12.07.2015 Aufrufe

adlas-0413

adlas-0413

adlas-0413

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

INHALTREIHE: KONFLIKTZONE OSTASIEN31 CHINESISCH-INDISCHE BEZIEHUNGEN: Rivalen und PartnerIn Asien liefern sich zwei Riesen einen Wettstreit, der in den letztenJahren rasant an Fahrt aufgenommen hat. Dennoch scheuen sichdie Konkurrenten nicht zu kooperieren, wenn es ihrem Interesse dient.36 NOTIZ / FLUGSICHERHEIT: Gefährliche SchnittmengeChinas neue Luftraumüberwachungszone ist nur ein weiterer Zankapfel.Freindschaft Seite 31DIE WELT UND DEUTSCHLAND37 FORSCHUNG UND LEHRE I: Akademischer ZündstoffSeit etwa vier Jahren wird um Zivilklauseln an DeutschlandsHochschulen auf das Heftigste gestritten.Eine Bestandsaufnahme stößt auf zu viele Unklarheiten.47 FORSCHUNG UND LEHRE II: Linksradikale Späthippies?An der Frage, ob eine Zivilklausel an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eingeführt werden sollte, scheiden sich die Geister.ADLAS lässt zwei von ihnen zu Wort kommen.Zivilmacht Seite 37ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 4


INHALTDIE WELT UND DEUTSCHLAND53 VERSORGUNGSSICHERHEIT: Gas gegen WerteEuropas Energieaußenpolitik scheitert trotz Bekenntnis zu einerWerteorientierung an kurzfristigen nationalen Pragmatismen.59 RUSSLAND: Speznaz, Spiele und KorruptionDer Nordkaukasus ist die gefährlichste Region Europas. Moskaukämpft hier einen erbitterten Kampf gegen Separatismusund Terrorismus, steht sich dabei aber oft nur selbst im Weg.Neuland Seite 63BEDIENUNGSANLEITUNG: Liebe Leserinnen und Leser,2 EDITORIAL3 INHALT20 WELTADLAS63 LITERATUR65 IMPRESSUM UND AUSBLICKwussten Sie schon, dass Sie sich durch den ADLAS nicht nur blättern,sondern dass Sie sich auch durch unser eJournal klicken können?Neben den Internetverknüpfungen, denen Sie über unsere Infoboxen»Quellen und Links« in das World Wide Web folgen können, ist jedeAusgabe unseres Magazins intern verlinkt.Über das Inhaltsverzeichnis können Sie durch das Heft navigieren:Klicken Sie hier einfach auf einen Eintrag, oder das Bild dazu, und schonspringen Sie in unserem PDF-Dokument auf die gewünschte Seite.Am Ende eines jeden Beitrags finden Sie die Text-Endzeichen oder einen Autorennamen. Klicken Sie einmal darauf und schonkommen Sie wieder auf die Seite im Inhaltsverzeichnis, von der aus Sie inden Beitrag gesprungen sind. Welchen Weg Sie auchbevorzugen – wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 5


GLAUBE UND SICHERHEITFAKTOR XOb Kreuzzüge oder Djihad – Religion undGlaube spielen seit Menschengedenkeneine gewichtige Rolle im Krieg wie im Frieden.Letzteren anzustreben ist sogar dereigentliche Anspruch aller Weltreligionen.ADLAS greift aktuelle Aspekte herausund will wissen: Wo spielt der Glaube heuteeine sicherheitspolitische Rolle?Foto: Steve Snodgrass / lizensiert gemäß CC BY 2.0ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 6


Der islamistische Prediger Pierre Vogel, auch »Abu Hamza«, während einer Kundgebung in Koblenz im Mai 2011. Foto: Holger Weinandt / CC BY-SA 3.0 DEGLAUBE UND SICHERHEIT: ANTIRADIKALISIERUNGMIT PEITSCHE, ZUCKERBROTUND UNVERMÖGEN von Andreas AuerRadikalisierten Muslimen in Deutschland begegnet der Staatbislang vor allem mit repressiver Strafverfolgung und kaumwirksamer Prävention. Die Behörden agieren oft zu unkoordiniertund mit zu wenig Sachverstand, Akteure aus derZivilgesellschaft werden häufig wenig eingebunden und vielversprechende Ansätze aus der Forschung nurunzureichend berücksichtigt. Das sollte sich ändern.>> Die Radikalisierung in Teilen der salafistischenSzene in Deutschland betrachten Polizei und Verfassungsschutzals zunehmende Gefahr. Seit einigenJahren warnen deutsche Behörden verstärktvor islamistisch motivierten Gewaltakten durchSalafisten. Erst im vergangenen Jahr rückten dieKoranverteilungsaktion der Gruppierung »Diewahre Religion« und die Straßengewalt von Anhängernum den Moscheeverein »Millatu Ibrahim«in den Fokus der öffentlichen Aufmerksam->>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 7


ANTIRADIKALISIERUNGkeit. Besorgniserregend sind, neben der massivensalafistischen Propaganda und einem sprunghaftenAnstieg der Anhänger dieser Strömungen Ende2013, die Ausreisezahlen nach Syrien.»Ich bin der Meinung, dass eine stärkere Aufklärungüber die wahren Absichten der Salafistenerforderlich ist,« sagte BKA-Präsident Jörg Zierckeim April 2012 der Welt und konsequenterweisewird die salafistische Szene mittlerweile intensivdurch die Behörden beobachtet. Dennoch ist bisherinsbesondere über die Prozesse, in denen sichSalafisten – seien sie puristisch ausgerichtet, gewaltlegitimierendoder sogar gewalttätig – vonihrer radikalen Ideologie lösen, wenig bekannt.Weder behandelt die Wissenschaft solche Fällevon De- oder Entradikalisierung intensiv, nochscheint es staatlicherseits eine zielgerichtete Förderungsolcher Ausstiegsprozesse zu geben. Ganzim Sinne der alten Erkenntnis, dass Präventionfast immer wirksamer ist als Repression, stellt sichdaher abseits von repressiven Maßnahmen dieFrage: Was kann und was wird getan, um salafistischenRadikalisierungsprozessen zu begegnen?Die Komplexität der Maßnahmen, die einerRadikalisierung entgegenwirken sollen, beginntbereits beim Salafismus als Untersuchungsgegenstand:Profunde Kenntnisse über die diversensalafistischen Strömungen sind notwendig, da dieKombination aus einem fundamentalistischenIslamverständnis und politischem Weltbild Radikalisierungsprozessebefördern kann. Das heißtauch: Die Akteure, die sich mit der Antiradikalisierungbefassen, müssen die Komplexität undNuanciertheit des Salafismus erst einmal erfassen,um Aktivisten durch pauschale Extremis-musvorwürfe oder Stigmatisierung nicht erst inentsprechende Rollen zu drängen.Da die Radikalisierungsprävention auf denSalafismus als Analyserahmen nicht verzichtenkann, ist zunächst notwendig, die im Diskurs auftauchendenBegriffe zu klären. Das Erkennen unterschiedlichersalafistischer Strömungen sowieihre begriffliche Abbildung können dann als Ansatzpunktefür eingreifende Maßnahmen dienen.Die vierdimensionale Einteilung, die die »ZDK –Gesellschaft Demokratische Kultur« (ZDK) in Berlinerarbeitet hat, ist beispielsweise ein probatesMittel, um einen Überblick über die salafistischenGrobstrukturen in Deutschland zu gewinnen. Irreführendist sie jedoch – wie jede andere Kategorisierung– in der Implikation, dass die aufgeführtenverschiedenen salafistischen Richtungenhomogene und unveränderliche Einheiten seien.Denn in der Realität prägen fließende Übergänge,dynamische Strukturen und hybride Erscheinungsformendie salafistischen Strömungen inDeutschland. Ein Verständnis hierfür und dieständige Beobachtung und Analyse der sich veränderndenSzene ist daher eine unverzichtbareGrundlage für alle Bemühungen auf dem Gebietder Antiradikalisierung.Daneben ist – das liegt in der Natur der Sache– ein tiefgehendes Verständnis von Radikalisierungsprozessenerforderlich. Radikalisierungwird gemeinhin als zunehmende Hinwendung zuextremistischen Denk- und Handlungsweisenverstanden. Dabei ist aber zwischen gewaltloserund -tätiger Radikalisierung zu unterscheiden,denn Radikalisierung führt nicht zwangsläufig zuGewalttätigkeit. Die wenigsten etablierten Pha-RADIKALISIERUNG ISTKEINE EINBAHNSTRASSE.senmodelle, die zur Darstellung von Radikalisierungsprozessen– von der Suche über die Involvierungbis zur Partizipation – entwickelt wurden,berücksichtigen zudem die Möglichkeit derAbwendung vom Engagement in oder sogar dieLoslösung von einer radikalen Gruppe. Eine Forschung,die Radikalisierung nicht als Einbahnstraßeversteht, würde aber überhaupt erst dieGrundlage für die Entwicklung von wirksamenGegenstrategien bilden.Verschiedene Länder haben in den vergangenenJahren, meist staatliche, »Antiradikalisierungsprogramme«implementiert. Der Begriff derDe- oder Antiradikalisierung wird dabei umfassendfür eine Vielzahl von unterschiedlichen Programmenverwendet, bei denen jedes seine eigenen,spezifischen Ziele, subjektiven Teilnahmekriterienund kontextabhängigen Erwartungen andas Mögliche und Erstrebenswerte hat.Die deutschen Maßnahmen konzentrierensich dabei häufig auf die Erkennung von Personenin der Vorphase einer Radikalisierung, umdiese möglichst schon im Vorfeld zu verhindern.Die Ansätze sind also maßgeblich präventiv ausgerichtet.Sie umfassen universell-förderndeMaßnahmen für Jugendliche mit einem vermutetenoder wahrscheinlichen Risiko der Radikalisie->>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 8


