersetzen. Voraussetzung für dezentrale<br />

Abstimmungen ist aber, dass auch zwischen den<br />

Krankenversicherern echter Wettbewerb herrscht und<br />

die Regeln der Wettbewerbskontrolle greifen. Ferner<br />

müssen Versicherte und Patienten die Möglichkeit<br />

haben, sich über alle Gesundheitsthemen kundig zu<br />

machen und sich direkt beim Hersteller über verfügbare<br />

Medikamente zu informieren.<br />

muss aber weiter entwickelt werden. Ein Systemwechsel<br />

etwa zu alterskohortenspezifischen Gesundheitsprämien<br />

ist schon aufgrund der damit<br />

verbundenen gravierenden Doppelbelastungen<br />

Älterer nicht umsetzbar.<br />

● Mit den Reformen der letzten Jahre hat die Politik<br />

sowohl die Rolle der Patientinnen und Patienten<br />

gestärkt als auch den Ärztinnen und Ärzten – zuletzt<br />

mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz<br />

und dem GKV-WSG – neue Perspektiven eröffnet.<br />

Mit der Neuordnung der ambulanten Vergütung<br />

wird dem berechtigten Interesse der Ärztinnen und<br />

Ärzte an einer auskömmlichen, transparenten und<br />

kalkulierbaren Honorierung Rechnung getragen.


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 31<br />

Wettbewerb ist nicht Anarchie<br />

Auch im Gesundheitswesen würde Wettbewerb zu besseren Ergebnissen führen<br />

Von Wulff-Erik von Borcke<br />

In anderen Märkten gilt er als das Erfolgsmodell<br />

schlechthin, im Gesundheitsmarkt dagegen wird<br />

Wettbewerb mit offenem Argwohn verfolgt. Es scheint,<br />

als stünden sich sozialstaatlicher Gestaltungsanspruch<br />

und das Steuerungsprinzip Wettbewerb in<br />

unversöhnlichem Gegensatz gegenüber.<br />

Die Argumente sind bekannt: Einerseits ist Wettbewerb<br />

der Regelmechanismus, der die Ressourcen<br />

höchst effektiv einsetzt und große Innovationsdynamik<br />

entfaltet. Er ist der Suchprozess nach der effizientesten<br />

Leistung. Andererseits ist Gesundheit ein<br />

ethisch unumstößliches „Gut“, das jedem Menschen<br />

zuerkannt und sozial abgesichert ist – ausgestattet<br />

mit all den Interventionsrechten, die sich der Staat<br />

daraus ableitet.<br />

In Deutschland leiden rund 800.000 Menschen<br />

an dieser Krankheit, die man deshalb<br />

auch als eine Volkskrankheit bezeichnen<br />

kann. Heute stehen moderne<br />

Medikamente zur Behandlung zur Verfügung.<br />

Folgende Autorinnen und Autoren sind<br />

mit einem Beitrag vertreten:<br />

Die Schuppenflechte ist eine „lebenslängliche“<br />

Erkrankung, von der rund zwei<br />

Prozent der Menschen betroffen sind.<br />

Eine verbesserte Versorgung durch Früherkennung<br />

und moderne Therapiemethoden<br />

kann erhebliche Folgekosten einsparen.<br />

Folgende Autorinnen und Autoren stellen<br />

ihre Folgen und ihre Behandlungsmöglichkeiten<br />

dar:<br />

Zudem sind da die zahlreichen „Eigenheiten“ dieses<br />

Marktes, wie z.B. die Aufspaltung der Nachfragerseite<br />

zwischen „Verbraucher“ (Patient) „Kaufentscheider“<br />

(Arzt) und „Bezahler“ (Krankenkasse) oder auch die<br />

verschiedenen politisch gewollten Umverteilungsprogramme<br />

(Gesund ➛ Krank, Reich ➛ Arm, Jung ➛ Alt,<br />

Erwerbstätig ➛ Familienmitglied), die die „Nachfrage“<br />

unabhängig von individueller Kaufkraft machen sollen<br />

und die wir gemeinhin als „Solidarität“ bezeichnen.<br />

Und das Kernproblem ist: Wir müssen mit einem<br />

„Verbraucher“ klarkommen, der als Versicherter einen<br />

möglichst geringen Beitrag zahlen will, aber als Patient<br />

die maximal verfügbare Leistung in Anspruch nehmen<br />

möchte.<br />

Sonderausgaben der <strong>Gesellschafts</strong><strong>politische</strong>n <strong>Kommentare</strong><br />