ANTIRADIKALISIERUNGDIE »INITIATIVESICHERHEITSPARTNER-SCHAFT« KANNBEREITS ALSGESCHEITERT GELTEN.rung. So veranstaltet zum Beispiel das Landesamtfür Verfassungsschutz (LfV) Bremen Fortbildungenfür Lehrer und pädagogische Fachkräfte inSchulen und in der Jugendarbeit, die das Ziel haben,Hilfen und Erklärungen für Pädagogen imUmgang mit salafistischen Jugendlichen anzubieten.Hinzu kommen Maßnahmen, die auf Gruppenmit bereits abweichendem Verhalten ausgerichtetsind, wie beispielsweise die Förderangeboteder Beratungsstelle Hayat (zu deutsch»Leben«) der ZDK in Berlin.Die Landschaft der deutschen Akteure auf demFeld der Antiradikalisierung gestaltet sich dabeivielfältig: Schon auf Bundesebene gibt es mehrereInstitutionen, die Antiradikalisierungsmaßnahmenin ihrem Programm aufführen. Nebendem 2004 gegründeten »Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum«,dessen Erkenntnisse – beispielsweisezur Dekonstruktion der djihadistischenIdeologie – allerdings als Verschlusssacheeingestuft und damit öffentlich nicht zugänglichsind, ist die »Beratungsstelle Deradikalisierung«,angesiedelt beim Bundesamt für Migration undFlüchtlinge, für solche Maßnahmen zuständig.Die Beratungsstelle ebenso wie die TelefonhotlineHATIF (»Heraus aus Terrorismus und islamistischemFanatismus«) sind allerdings passiveEinrichtungen. Beide Stellen sind nicht alsProgramme vorgesehen, die Hilfe bis weit in diesozialen und persönlichen Belange von betroffenenPersonen hinein anbieten.Die »Initiative Sicherheitspartnerschaft« desBundesinnenministeriums, die als langfristigeKooperation zwischen Sicherheitsbehörden undmuslimischen Verbänden gedacht war, kann hingegenbereits seit der öffentlichkeitswirksamenPlakatkampagne »Vermisst« als gescheitert gelten.Die Kampagne hatte das Ziel, die Beratungsstellebundesweit und insbesondere bei der muslimischenBevölkerung bekannt zu machen. Siewurde in den Sprachen Deutsch, Türkisch undArabisch durchgeführt und umfasste sowohl klassischePrintmedien als auch Onlinewerbung. Viervon fünf muslimischen Verbänden empfanden dieAktion allerdings als Verunglimpfung und staatlicheWarnung vor praktizierenden Muslimen undkündigten daraufhin die Partnerschaft auf.Dieser Vorgang zeigt, dass das notwendigeFingerspitzengefühl bei der Gestaltung von Antiradikalisierungsmaßnahmengar nicht überschätztwerden kann. Denn letzten Endes sind esdie Reaktionen der vermeintlichen oder tatsächlichenAdressaten nicht nur im radikalgewalttätigenMilieu, die ausschlaggebend fürihren Erfolg sind. Am einfachsten lassen sich hierdie Reaktionen von muslimischen Verbänden undsalafistischen Moscheevereinen und Internetseitenauf existierende Maßnahmen analysieren.ANATOMIE DES SALAFISMUSLaut der Journalistin und Publizistin Claudia Dantschkelassen sich im salafistischen Milieu folgende Gruppenunterscheiden: puristische Salafisten, die sich auf sich selbstzurückziehen, politisch-missionarische Salafisten, dieGewalt ablehnen und die Mehrheitder Salafisten in Deutschland bilden, politisch-missionarische Salafisten, die denbewaffneten Djihad legitimieren, und Djihadisten, die den bewaffneten Kampf suchen.Quelle: Institute for the Study of Radical MovementsDabei zeigt sich, dass eine empfundene Stigmatisierungdurch zwar gut gemeinte, aber schlechtauf die »Zielgruppe« eingestellte Antiradikalisierungsmaßnahmender salafistischen Propagandain die Hände spielen und so eine intensive Zusammenarbeitbehindern. Das ist besondersproblematisch, da Muslime als effektivste Botschaftereiner Antiradikalisierung gelten. Bishersind Verbände wie die »Türkisch-Islamische Unionder Anstalt für Religion«, im Türkischen»DITIB« abgekürzt, aber nicht oder nur unzureichendan Präventionsmaßnahmen des Verfassungsschutzesbeteiligt.Stattdessen sorgen die Verfassungsschutzämterder Länder, wie das in Niedersachsen, mit einemErlass zu verdachtsunabhängigen Moscheekontrollenund einer sogenannten »Islamisten-Checkliste« für Aufruhr unter eben jenen Akteu->>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 9


ANTIRADIKALISIERUNGren, die man eigentlich als Partner gewinnenmüsste. Die muslimischen Verbände solltenstattdessen in ihrer Rolle als Multiplikatoren indie muslimischen Gemeinschaften gefördert undeingebunden werden. Maßnahmen wie Moscheekontrollenwerden von salafistischer Seite zumeistumgehend als antiislamisch dargestellt undzur Rechtfertigung eigener Positionen genutzt.Wenn Antiradikalisierungsmaßnahmen allerdingspotenzielle Partner verschrecken und salafistischeNarrative bedienen, werden sie schnellkontraproduktiv. Die Deutsche Islamkonferenzempfiehlt daher, gleich ganz auf den Präventionsbegriffzu verzichten.Die Maßnahmen auf Landesebene hingegenprägen diverse Initiativen der LfVs sowie der Landeskriminalämter(LKA). Deren Zuständigkeit unddie Art, wie sie die Maßnahmen ausgestalten, sindumstritten. Offen bleibt, welche Rolle den Ämternbei Maßnahmen, die über die Überwachung hinausgehen,überhaupt zufällt. Manche Verfassungsschutzämter,wie beispielsweise das bayerische,halten Aussteigerprogramme, die von Sicherheitsbehördenimplementiert werden, fürfalsch. Darüber hinaus sind eine Reihe von zivilenBeratungsstellen mit dem Fokus der universellenPrävention in einigen Bundesländern tätig. Allenvoran sind dies die ZDK und die BeratungsstelleHayat in Berlin, der »Verein für multikulturelleKinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit« inBochum sowie der »Verein zur Förderung akzeptierenderJugendarbeit« mit der Beratungsstelle»kitab« in Bremen. Das »Violence Prevention Network«,das seit 2001 Anti-Gewalt-Training in Gefängnissenanbietet, ist mittlerweile der viertezivile Partner der »Beratungsstelle Deradikalisierung«und für Süddeutschland zuständig. DerVerein »ufuq.de« und das »Team meX« der Landeszentralefür politische Bildung in Baden-Württemberg sind ihrerseits in der präventivenJugendarbeit tätig. Ziel dieser Stellen ist es, radikalenEinstellungen und demokratiegefährdendenPositionen vorzubeugen und zu begegnen.Bedingt durch die föderale Struktur existierenalso diverse Akteure, die eine heterogene Projektlandschaftentstehen lassen. Hinderlich fürpotentielle Synergieeffekte und nachhaltige Erfolgesind dabei ein mangelhafter überregionalerAustausch und die fast immer nur befristete Einrichtungvon zivilen Stellen. Nach wie vor fehlt esin der Fläche an ausreichend geschulten Ansprechpartnernfür betroffene Familien. Der Fokusliegt deutlich auf der Präventionsarbeit undes existiert wenig Experimentierfreudigkeit.Problematisch ist zudem, dass die meisten Maßnahmenöffentlich als De- oder Antiradikalisierungsprogrammebetitelt werden. Das weckt einerseitsutopische Erwartungen an die Wirkungsolcher Maßnahmen und verschließt andererseitsden Zugang zu Personenkreisen, die sich nicht»deradikalisieren« lassen wollen.Ungeklärt bleibt zudem, inwieweit nachrichtendienstlicheoder polizeiliche Ämter überhauptAufgaben abdecken sollten, die in großem Maßeden Bereich der Sozial- und Bildungsarbeit berühren.Zivile, vor allem muslimische, Akteurewären aufgrund ihrer Akzeptanz unter Muslimenund ihrer religiösen Autorität hier besser geeignet.Bisher werden insbesondere muslimischeOrganisationen aber nur mangelhaft einbezogen– sei es, weil sie es nicht können oder nicht willenssind, die staatlichen Antiradikalisierungsmaßnahmenzu unterstützen.So scheuen zum einen die Verbände selbst oftdie Auseinandersetzung mit Salafisten, denn Letztereerreichen diejenigen Jugendlichen, welche dieFINGERSPITZENGEFÜHLBEI DER GESTALTUNGVON ANTIRADIKALI-SIERUNGSMASSNAHMENKANN NICHTÜBERSCHÄTZT WERDEN.Verbände selbst nicht für den Glauben begeisternkönnen. Zum anderen sprechen viele Prediger derDITIB, die aus der Türkei als Staatsbedienstete füretwa fünf Jahre nach Deutschland entsandt werden,meist nicht ausreichend Deutsch und sinddamit gar nicht in der Lage, Jugendliche in ihrenLebenswelten zu erreichen. Erst Anfang diesesJahres wurde der Bundesjugendverband der Türkisch-IslamischenUnion durch die 15 DITIB-Landesjugendverbände gegründet.Positiv fällt auch ein wachsendes Engagementder neu entstandenen islamischen Theologielehrstühlein Deutschland auf. An vier Universitätsstandortensind diese in den letzen Jahrenentstanden, um Theologen für den islamischen>>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 10


ANTIRADIKALISIERUNGSCHLECHT GEMACHTEANTIRADIKALISIERUNGWIRKT SCHNELLKONTRAPRODUKTIV.Religionsunterricht auszubilden. Diese könnenaufgrund ihrer Fachkompetenzen die notwendige,öffentlich-argumentative Auseinandersetzungmit den religiös begründeten islamistischenPositionen von Salafisten fördern und führen.Allerdings zeigt das Beispiel der IslamischenTheologie in Münster um Professor MouhanadKhorchide und seine moderne Islamauslegung,dass dies nicht immer ohne Widerstand seitensder Verbände geschieht.Weitgehend unberücksichtigt bleiben bei allden deutschen Antiradikalisierungsbemühungenbislang Erkenntnisse über das durch den irischenPsychologen John Horgan geprägte »Disengagement«.Beschreibt Deradikalisierung in der Regeleinen Prozess, der die Aufgabe von extremistischenHandlungen, die Herauslösung aus demradikalreligiösen Umfeld und (Wieder-) Anerkennungder bestehenden Rechtsordnung umfasst,so ist Disengagement aus Perspektive der Radikalisierungsforschungbedeutend, da es ohne eineDeradikalisierung stattfinden kann. Damit ist eswomöglich das realistischere Ziel, da Personenvon gewalttätigen Aktivitäten abrücken können,ohne dabei ihre Beweggründe oder ihren Glaubenaufgeben zu müssen. Disengagement kann verschiedeneUrsachen haben. Während auf psychischerEbene Desillusionierung, Unzufriedenheit,oder gar Burn-Out potenziell zur Entfremdungvon radikal-gewalttätigem Gedankengut führen,können auch das physische Verlassen einer Gruppierungoder Rollen- oder Funktionswechsel – obfreiwillig oder beispielsweise durch eine Inhaftierungerzwungen – solche Prozesse anstoßen undbefördern. Die Gründe für Disengagement unterteiltdie Forschung dabei in so genannte PushundPull-Faktoren.Push-Faktoren, deren Effekte kaum vorhersehoderpräzise bestimmbar sind, sind von den radikalisiertenAkteuren negativ empfundene Umständebeispielsweise soziale Kräfte, die einefortgesetzte Partizipation im radikalgewalttätigenUmfeld unattraktiv machen. Dazukönnen die Strafverfolgung, elterliche oder sozialeMissbilligung und Gegengewalt durch andereGruppen gehören. Ebenso bedeutend sind gruppeninterneFaktoren, wie der Verlust des Glaubensan die Gruppenideologie oder -politik, einepersönliche Desillusion aufgrund von gewalttätigenAktivitäten sowie der Verlust von Vertrauen,Status oder Position innerhalb der Gruppe. SozialeKräfte, die als attraktiv wahrgenommen werden,sind Pull-Faktoren und können zum Beispielder Wunsch nach Freiheit, Bildungsmöglichkeitenoder Familie sein. Desillusionierung, etwadurch eine empfundene, fehlende Übereinstimmungvon Idealen und tatsächlich Erlebtemebenso wie positive Anreize, bilden daher möglicherweiseInterventionspunkte, um Disengagementzu fördern.>>DERADIKALISIERUNG UND DISENGAGEMENTDeradikalisierung beschreibt den Zustand, bei dem eineradikalisierte Person ihr Bekenntnis und Engagementfür extremistische Denk- und Handlungsweisen aufgibt.Es besteht kein Risiko eines weiteren Engagementsoder einer Involvierung in Gewalttaten.Im Gegensatz dazu beschreibt Disengagement nichtdas Verlassen einer Gruppierung oder das Ablegen entsprechenderIdeologien, sondern lediglich das Unterlassenvon Handlungen, speziell der Gewalt und desbewaffneten Kampfes. Die Gründe dafür können psychischer(Desillusionierung) oder physischer Natur(Rollen- oder Funktionswechsel) sein, freiwillig oderunfreiwillig. Bedeutend ist, dass Disengagement ohneeine Deradikalisierung stattfinden kann und es für politischeMaßnahmen das realistischere Ziel darstellt.ANTIRADIKALISIERUNGÜber den Begriff der Deradikalisierung herrscht keinekonzeptuelle Klarheit; der Terminus scheint für jeglicheBemühungen, die das Ziel haben, eine Radikalisierungzu verhindern, verwendet zu werden. Da der akademischeDiskurs zwischen Disengagement und Deradikalisierungunterscheidet, werden alle Maßnahmen, diedarauf abzielen, einer Radikalisierung – egal ob gewaltbereitoder nicht – vorzubeugen, die einer Involvierungin radikale Gruppen entgegen wirken oder die die Loslösungvon solchen Gruppen, physisch oder psychisch,fördern, als Antiradikalisierung bezeichnet. So könnenalle präventiven, begleitenden oder kurativen Maßnahmenunter einem Begriff subsumiert werden und einekonzeptionelle Trennung zwischen Disengagement undDeradikalisierung bleibt möglich.Quelle: SicherheitspartnerschaftADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 11


ANTIRADIKALISIERUNGDie hohen Hürden des Austritts behindern Pull-Faktoren allerdings oft. Dazu zählen die bereitsgeleistete Investition von Zeit und Einsatz, dieFurcht vor Repressalien durch die Gruppe und dieGefühle von Einsamkeit und Schutzlosigkeit.Selbst wenn eine Person nicht mehr an den politischenZielen oder der Gruppenideologie festhält,kommt der Austritt dem Verlassen einer Familieund dem Verlust einer Identität gleich. Disengagementkann folglich einen erheblichensozialen und kognitiven Wandel für eine Personbedeuten. Diese Hürden sollten durch entsprechendeAngebote adressiert und ihre Wirkung aufdie Person minimiert werden.Im Dezember 2013 hat die Ständige Konferenzder Innenminister auf Initiative Hessens einenBericht beantragt, der die verschiedenen Ansätzezu einer gemeinsamen Rahmenkonzeption zurImplementierung von »Präventionsnetzwerkengegen Salafismus« in Bund und Ländern zusammenführensoll. Dieser Schritt ist überfällig, dennder deutsche Flickenteppich von Akteuren undMaßnahmen macht den Mangel an einer zentralkoordinierenden Stelle deutlich, die Aufgabenund Zielvorgaben definiert. Eine solche Stellekönnte ein flächendeckendes Netzwerk unterstützen,das Push- ebenso wie Pull-Faktorenidentifiziert und gezielt fördert, um entsprechendeRisikogruppen im Dunstkreis von salafistischenMoscheevereinen wirksam zu erreichen.Das bedeutet nicht automatisch, dass der derzeitigeFokus auf Präventions- und Sensibilisierungsmaßnahmenverfehlt ist.Der Wirkungsbereich der meisten ergriffenenMaßnahmen scheint allerdings momentan zu en-den, wenn eine Person einer salafistischen Gruppierungbeitritt. So werden weitere mögliche Interventionspunkte,die noch intensiv zu erforschensind, bislang fast vollkommen außer Achtgelassen.Da die Rolle von Gegendiskursen für Disengagement-Prozessekaum zu unterschätzen ist,sollten daher Strategien entwickelt werden, diedie existierende Disharmonie zwischen rivalisierendensalafistischen Gruppen fördern. Das umfasstauch die stärkere Einbindung von Aussteigernin solche Bemühungen – ähnlich wie diesbereits im rechtsextremen Spektrum praktiziertwird. Durch Berücksichtigen der Frage, was diePartizipation in salafistischen Gruppierungenattraktiv macht, ließen sich gleichzeitig alternativeAngebote als Elemente in Antiradikalisierungsprogrammenentwickeln.Der Psychologe Horgan plädiert für eine Multi-Track-Strategie: Identifizierte Push-Faktoren,also negative Umstände, sollten deutlich kommuniziertwerden, um der Partizipation in radikalenGruppen die Attraktivität zu nehmen. Dazu gehörtes, einem romantisch verklärten Djihad-Bild, das den bewaffneten Kampf als religiösePflicht und kameradschaftliches Abenteuer auslegt,zu begegnen und es durch die Konfrontationmit der Realität zu entmystifizieren.Wie vorsichtig mit dem Push-Faktor des Vereinsverbotsund der Inhaftierung umgegangenwerden sollte, zeigt allerdings das Beispiel von»Millatu Ibrahim«. Als Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich die im Herbst 2011 gegründetesalafistische Organisation im April 2012 verbot,setzten sich zahlreiche Mitglieder ins arabische>>VOM GANGSTA-RAPPER ZUM DJIHADISTENDenis Mamadou Gerhard Cuspert, Jahrgang 1975, Halb-Ghanaer und Berliner, machte Karriere als Gangsta-Rapper. Bis 2010 pflegte er als »Deso Dogg« einen szenetypischausschweifenden Lebensstil. Dann nahm erüberraschend den Namen »Abou Maleeq« an und machtefortan mit radikal gewandeltem Umgang, Nashid-Musik und islamistischen Propagandavideos auf sichaufmerksam. Als Mitglied der verbotenen salafistischenGruppe »Millatu Ibrahim« gelangte er in der Folgezeitnicht nur zu zweifelhafter Prominenz, sondern auchimmer stärker ins Visier der deutschen Sicherheitsbehörden.Seiner Verhaftung konnte er sich 2012 durcheine Flucht nach Ägypten entziehen, die ihn schließlichbis nach Syrien in den Kampf gegen das Assad-Regimeführte. Dort wurde er wiederholt für tot erklärt, tauchteaber – zuletzt deutlich angeschlagen im Dezember 2013– immer wieder lebendig in salafistischen Rekrutierungsvideosfür den Djihad auf. Foto: Matti Hillig / CC VY-SA 3.0ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 12