– RHEUMATOIDE ARTHRITIS –<br />

Axel Böhnke<br />

Wulff-Erik von Borcke<br />

Dr. rer. nat. Eva Susanne Dietrich<br />

Lutz Freiberg<br />

Prof. Dr. Erika Gromnica-Ihle<br />

Annelie Heilhecker<br />

Andreas Hering<br />

Eike Hovermann (MdB)<br />

– PSORIASIS –<br />

Prof. Dr. med. Matthias Augustin<br />

Dipl.-Kffr. Karin Berger<br />

Axel C. Böhnke<br />

Wulff-Erik von Borcke<br />

Dr. rer. pol. Gerhard Brenner<br />

Prof. Dr. med. Dr. jur. Christian Dierks<br />

Dr. Stefan Etgeton<br />

San.-Rat Dr. med. Günter Gerhardt<br />

Dr. <strong>Leo</strong>nhard Richard Hansen<br />

Eike Hovermann (MdB)<br />

Fortsetzung auf der folgenden Seite<br />

Dr. Gisela Kobelt<br />

Prof. Dr. Klaus Krüger<br />

Gerhard Kruse<br />

Prof. Dr. med. Wilfried Mau<br />

Dr. Thomas Mittendorf<br />

Dipl.-Med. Hans-Werner Pfeifer<br />

Prof. Dr. rer. pol. h.c. Herbert Rebscher<br />

Dr. med. Ina Ueberschär<br />

Prof. Dr. Angela Zink<br />

Dr. Gisela Kobelt<br />

Prof. Dr. Thomas A. Luger<br />

Dr. med. M.P.H. Bernd Metzinger<br />

Dipl.-Med. Hans-Werner Pfeifer<br />

Dr. med. Marc Alexander Radtke<br />

Dr. med. Michael Reusch<br />

Stephan Turk<br />

Dr. med. Ina Ueberschär<br />

Prof. Dr. med. Helmut Vedder<br />

Dr. Marlies Volkmer (MdB)<br />

Die Sondernummern können bezogen werden bei der <strong>Leo</strong> <strong>Schütze</strong> GmbH · Postfach 10 17 · 54614 Schönecken<br />

Telefon (0 65 53) 9 2110 · Telefax (0 65 53) 9 2113 · E-Mail: Schuetze-Eifel@t-online.de


gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 – März 2008 – Seite 32<br />