ANTIRADIKALISIERUNGAusland ab und entzogen sich so der polizeilichenwie nachrichtendienstlichen Verfolgung.Gleichzeitig müssen geeignete – vor allemauch muslimische – Multiplikatoren die Legitimitätdjihadistischer oder den Djihad befürwortenderGruppen in Frage stellen. PuristischeGelehrte zur Delegitimierung der djihadistischenPositionen aktiv einzubinden, ist allerdingseine verheerende Strategie, weil dadurchantiwestliche Elemente gefördert werden. Anreize,die sowohl psychologischer, ideologischer,sozialer als auch ökonomischer Art seinkönnen und individuell auf die Bedürfnisse vonentsprechenden Personen zugeschnitten sind,»DISENGAGEMENT«IST VIELLEICHT DASREALISTISCHERE ZIEL.können den schwierigen Schritt des Austrittssicher erleichtern. Die Einbindung aller Akteureund Multiplikatoren in einer Kombination ausharten und weichen Maßnahmen würde so dengrößten Effekt auf salafistische Milieus erzielen.Die Konzertierung der Maßnahmen – also dieFähigkeit, zielgerichtet, kooperativ und arbeitsteiligzu wirken – ist absolut zentral für den Erfolgder Maßnahmen. Notwendig dafür sind dieZusammenarbeit aller Akteure, eine ausgeprägteInformationsweitergabe und ein reflektiertesVorgehen.Andreas Auer hat Islamwissenschaft und Konfliktforschungin Bochum, Sanaa und Frankfurt studiert.Er arbeitet derzeit für die GIZ in Libyen.QUELLEN UND LINKS:Webdossier der Bundeszentrale für politischeBildung zum Thema IslamismusWebpräsenz der »Türkisch Islamischen Union derAnstalt für Religion e.V.« (DITIB)Bericht auf Zeit-Online zur islamischen Theologiein Münster vom 10. Januar 2014Themenheft »Deradikalisierung« der Aus Politikund Zeitgeschichte, vom Juli 2013Forschungspapier des »Institute for the Studyof Radical Movements« zum »Pop Jihad«von Claudia Dantschke aus dem Jahr 2013Beiträge von Michail Logvinov und AymanMazyek zur Radikalisierungsforschung im MagazinInterventionen vom September 2012Bericht der Welt vom 14. April 2012Editorial »Processes of Radicalization and De-Radicalization« von Donatella Della Porta undGary LaFree im International Journal of Conflict andViolence, Ausgabe 1/2012ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 13


Empfangsbereich des 2012 neu eingeweihten Scientology-Zentrums in Hamburg. Foto: Scienttology Media / lizensiert gemäß CC BY-SA 2.0REIHE: SEKTENÜBERWACHUNGNOTIZHARMLOSERESCIENTOLOGEN?In den USA vor allem als Kirche derCelebrities bekannt wird inDeutschland Scientology vomVerfassungsschutz beobachtet –jedenfalls bislang noch.Der »Psychotechnikkonzern« Scientology seidem Philosophen Peter Sloterdijk zufolge die Parodieeiner Religion, die ernsthaft behaupte einezu sein. Doch bei den Machenschaften der Organisationversteht der Verfassungsschutz hierzulandekeinen Spaß. Seit 1997 wird die Sekte von den Behördenbeobachtet. Ein Bericht des Landesamtesfür Verfassungsschutz Baden-Württemberg warnte2008, »dass Scientology zielstrebig auf eine totalitäreStaatsordnung hinarbeitet.«Daher überraschten nun Überlegungen desBundesamtes, die Überwachung des in Deutschlandeingetragenen Vereins zu reduzieren. Grundsei ein angestoßener »Priorisierungsprozess« allerArbeitsfelder des Nachrichtendienstes. Dochbislang wollte kein Sprecher des Amtes gegenüberMedien ein vom Spiegel zitiertes Schreibenbestätigen, wonach die Beobachtung auf ein Minimumbeschränkt werden solle. Und die Kollegenaus Baden-Württemberg behalten die Organisationganz offensichtlich weiter im Visier –wie auch Hamburg oder Niedersachsen.Der Science-Fiction-Autor Lafayette Ron Hubbardgründete 1954 seine »Church of Scientology«,nachdem ihm 1950 mit dem Selbsthilfe-Buch»Dianetics: The Modern Science of MentalHealth« ein Branchenbestseller gelungen war. AlsReligionsstifter konnte er sich damit von Steuernwie von Fachkritik befreien. Denn die erleuchteteLehre jenseits irdischen Wissens war nunmehrwissenschaftlich unangreifbar. In nur wenigenJahrzehnten erfolgte der Aufbau einer Organisationdurch die Rekombination kirchengeschichtlicherZitate: sei es das Hierarchieprinzip der achtStufen für angehende »Thetane«, eine Art Seele,oder käufliche Heilsversprechen, wie sie noch derkatholische Ablasshandel im Mittelalter kannte.Abtrünnige werden mit dem Psychoterror einererzkonservativ gelebten Religiosität bestraft. hawQuellen und Links:Suchergebnisse zum Stichwort »Scientology«auf der Website des Landesamt fürVerfassungsschutz Baden-WürttembergMeldung des Spiegel vom 25. November 2013Broschüre des Landesamt fürVerfassungsschutz Baden-Württemberg»Scientology-Organisation«, 2008ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 14


Die Kaaba in Mekka, Saudi-Arabien. Foto: Omar Chatriwala / lizensiert gemäß CC BY 2.0RELIGION UND SICHERHEIT: KONFESSIONENDer Konflikt zwischenden beiden größtenislamischen Bekenntnissenim Nahen Osten beruhtauf alten religiösenGegensätzen. Angeheiztwird er jedoch vorallem durch sunnitischeIslamisten und diemachtpolitisch motivierteAnti-IranpolitikSaudi-Arabiens.SUNNITEN GEGENSCHIITEN von Guido Steinberg>> Seit im Mai 2013 deutlich wurde, dass die libanesischeHizbullah im syrischen Bürgerkrieg aufSeiten des Assad-Regimes kämpft, ist immer häufigerdie Rede von einem eskalierenden Religionskriegzwischen Schiiten und Sunniten. Auf dereinen Seite stünden der schiitische Iran, die Hizbullah,das Alawitenregime in Damaskus und dieschiitisch dominierte Regierung in Bagdad, aufder anderen die sunnitische Führungsmacht Saudi-Arabien,die Türkei, Katar und die sunnitischenAufständischen in Syrien. Glaubt man derverbreiteten Darstellung, so seien der syrischeBürgerkrieg, die Proteste gegen die Zentralregierungim Irak und das schiitische Aufbegehren inBahrain Teile eines tausend Jahre alten Konflikteszwischen den beiden Glaubensrichtungen.Dieser Argumentation steht vor allem entgegen,dass Sunniten und Schiiten über weite Streckender Geschichte friedlich zusammenlebten.Diese verbreitete Darstellung vom Religionskrieggeht vor allem auf sunnitische Akteure in der Regionzurück, bei denen antischiitische Ressentiments,ohne Unterscheidung verschiedener schiitischerGruppen und Sekten, seit dem Irak-Krieg 2003 zunehmen.Die Schiitengegner im Nahen Osten glauben,dass Schiiten in arabischen Staaten nicht herrschendürften, obwohl diese im Irak rund 60 Prozent,in Bahrain 50 bis 70 Prozent, im Libanon 35 bis50 Prozent, in Kuwait 20 bis 30 Prozent, in den VereinigtenArabischen Emiraten bis zu 20 Prozent undin Saudi-Arabien rund 10 Prozent der Bevölkerungstellen. Vielmehr müssten schiitische Regierungenwie in Syrien und im Irak sowie substaatliche Akteurewie die Hizbullah bekämpft werden.Der Antischiismus der Salafisten unddes saudi-arabischen StaatesDie wichtigsten Träger antischiitischen Gedankengutssind salafistische Religionsgelehrte, Intellektuelleund Gruppen. Ihre Ideologie geht auf sunnitischeReformbewegungen des 18. und 19. Jahrhundertszurück, die versuchten, ihre Gesellschaftendurch eine Rückkehr zur Lebensweise der Zeitdes Propheten und seiner Gefährten zu verändern.Ihre Rückbesinnung auf die Zeit der "frommenAltvorderen" bewirkte häufig, dass die alten Debattenüber die Frage, ob die Kalifen der Sunnitenoder die Imame der Schiiten die legitimen Nachfolgerdes Propheten Muhammad seien, neu entfachtwurden. Die meisten dieser Reformbewegungen,wie an erster Stelle die Wahhabiya in Arabien,>>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 15


KONFESSIONENhalten die Schiiten für Ketzer, die lediglich behaupten,Muslime zu sein, und so die einzig wahreReligion von innen korrumpieren. Dies gilt auchfür den Salafismus, der von der Wahhabiya beeinflusstwurde und seit den 1970er Jahren an Zulaufgewinnt. Seit Beginn des Arabischen Frühlings2011 können die Salafisten sehr viel freier agierenals früher, die Bewegung scheint insgesamt anzuwachsen.Entsprechend gewinnen auch ihre antischiitischenRessentiments an Bedeutung.Die Zunahme der konfessionellen Feindseligkeitenhat eine weitere Ursache in der PolitikSaudi-Arabiens, der heutigen Führungsmacht dessunnitischen Lagers. Seit der Islamischen Revolutionin Iran 1979 wurde der Antischiismus dessaudi-arabischen Staates – in dem die Wahhabiyaals die offizielle Islaminterpretation gilt – zu einemregionalpolitischen Thema gemacht. DieFührung in Riad nimmt den schiitischen Iran alseine Macht wahr, die versucht, im Nahen Osteneine Hegemonialstellung einzunehmen. Den arabischenSchiiten unterstellt sie, eine "fünfte Kolonne"des schiitischen Nachbarn zu sein. Seit1979 bemüht sich die saudi-arabische Führungdeshalb, jeglichen Einflussgewinn der Iraner unddamit jegliche Emanzipation der Schiiten in derarabischen Welt zu verhindern.Das Zusammenspiel von Glaube und Machtim syrischen BürgerkriegWährend der Irak zwischen 2003 und 2008 zumSchlachtfeld der konfessionellen Auseinandersetzungwurde, geht sie in Syrien in eine neue Etappe.Glaube und Macht wirken vor allem auf sunnitischerSeite zusammen, denn die meisten aufständischenGruppierungen vertreten einen religiösbegründeten Antischiismus, den sie auf dieherrschenden Alawiten beziehen, obwohl diemeisten Schiiten die Alawiten als ketzerischeSekte betrachten. Damit ergänzen sie die machtpolitischenInteressen ihrer Unterstützer amGolf, denen es vor allem darum geht, den wichtigstenVerbündeten Irans im Nahen Osten zustürzen. Beides zusammengenommen heizt diekonfessionellen Spannungen weiter an. Schonheute ist der Nahe Osten zwischen den meistnicht-sunnitischen Unterstützern des Assad-Regimes und seinen meist sunnitischen Gegnerntief gespalten. Der Konflikt droht, sich auf dieNachbarstaaten Libanon und Irak mit ihren ohnehintiefen religiösen Bruchlinien auszuweiten.Die iranische Führung befürchtet, wahrscheinlichnicht zu Unrecht, dass ein Machtwechsel in Damaskusfür die Saudis und ihre Verbündeten nurder erste Schritt zum Sturz der Regierungen inBagdad und Teheran sei. Dementsprechend massivfällt die iranische Unterstützung für Assadund sein Regime aus. Eskaliert der Konflikt weiter,dürfte dies auch zu einer weiteren Mobilisierungder schiitischen Gemeinden am Golf führen.Die brutale Repression der Schiiten in Bahrainund Saudi-Arabien droht junge Aktivisten dort indie Arme Irans zu treiben.So wird der religiöse Gegensatz durch dieMachtpolitik sunnitischer Akteure geschürt, dieaus ihrer Wahrnehmung zweier sich unversöhnlichgegenüberstehender, konfessionell geprägterBlöcke eine sich selbst erfüllende Prophezeiungmachen. Auch wenn der Einfluss der Amerikanerund Europäer auf dieses Geschehen begrenzt seinmag, ist die Beobachtung wichtig, dass es mitihnen verbündete Regierungen wie die Saudi-Arabiens sind, die die konfessionellen Spannungenanheizen. Da der Konflikt in Syrien anhaltendürfte, der Irak in absehbarer Zeit nicht zu einemstabilen Staat wird und auch die iranisch-saudiarabischeAuseinandersetzung längerfristigerNatur ist, gilt es, eine Eskalation der religiösenSpannungen zumindest dort zu vermeiden, wodie Lage noch nicht aussichtslos ist. Hierzu mussder Westen auf Staaten wie Saudi-Arabien Einflussnehmen. Eine Entspannung könnte Riadschon durch Schritte hin zu einer Gleichberechtigungder Schiiten im eigenen Land bewirken.Darüber hinaus könnte die saudi-arabische Regierungeine politische Regelung des Konfliktesim benachbarten Bahrain erzwingen. Jeder nochso kleine Schritt wäre im Moment wichtig, umeine Eskalation der Konfrontation zwischen Schiitenund Sunniten in der Gesamtregion zu verhindern.Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler der ForschungsgruppeNaher/Mittlerer Osten und Afrikader Stiftung Wissenschaft und Politik.QUELLEN UND LINKS:Guido Steinberg: »German Jihad: On theInternationalization of Islamist Terrorism«. NewYork (Columbia University Press) 2013Guido Steinberg: »Wer sind die Salafisten?«,Forschungspapier der Stiftung Wissenschaft undPolitik vom Mai 2012ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 16


Südsudanesische Rebellen im September 2000. Foto: UNICEFGLAUBE UND SICHERHEIT: KRIEGSGRÜNDEKampf ums Öl, Zusammenprallder Religionen ... Diegewaltsamen Auseinandersetzungenim ehemaligenGesamtsudan scheinenmanchmal von nur je einemFaktor dominiert zu seinwie im Moment der Kampfzweier Stämme um dieMacht im Südsudan.Trotz der Aufmerksamkeitfür das Duell zwischen PräsidentSalva Kiir Mayardit und demPutschisten Riek Machar – dieinterne Auseinandersetzung imjüngsten Staat Afrikas bleibtin äußerst komplexe Konfliktursacheneingebettet.Unter diesen spielt der Glaubenur eine, aber immerhineine relativ wichtige Rolle:Der Versuch des Nordens nachdem Ende der Kolonialzeit,den Süden zu islamisieren, hatbei den Menschentiefe Wunden hinterlassen.PATCHWORK-KONFLIKT>> Unterschiedliche Religionen trennen den Nordenund Süden des ehemaligen Sudan schon seitdem siebten Jahrhundert. Arabische Händler habenden Islam in das bislang christlich geprägteLand gebracht, und der neue Glaube setzte sichim nördlichen Landesteil durch. Den Süden hingegenprägen bis heute unterschiedliche animistischeReligionsgemeinschaften, die sich teils invon Yvonne Försterlingandauernden Konflikten gegenüber stehen, nebender heute knappen christlichen Mehrheit undeiner kleinen muslimischen Gemeinde.Die Briten machten sich diese Trennung zwischendem religiös homogeneren Norden unddem heterogenen Süden während ihrer Kolonialherrschaft1899 bis 1956 zunutze: Um den Sklavenhandeleinzudämmen, zogen sie eine admi->>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 17


KRIEGSGRÜNDESÜDSUDANS JÜNGSTER REBELLRiek Machar war von Juli 2011 bis Juli 2013 Vizepräsidentdes Südsudan, als er von Präsident Salva KiirMayardit entlassen wurde. Der Presbyterianer Macharstammt aus der Ethnie der Nuer, eine Minderheit imSüdsudan von knapp einer Million Menschen, der KatholikKiir dagegen aus dem Volk der Dinka, mit viereinhalbMillionen Angehörigen die größte Gruppeunter den geschätzt neun bis zehn Millionen Südsudanesen.Der 60-jährige Machar sonderte sich politischin den 1990er Jahren von Rebellenführern andererBevölkerungsgruppen ab und wechselte im Bürgerkriegmehrmals die Seiten, bevor er 2002 wiederAufnahme in der heute regierenden »Sudan People’sLiberation Movement« fand. Heute gilt er als derjenige,der hinter dem vermeintlichen Putschversuch gegenPräsident Kiir am 16. Dezember 2013 steht. SeinNachfolger im Amt ist James Wani Igga, ein Katholikaus der Gruppe der Bari.Foto: Voice of Americanistrative Grenze zwischen den beiden Landesteilen.Und da es zu dieser Zeit Erdölvorkommennur im Norden des Landes gab, vernachlässigtedie Kolonialmacht den Süden.In Vorbereitung auf die Unabhängigkeit beschlossendie Briten gemeinsam mit Vertreternaus dem Norden und Süden des Landes 1947 –trotz der bisherigen divergenten Entwicklung derRegionen – eine »Wieder«-Vereinigung des Sudan.Der Norden setzte die Islamisierung für dengesamten Sudan durch, wie auch das Arabischeals einheitliche Amtssprache. Das stülpte demSüden eine Ordnung über, die der Tradition undReligion des Nordens entsprach, nicht aber dersüdsudanesischen Bevölkerung. Die Entwicklunggipfelte darin, dass der damalige Präsident DschafarMuhammad an-Numairi 1983 die Scharia alsGrundlage aller Rechtsprechung für den Gesamtsudaneinführte. Aus dieser Bevormundungresultierten zwei Bürger- beziehungsweise Sezessionskriege.Der zweite endete 2005 und brachte– nach einem in den Friedensverhandlungen beschlossenenReferendum – am 9. Juli 2011 dieunabhängige Republik Südsudan hervor.Der Aufbau dieses jüngsten Staats Afrikas leidetunter verschiedensten Schwierigkeiten. Besondersaber die Heterogenität des Landes erschwertdie Etablierung einer einheitlichen Verwaltung.Die würde auf einer klaren Unterteilungdes Landes basieren. Die Grenzen zwischen denLandkreisen (»counties«) unterliegen aber durchdie fast schon traditionellen Kämpfe der individuellenReligions- und Stammesgemeinschaftenum Land und Vieh stetigem Wandel. Bei der Verheiratungeines Sohnes zum Beispiel muss dessenGIBT ES EINENSTROMAUSFALL, HABENNORDSUDANESISCHEREBELLEN DENGENERATOR SABOTIERT.Familie einen Brautpreis an die Familie der Brautzahlen. Steigt dieser Preis, müssen viele Bauernbeim Nachbarn Vieh stehlen, um ihn bezahlen zukönnen. Überhaupt gilt Viehdiebstahl als eineReifeprüfung für Jünglinge.Schon der erste sudanesische Bürgerkrieg von1955 bis 1972 hat diese Konflikte der Südsudanesenuntereinander befeuert. Nach dem Motto»teile und herrsche« setzte der Norden darauf, dieverschiedenen Stämme des Südens gegeneinanderaufzubringen, und lieferte an einzelne vonihnen Waffen. Die resultierenden blutigen Auseinandersetzungenwirken bis heute nach.Die Fixierung auf den früheren Gegner imNorden zieht sich bis in den Alltag der Menschenim Südsudan. Gibt es etwa einen Stromausfall,haben nordsudanesische Rebellen denGenerator sabotiert. Viele Südsudanesen glauben,ihrer Regierung werde von Khartum keineWahl in ihrem Handeln gelassen; Präsident SalvaKiir Mayardit sprechen sie so von jeglichemeigenen Versagen frei.Wegen der vorigen Kriege und andauernderSpannungen bleibt der Südsudan hochmilitari->>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 18