Wettbewerb ist nicht Anarchie<br />

Auch im Gesundheitswesen würde Wettbewerb zu besseren Ergebnissen führen<br />

Von Wulff-Erik von Borcke<br />

Fortsetzung von der vorigen Seite<br />

Wo in dieser Gemengelage mit dem Instrument „Wettbewerb“<br />

ansetzen? Wahrscheinlich würde diese Frage<br />

gar nicht auf der Agenda stehen, wenn der Konflikt<br />

zwischen Fiskalpolitik und (Gesundheits-)Marktdynamik<br />

nicht immer brisanter würde. So tritt „Wettbewerb“<br />

zwar als die Zukunftsformel schlechthin auf.<br />

Aber jeder Systemteilnehmer versucht gleichzeitig,<br />

die historisch gewachsene Struktur zu verteidigen.<br />

Der Status quo wird so festgeschrieben.<br />

Nicht jeder Einwand stimmt<br />

Bei genauem Hinsehen allerdings erledigen sich einige<br />

der zentralen Einwände von selbst: So ist der<br />

„ideale Wettbewerb“, in dem Nachfrage- und Angebotsseite<br />

z.B. über die gleiche Marktmacht, den gleichen<br />

Informationsstand, über in gleicher Zeit zu realisierende<br />

Alternativen verfügen, in kaum einem<br />

Marktsegment gegeben. Warum wird er dann im komplexen<br />

Gesundheitsmarkt zur Messlatte gemacht? So<br />

ist das Produkt, das Versicherungen anbieten, nahezu<br />

immer „ökonomische Sicherheit“. Warum machen<br />

wir die Krankenversicherungen immer mehr zu Serviceunternehmen<br />

für die Krankenbehandlung?<br />

So sind dezentrale Entscheidungen und ihr Ringen<br />

um die bessere Lösung die bewährtesten Triebkräfte<br />

für den Fortschritt. Warum meint man, das äußerst<br />

dynamische (und gewünschte) Innovationsgeschehen<br />

im Gesundheitsmarkt ausgerechnet in den Händen<br />

eines Zentralinstituts monopolisieren zu müssen,<br />

das eigens dafür geschaffen wurde, den budgetären<br />

Status quo zu sichern, und das deshalb dem Neuen<br />

mit gebührlicher Abwehrhaltung zu begegnen hat? So<br />

braucht man auch im Gesundheitsmarkt den kompetenten<br />

„Kunden“. Warum werden nicht die Positionen<br />

der Versicherten und Patienten wirklich gestärkt – und<br />

damit auch die Rollen von Ärzten und Krankenkassen<br />

besser justiert.<br />

Damit verlöre der Sozialstaat keineswegs seine Ansprüche.<br />

Diese können durchaus auch in einem wettbewerblich<br />

geprägten System zur Geltung kommen:<br />

z. B. durch generelle Versicherungspflicht, soziale<br />

Umverteilung über das Steuerbudget, staatlich geför-<br />

derte Sicherstellung usw. Sicherlich müssten auch<br />

Verantwortlichkeiten neu verteilt werden, müssten<br />

Leistungs- und Qualitätstransparenz geschaffen und<br />

institutionalisiert werden, müssten Kosten/Nutzen-<br />

Vergleiche ermöglicht werden.<br />

Wettbewerb braucht Alternativen auf Anbieter- und<br />

Nachfragerseite, braucht Freiheiten bei der Kaufentscheidung<br />

sowie bei der Produkt- und Preisgestaltung,<br />

braucht Transparenz und Kompetenz. Für den<br />

forschenden Arzneimittelhersteller ist der Wettbewerb<br />

um die bessere Innovation und mit dem preiswerten<br />

Generikum harter Alltag.<br />

Er hat auch nichts gegen einen Vertragswettbewerb<br />

gegenüber den Kassen – soweit diese keine Marktbeherrschung<br />

ausspielen können. Damit werden auch in<br />

den Unternehmen Überlegungen angestoßen, ihre<br />

Rolle im Gesundheitsmarkt zu überprüfen.<br />

Neues Selbstverständnis auch für Pharma<br />

Wenn z.B. Abbott sich dem Leitspruch „turning science<br />

into care“ verpflichtet, dann zeigt das die Abkehr<br />

vom klassischen Selbstverständnis der Pharma als<br />

bloßer Lieferant des (formulierten) Wirkstoffes hin zu<br />

einem Selbstverständnis des Unternehmens, das seine<br />

Leistung vom Forschungslabor bis in die besondere<br />

Bedürfniswelt des Patienten hinein definiert.<br />

Auch Abbott muss sich mit seiner Produktpalette aus<br />

Arzneimitteln, Diagnostika und medizinischer Nahrung<br />

permanent dem Wettbewerb stellen. Das ist richtig<br />

so, weil es erwiesenermaßen die besten Ergebnisse<br />

für den Patienten bringt.<br />

Umso unverständlicher ist, dass wir immer noch nicht<br />

bereit sind, auch andere Leistungsbereiche, Regeln<br />

und Prozesse konsequent auf den Prüfstand der<br />

Wettbewerbstauglichkeit zu stellen. Das ist auch der<br />

Grund, weshalb Abbott als traditionell eher zurückhaltendes<br />

Unternehmen, sich aktiv an der Diskussion zu<br />

diesem Thema beteiligt.<br />

Denn generell gilt: Wirklicher Wettbewerb ist nicht<br />

anarchisch, sondern dynamisch und er schafft das<br />

Bessere.<br />

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