KRIEGSGRÜNDEsiert. Aber auch weil die Streitkräfte eine derwenigen Erwerbsmöglichkeiten bieten, liegt esnicht im Interesse vieler, die Zahl der Soldatenzu verkleinern. Alternative Einkommensquellensind – teils aufgrund der hohen Analphabetismusrate– kaum vorhanden.Präsident Kiir, bekennender Katholik, hat aufdie lang verankerten inneren Konflikte wenigEinfluss. Für seine Legitimation als Präsidentdes Landes hat er bislang die Außenpolitik genutzt.Mit einem energischen Auftreten gegenden Norden im Machtkampf um das Öl versuchter Stärke zu beweisen.80 Prozent der Ölvorkommen des Gesamtsudansliegen im Süden, sind aber im Norden verarbeitetund über den Port Sudan exportiertworden. Der Hafen wird seine Bedeutung für dieÖlwirtschaft verlieren, sollte er aus dem Südenweiterhin nicht beliefert werden. Da Nord undSüd sich zur Unabhängigkeit des Südsudan überdie Aufteilung der Erlöse aus dem Ölgeschäftnicht geeinigt haben, schwelt der Streit über dieRessource weiter.Anfang 2012 stellte der Süden die Förderungein, nachdem sich beide Regierungen auch ineinem neuen Anlauf über die Aufteilung der mitdem Erdöl gewonnen Erlöse nicht einigen konnten.Da aber sowohl Khartum als auch Juba aufdie Einnahmen angewiesen sind, schlossen beideSeiten nach einer Verständigung im September2012 im März 2013 ein Abkommen, das dieTransitgebühren für den Öltransport nach PortSudan regelt.Der in dieser Sache gewonnene Kompromissist allerdings ein wackliger. Im Juni drohte SudansPräsident Omar al-Bashir, die Pipelines zusperren, weil Südsudan angeblich Rebellen imNorden mit der Lieferung von Waffen und Fahrzeugenunterstützen würde. Bashir bemängeltezudem eine mangelnde Zahlungsmoral des Südenshinsichtlich der Transitgebühren.Umgekehrt wirft Salva Kiir dem Regime Bashirsvor, oppositionellen Milizen im Süden materiellunter die Arme zu greifen, insbesondere Milizen imunruhigen Bundesstaat Jonglei. Und nicht zuletztWURDE KHARTUMMIT DERUNABHÄNDIGKEIT DESSÜDSUDANS UM DENKONFLIKTFAKTORRELIGION ERLEICHTERT?soll der Norden angeblich während des Transportsdurch seine Pipelines Öl aus dem Süden abzapfen.Nach Meldungen vom Juli hat Ölminister StephenDhieu Dau verlautbart, die Förderung erneut ganzeinzustellen zu wollen. Ein Ende des Konfliktes umdas Schwarze Gold ist nicht in Sicht.Omar al-Bashir hat indes mit Problemen imeigenen Land zu kämpfen. Dazu gehören der fortdauerndeDarfur-Konflikt genauso wie Massenprotestegegen seine Regierung, die vergangenesJahr wegen eines schrumpfenden Staatshaushaltsdie Benzinsubventionen für die breite Bevölke-rung aufgeben musste. Zudem hat der InternationaleStrafgerichtshof wegen der Menschenrechtsverletzungenin Darfur einen Haftbefehl gegenBashir erlassen – für den sudanesischen Präsidentenkommt diese auf ihn persönlich zielendeAnklage einem Angriff auf den Islam gleich. Nurum einen Konflikt ist Khartum seit 2011 praktischerleichtert: Fast die gesamte Bevölkerung desverkleinerten Sudan – rund 97 Prozent – sindnun Muslime.Yvonne Försterling studiert Evangelische Theologiean der Humboldt-Universität zu Berlin.QUELLEN UND LINKS:Anette Weber: »Transformationsstau imSüdsudan«, Forschungspapier der StiftungWissenschaft und Politik vom Juni 2013Bericht »Sudan und Südsudan: Bleibt allesanders« von Roman Deckert undTobias Simon in der islamwissenschaftlichenFachzeitschrift inamo vom 14. Oktober 2013und im Blog von Tobias SimonADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 19


WELTADLAS: KONFLIKTURSACHENRELIGIONENIM KRIEGSYRIENKURDENGEBIETE/TÜRKEIIRAKAFGHANISTANPAKISTANSunniten / in Staaten mit muslimischer Minderheit 1) : alle MuslimeSchiitenübrige MuslimeSUDANKatholiken / in Staaten mit christlicher Minderheit: alle ChristenProtestatenübrige ChristenHindusMEXIKOBhuddistenlokale ReligionenMALIJEMENMYANMARalle Anderen 2)NIGERIASOMALIAINDIEN1) außer Nigeria2) einschließlich religiöse Minderheiten unter fünf Prozent,ebenso in allen Fällen Juden und KonfessionsloseD.R. KONGOSÜDSUDANKeine Frage: Diese Welt ist keine friedliche. Das »Heidelberger Institut fürInternationale Konfliktforschung« untersucht und klassifiziert in seinem»Konfliktbarometer« jährlich die weltweiten Konflikte. Fünf Klassen gibt es:Dispute, nicht-gewaltsame Konflikte, gewaltsame Konflikte, begrenzteKriege und Kriege. Von den 396 Konflikten insgesamt, die die Forscher imJahr 2012 zählten, kategorisierten sie 18 als Kriege. Die Kämpfe in >>Kriege bzw. Klasse-5-Konflikte 2012 gemäß Ranking des HIIKArt des religiösen Bekenntnisses in Prozent der Gesamtbevölkerungnur Bevölkerungsanteile größer als fünf Prozent; übrige zusammengefasst unter »alle Anderen«Die genaue Aufschlüsselung der Daten finden Sie auf der folgenden Seite.Quellen: HIIK, CIA World Factbook, Pew Research CenterKarte: mmoADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 20


KONFLIKTURSACHENAfghanistan, Irak, Pakistan und Syrien zeichnen mit ständiger medialerPräsenz ein Bild, dass derzeit vor allem in solchen Ländern Krieg herrschenwürde, in denen überwiegend Muslime leben. Ist das wirklich so? Als einemögliche Antwort haben wir hier visualisiert, welchen Religionen undKonfessionen die Menschen in den konfliktträchtigsten Ländern angehören.Daten zum Thema liefert neben dem CIA World Factbook vor allemdas Pew Research Center. Das US-Meinungsforschungsinstitut, drittgrößterThink Tank in Washington, D.C., liefert mit seinem »Religion & PublicLife Project« seit 2001 regelmäßig Daten, darunter die »Global ReligiousLandscape«.Auch wenn wir hier nur eine Momentaufnahme sehen, sie zeigt: Die meistender 18 Länder, in denen Krieg herrscht, sind tatsächlich muslimisch geprägt.Mit den Konflikten Indien, Mexiko und Myanmar bestehen allerdings auch inLändern so genannte »Klasse-5-Konflikte«, in denen mehrheitlich keineMuslime leben.Rein quantitative Daten über religiöse Bekenntnisse können natürlichkeine Antwort auf die Frage nach Konfliktursachen liefern. Ein wichtigerTeil bleiben sie aber – auch in einer Zeit, wo die Bedeutung des Glaubens inwestlichen Ländern scheinbar immer mehr abnimmt. Und: Sie könnenzu einer Diskussion über den Einfluss von Religion in Konflikten anregen. stsART DES RELIGIÖSEN BEKENNTNISSES in Prozent der Gesamtbevölkerung 1)1) Nennungen von 0,1 Prozent: 0,1 Prozent oder wenigerSchiiten SunnitenübrigeMuslimeMuslime 2) übrigeChristenKatholikenProtestantenChristen 3) Hindus BuddhistenlokaleGlaubenandereGlauben2) in Staaten mit muslim. Minderheit (außer Nigeria): alle Muslime 3) in Staaten mit christl. Minderheit: alle Christen 4) Schätzung 5) gesamt einschl. Kurdengebiete 6) davon 14,5 Mio. Kurden Quellen: CIA World Factbook, Pew Research CenterJudenohne ZuordnungGesamtbevölkerungAFGHANISTAN 19,1 80,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 31,1 Mio.INDIEN 14,4 2,5 79,3 0,8 0,5 2,3 0,1 0,1 1.220,8 Mio.IRAK 63,5 35,1 0,8 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 31,9 Mio.JEMEN 45,3 53,4 0,2 0,6 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 25,3 Mio.D.R. KONGO 1,5 17,0 49,1 29,5 0,1 0,1 0,7 0,1 0,1 1,8 75,5 Mio.MALI 90,0 2,1 3,2 0,1 0,1 1,6 0,1 0,1 2,7 16,0 Mio.MEXIKO 0,1 1,3 86,0 7,4 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 4,7 118,8 Mio.MYANMAR 4,0 7,8 1,7 79,9 5,8 0,2 0,1 0,5 55,2 Mio.NIGERIA 5,1 43,6 20,4 13,7 15,0 0,1 0,1 1,4 0,1 0,1 0,4 174,5 Mio.PAKISTAN 15,0 80,0 1,0 1,6 1,9 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 193,2 Mio.SOMALIA 99,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 10,3 Mio.SUDAN 0,1 90,3 5,4 0,1 0,1 2,8 0,1 0,1 1,0 34,9 Mio.SÜDSUDAN 4) 6,2 37,6 22,4 0,1 0,1 32,9 0,1 0,1 0,5 11,1 Mio.SYRIEN 2,0 74,0 16,3 5,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 2,0 22,5 Mio.TÜRKEI 5) 81,6 16,2 0,4 0,1 0,1 0,1 0,2 0,1 1,26)80,7 Mio.ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 21


Tropischer Regenwald im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo. Foto: US AidREIHE: VERBRECHERJAGDNOTIZDER HERR IMHEUHAUFENJoseph Kony und seine »Lord‘sResistance Army« entgehenim zentralafrikanischen Dschungelimmer noch ihren Häschern. Daranhat auch eine medienwirksameKampagne nichts geändert, die 2012die USA intervenieren ließ.Die jüngste Krise in der Zentralafrikanischen Republikist nur ein weiteres Symptom schwacherStaatlichkeit in Afrika. Schon länger soll sich imunzugänglichen Osten des Landes der ugandischeRebell und gesuchte Kriegsverbrecher Joseph Konysamt seiner Guerillatruppe verbergen.Kony, 1961 geboren, Sohn eines katholischenMissionshelfers und Angehöriger der Volksgruppeder Acholi aus dem Norden Ugandas, führt seit1987 die »Lord‘s Resistance Army« (LRA) an. Entstandenist die Truppe als Reaktion auf die MachtübernahmeYoweri Musevenis und seiner »NationalResistance Army« im Jahr zuvor; ideologischerWegbereiter der LRA war die »Bewegung des HeiligenGeistes«, geführt vomm selbsterklärten MediumAlice Aluma. Auf sie führt auch Kony seineAutorität zurück, nach unterschiedliche Berichtenist er mit ihr verwandt. Vielleicht auch deshalb giltKony mal als Medium, Wunderheiler oder Prophet.Seine LRA hängt einer Mischung aus christlichemFundamentalismus, Acholi-Nationalismusund lokalem Aberglauben an – Ziel sei die Errichtungeines Gottesstaates in Uganda. Das scheintMethoden zu rechtfertigen, die seit der militärischenNiederlage der LRA gegen Musewenis Regierungstruppenin den 1990er Jahren extrem brutalgeworden sind. Zu den Einzelvorwürfen des InternationalenStrafgerichtshofs gegen Kony gehören,per internationalem Haftbefehl von 2005, unteranderem Mord, Vergewaltigung, Plünderung undVerbrechen gegen die Menschlichkeit.Die Entführung, sexuelle Versklavung vonKindern wie auch ihre Zwangsrekrutierung in dieLRA haben schließlich mehrere amerikanischezivilgesellschaftliche Gruppen auf den Plan gerufen:Ihr öffentlicher Druck führte dazu, dass US-Präsident Barack Obama 100 Special-Forces-Soldaten in die Region entsandt hat.Besonderes Aufsehen erregte vor zwei Jahrendie umstrittene Kampagne »Kony 2012« der Organisation»Invisible Children« mit ihrem Auftritt inden Sozialen Medien. Der Menschenrechtsgruppewurde eine zu simplifizierte Darstellung der Konflikthintergründevorgeworfen: Der in Großbritannienlebende, als Acholi in Uganda aufgewachseneAutor Musa Okwonga bemängelte, dass die US-Aktivisten zwar die Aufmerksamkeit von amerikanischenPolitikern und Celibrities erregt, aber wederauf die »fantastische Arbeit von Nordugandernvor Ort«, noch auf die ambivalente Rolle vonUgandas Staatschef Museveni hingewiesen hätten.ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 22


VERBRECHERJAGDDie amerikanischen Spezialkräfte in Zentralafrikaindes dürfen zwar offiziell nicht in Kämpfe eingreifen,unterstützen nach Medienberichten aberdie Streitkräfte Ugandas, des Südsudans, des Kongosund der Zentralafrikanischen Republik, die dieLRA zu stellen versuchen, immer stärker.Dennoch ist die Jagd auf den Kriegsverbrecherim Namen des Herrn bis heute erfolglos geblieben.Daran hat auch ein Kopfgeld in Höhe vonfünf Millionen US-Dollar, das die Obama-Administration im April 2013 ausgestellt hat,nichts geändert. In einem Gebiet, das mit rund400.000 Quadratkilometern größer ist alsDeutschland, verbergen sich nach Schätzungenweniger als 300 LRA-Kämpfer – der Kommandeurder eingesetzten US-Spezialkräfte verglich dieJagd auf Kony mit der Suche einer »Nadel inzwanzig Heuhaufen«. Die ehemaligen Acholi-Rebellen sind zwar keine militärische Bedrohungmehr, terrorisieren aber weiterhin die örtlicheBevölkerung in weiten Teilen von vier zentralafrikanischenStaaten. Zuletzt wurde am 25. Januar2014 die Entführung eines 12- und eines 13-jährigen Jungen aus einem Dorf im Nordost-Kongo durch LRA-Guerillas gemeldet. mmoQuellen und Links:Der FÖRDERVEREIN SICHERHEITSPOLITIK AN HOCHSCHULEN E.V.bietet jungen Wissenschaftlern eine Plattform.Der akademische Nachwuchs, der sich auf sicherheitspolitische Themen spezialisiert,muss früher und besser qualifiziert in den fachlichen Dialog der deutschen»STRATEGIC COMMUNITY« eingebunden werden! Sicherheitspolitische Bildung und Forschungmüssen unterstützt werden!Wir stehen daher ein für eine Belebung der sicherheitspolitischen Kultur und Debattein Deutschland. Wir unterstützen: Weiterbildungen für Studierende in Tagungen und Seminaren, die Arbeit des BUNDESVERBANDS SICHERHEITSPOLITIK AN HOCHSCHULEN und vor allem die SCHRIFTENREIHE »WISSENSCHAFT & SICHERHEIT«, erscheinend im BerlinerWissenschafts-Verlag.Engagieren auch Sie sich fürdie Sicherheitspolitik von Morgen! Im FSH.ANZEIGEWenn Sie die Ziele des Vereins unterstützen wollen oder an weiteren Informationen interessiertsind, wenden Sie sich an: Förderverein Sicherheitspolitik an Hochschulen e.V.z.H. Richard Goebelt Rottweiler Straße 11 A 12247 Berlin und natürlich unsere Webpräsenz unter WWW.SICHERHEITSPOLITIK.DE.Website der Organisation »Invisible Children«Bericht der Zeit vom 12. November 2013Reportage der WashingtonPost vom 28. Oktober 2013Kommentar von Musa Okwonga im Independentvom 7. März 2012ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 23


Bhuddistische Mönchsprüfung in Bago, Burma. Foto: Vera & Jean-Christophe / lizensiert gemäß CC BY-SA 2.0REIHE: RELIGIÖSE VERFOLGUNGNOTIZGEWALT IMNAMENBUDDHASDas Klischeebild einer friedlichenGlaubensgemeinschaft bröckelt:In Myanmar geht die gewaltsameUnterdrückung einer muslimischenMinderheit zunehmend vonBuddhisten aus.Fragt man die Menschen hierzulande nach ihrenAssoziationen zum Thema »religiöse Gewalt«,so wird »Buddhismus« vermutlich kaum auf denvorderen Plätzen landen. Zu sehr ist unsere Vorstellungder fernöstlichen Lehre durch den DalaiLama und seine Toleranz gegenüber anderen Religionenund seinen gewaltlosen Widerstand gegendie chinesische Besatzung Tibets geprägt.Da passt es kaum ins Bild, dass ausgerechnetbuddhistische Extremisten 2012 und 2013 in Myanmarschwere Gewalttaten gegen die muslimischeVolksgruppe der Rohingya – nach Aussagender UNO einer der am schlimmsten unterdrücktenMinderheiten weltweit – begingen. In der Vergangenheitwar zumeist der myanmarische Staat Trägerder Unterdrückung. Seit einer Staatsbürgerschaftsreformim Jahr 1982, die ihnen den Statusals myanmarische Volksgruppe aberkannte, sinddie eine Million im Land verbliebenen Rohingyastaatenlos, faktisch vogelfrei und selbst grundlegendsterFreiheiten und Rechten beraubt.Doch seit geraumer Zeit treten auch buddhistischeBewegungen bei der Unterdrückung immerstärker in Erscheinung. Besonders trifft das aufdie »969«-Bewegung zu, die in den Rohingya eineexistenzielle Bedrohung der buddhistischenMehrheitsgesellschaft sieht, die es zu bekämpfengelte. Ihr Führer, der Mönch Ashin Wirathu – vonder westlichen Presse seit kurzem gern als »HitlerAsiens« bezeichnet – wurde für seine zur Gewaltaufhetzenden Reden 2003 bereits zu 25 JahrenHaft verurteilt, 2010 aber wieder entlassen. Beobachtersehen in ihm einen der Hauptverantwortlichenfür die schweren Ausschreitungen gegendie Rohingya der letzten Jahre. Das Beispielzeigt: Religionen sind immer nur so gewaltfrei,wie die Menschen, die sie leben.doeQuellen und Links:Interview von Detektor-FM mitSüdostasien-Expertin Dagmar Hellmann vom18. November 2013Bericht »All you can do is pray« der HumanRights Watch vom 22. April 2013Bericht von Spiegel-Online über Ashin Wirathuund die »969«-Bewegung vom 21. April 2013Interview des WDR mit Buddhismus-ExperteMichael Zimmermann vom 9. April 2008ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 24


RELIGION UND SICHERHEIT: ZUFLUCHT»KATASTROPHEN UND DIEKIRCHE – ZWEIKONSTANTEN AUF DENPHILIPPINEN«Interview: Stefan StahlbergDer christliche Glaube ist aufden Philippinen fest verankert.Auch die Kirche ist aus demalltäglichen Leben nichtwegzudenken: Sie mischt sichregelmäßig aktiv in die Politikein und ist laut der freienKorrespondentin Hilja Müllerneben der Politik unddem Militär die dritte Macht aufdem Archipel.Nach dem Jahrhundert-Taifun»Haiyan« stiften beide – Glaubeund Kirche – Sicherheit:Während der Glaube innereStärke und Hoffnung gibt,stellt die Kirche ihreGotteshäuser zur Verfügung.ADLAS: Der Taifun »Haiyan« hat diePhilippinen verwüstet: Über 5.700 Tote, knapp1.800 Vermisste, zehntausende Verletzte, Hunderttausendeobdachlos und Millionen haben ihreLebensgrundlage verloren. Mehr als 80 Prozent derPhilippiner sind katholisch: Wie finden dieMenschen nach einer solchen Katastrophe Zufluchtin der Religion?Hilja Müller: Für Philippiner ist nicht unbedingtdie Religion prägend, mehr der Glaube. Fast jedesKind wächst dort auf mit einem festen Glaubenan Gott, der Gutes tut, Kraft gibt und immer füreinen da ist. Der Glaube wird gelebt, in jedemHäuschen findet sich eine kleine Ecke mit einerJesusfigur oder einem Kreuz. Gottesdienste gehörenzum Alltag. Und gerade in schlechten Zeiten,wie nach dem Taifun, gibt der Glaube an Gott innereStärke. Und wenn die Leute gemeinsam beten,erfahren sie ein Gefühl von Zusammenhalt.Welche Rolle spielt die Kirche auf dem Archipel?Wie religiös sind die Philippiner?Das ist historisch gewachsen: Die Spanier haben >>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 25


Vorige Seite: die Stadt Tacoblan auf der philippinischen Insel Leyte nach dem Durchzug des Taifuns »Haiyan« im November 2013 Foto: Caritas InternationalZUFLUCHTim 16. Jahrhundert das Christentum auf die Philippinengebracht und seitdem spielen die Geistlicheneine sehr dominante Rolle. Man kannwirklich sagen, dass die Kirche neben Politik undMilitär die dritte Macht im Staat ist. Sie ist sichdieser Rolle sehr bewusst und nutzt sie auch aus.Beispielsweise kämpfte sie aktiv gegen DiktatorFerdinand Marcos, sie mischte aber auch in derFamilienpolitik mit, wenn es zum Beispiel um diesexuale Erziehung an Schulen geht. Mit der Parole»Verhütung ist Abtreibung« wehrt sich die Kirchegegen die Verteilung von Kondomen an dieÄrmsten der Armen, indem sie unter anderemDruck auf Politiker ausübt.Bisher haben die Philippiner ihren geistlichenWürdenträgern immer auch Gehorsam geleistet.Ich habe aber beobachtet, dass sich in den letztenein, zwei Jahren die Wirkung von politischenAussagen, beispielsweise Wahlempfehlungen,nicht mehr so entfaltet wie früher. Das könntenzaghafte Ansätze sein, dass der Einfluss der Kircheetwas zurückgeht.Meinen Sie, dass sich eine solche Tendenz nurauf den Kirchengehorsam auswirkt oder auch aufden persönlichen Glauben?Es gibt eine wachsende Mittelschicht auf den Philippinen,in den letzten zehn Jahren habe ich daBewegung gesehen. Und ich glaube, diese Leutefragen sich, was erzählen die uns da eigentlichvon der Kanzel? Warum sind sie nicht für uns alsHirte da, sondern sagen uns, für wen wir bei dernächsten Wahl unser Kreuzchen machen sollen?Es könnte vielleicht eine wachsende Kirchenkritikgeben, aber dass die Philippiner ihren Glaubenverlieren, das kann ich mir nicht gut vorstellen.Kann die Kirche mehr leisten als der Staat,um die Gemeinschaft in einer solchen Katastrophezusammenzuhalten?Ist das vor Ort vielleicht sogar so?HILJA MÜLLERist Korrespondentin des freien Journalisten-Netzwerks »Weltreporter«. Sie arbeitet seit 2002 inAsien, verbrachte seitdem neun Jahre auf denPhilippinen und berichtet derzeit aus Peking.Foto: privat»BISHER HABEN DIEPHILIPPINER IHRENGEISTLICHENWÜRDENTRÄGERNIMMER AUCHGEHORSAM GELEISTET.«Ja, das kann sie und hat das meines Wissensauch. Der Staat hat relativ versagt – relativ aufgrunddes gewaltigen Ausmaßes dieses Taifuns:Ein Entwicklungsland wie die Philippinen ist miteiner solchen Katastrophe einfach überfordert.Nichtsdestotrotz wurde in Manila die Tragweitedes Taifuns schlimm unterschätzt, die Führungist, salopp gesagt, zu spät in die Socken gekommen.Während die Regierung nicht die notwendigenMaßnahmen in die Wege geleitet hat, warund ist die Kirche Zufluchtsort. Sie hat ihre Türengeöffnet und beispielsweise Ruheräume fürHochschwangere eingerichtet. In anderen Kirchenkonnten Gläubige zum Gebet zusammenkommen.Ein Ort der Ruhe und der Stärke bedeutetden Philippinern ungemein viel, derStaat kann das nicht leisten. Der Staat hat zwarauch andere Aufgaben, die hat er aber in diesemFall nicht besonders gut erfüllt: Militär und Polizeikamen zu spät, Hilfslieferungen auch.In einem so gläubigen Land, wird der Taifun daals Strafe Gottes gewertet?Nein. Taifune gehören für die Philippiner einfachdazu. So wie wir die Jahreszeiten haben,>>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 26


ZUFLUCHTgibt es auf dem Archipel eine Taifun-Saison undeine Regenzeit. Dann gibt es dort etwa zwei Dutzendtropischer Stürme, die da durchziehen. Dass»Haiyan« jetzt mit solch einem gewaltigen Ausmaßüber das Land zog, wird aber nicht als eineStrafe gesehen, sondern als mögliche Folge einesKlimawandels gewertet.Geht die Kirche gestärkt aus der Katastrophehervor, weil sie für die Menschen in der Not da ist?Nein. Es hat schon zu viele Katastrophen auf denPhilippinen gegeben. Jedes Jahr passiert ein großesUnglück mit zahlreichen Toten. Ich glaubenicht, dass diese jüngste Katastrophe irgendwelcheVeränderungen im Glauben oder der Religiositätbewirkt.Es mag zynisch klingen, aber Philippiner sind esgewöhnt, dass ihr Land regelmäßig von großenKatastrophen heimgesucht wird. Sie schaffen esimmer wieder, wie Stehaufmännchen, aus Desasternwie diesem die Trümmer zusammenzuklaubenund neue Häuser zu zimmern.»DAS LEBEN DES ÜBERWIEGENDEN TEILS DERBEVÖLKERUNG IST SEHR EINFACH UNDSCHWIERIG ZUGLEICH – DESWEGEN BRAUCHENSIE IHREN GLAUBEN.«Das Leben der Bevölkerung, zumindest desüberwiegenden Teils dort ist sehr einfach undschwierig zugleich – deswegen brauchen sie ihrenGlauben, das wird sich nicht ändern. Die katholischeKirche ist einfach eine Konstante fürdie Philippiner.Überlebende feiern nachdem Taifun »Haiyan«einen Gottesdienst inden Trümmern derKirche von Lo’on in derphilippinischen ProvinzBohol, November 2013.Foto: Mathias Eick / EU/ECHO /lizensiert gemäß CC BY-ND 2.0QUELLEN UND LINKS:Bericht »Die Ohnmacht der Helfer« von HiljaMüller auf Spiegel Online vom 11. November 2013»Philippines 2012 International ReligiousFreedom Report« des »Bureau ofDemocracy, Human Rights and Labor« imUS Department of State vom Mai 2013Peter Kreuzer: »Die Gewalt der Herrschenden.Soziale Kontrolle im Süden der Philippinen«,HSFK-Report Nummer 1/2011ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 27


*Foto: kellinahandbasket / flickr / lizensiert gemäß CC BY 2.0 *Ich werde beobachtet, also bin ich?GLAUBE UND SICHERHEIT: BIG DATADie permanente Überwachungder NSA zeigt die grundsätzlichereligiöse Kommunikation,die das Internet ermöglicht.Mit ihren Datensammlungenund Profilerstellungenversuchen die Nachrichtendienste,Gott zu spielen:Sie wollen erkennen, wasuns im Innersten ausmacht.Gerade die Kirchensollten dagegen protestieren.OBSERVOR ERGO SUM?von Stefan Stahlberg>> Die Geheimdienste sind ein »digitaler Gott«.Über das Internet können sie »in jede Seele blickenund die schwarzen Schäfchen zur Schlachtbankführen«. So beschreibt Frank Rieger, Sprecherdes Chaos Computer Clubs, die Welt in derZeitrechnung nach Edward Snowden. Aber könnendie Dienste wirklich die Gedanken der Menschenlesen? Ja, meinten 560 Schriftsteller aus 83Ländern Mitte Dezember 2013 und forderten einEnde des Datensammelns der Staaten und Konzerne.Sie sind überzeugt: »Überwachung durchleuchtetden Einzelnen.« Wie kann eine digitaleÜberwachung die Gedankenfreiheit verletzen, wiees der internationale Aufruf formuliert? Hintergrundist die vermeintliche »grenzenlose Veröffentlichungindividueller menschlicher Existenz«,wie die Kommunikationswissenschaftlerin MiriamMeckel es bezeichnet.Eine wissenschaftliche Antwort auf diese Fragebietet die Religionssoziologie: Sie stellt einerseitsin Frage, ob uns »in die Seele geblickt werdenkann« – und macht zugleich die Tragweiteder nahezu unbegrenzten, digitalen Kommunikationdeutlich.Die Problematik lässt sich sehr gut mit NiklasLuhmanns Systemtheorie fassen und erläutern.Luhmann unterscheidet soziale Systeme von ihrerUmwelt. Solche Systeme erfüllen in der Gesellschaftbestimmte Funktionen. Das sind zumBeispiel die Wirtschaft, die Politik, die Religionund viele weitere. Systeme entstehen immerdurch die eigenen, internen Operationen: Sietreffen Unterscheidungen und beobachten. Auchdas psychische System eines Menschen, sein Bewusstsein,seine Gedankengänge können so verstandenwerden.Gesellschaftliche Funktionssysteme operierennun immer mit einer Leitunterscheidung, miteinem binären Code, den ausschließlich sie ver->>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 28


BIG DATAwenden. Religiöse Kommunikation beispielsweiseunterscheidet generell die immanente,erfahrbare Wirklichkeit von einer transzendentenRealität. Religion funktioniert dann als»Kontingenzbewältigung«, nämlich wenn Unbestimmbaresin Bestimmbares transformiertwird. Der binäre Code der Religion liegt damit inder Unterscheidung von Immanenz (das Verbleibenin den Grenzen möglicher Erfahrung)und Transzendenz (das Hinausgehen über dieGrenzen der Erfahrung). Die Form einer Kommunikationkann dann als religiös bezeichnetwerden, »wenn ihr Sinn auf die Einheit jenerDifferenz verweist«, schreibt der Soziologe GiancarloCorsi.Nach Luhmann ist es niemand geringeres, alsGott, der die Einheit der religiösen Leitunterscheidungsymbolisiert – wobei die Formel»Gott« nur semantisch überzeugen muss. Er offenbartsich selbst und greift in die Weltgeschichteein. Damit wird er »als Sakrales eingemeindet«,wie der Philosoph Andreas Kött esnennt. Problematisch ist nun, dass mit dieser»Eingemeindung« die Transzendenz unbesetztist: Was bleibt denn überhaupt noch verborgen?Luhmann schlägt genauso wie Kött vor, auch imIndividuum die Transzendenz zu sehen: Denn injedem Menschen würde das psychische Systemeine »eigene innere Unendlichkeit« haben, soLuhmann. »Keines ist in seiner Totalität undseinen Wahlgrundlagen beobachtbar.« Transzendentwäre damit das Unbeobachtbare imSelbst. Damit kann jene Kommunikation, diesich auf das Innerste des Menschen, auf seineSeele, bezieht, als religiös bezeichnet werden.Für Luhmann wie auch Kött funktioniert – in dentraditionellen Monotheismen – die »Einheit derDifferenz von Gott und den Seelen« als ein solchesMedium. Das ist insbesondere dann möglich, wenndie Seele ihre Identität aus der Gewissheit einersolchen »göttlichen« Beobachtung bezieht. In dieserPerspektive werden die religiöse Dimension derNSA-Überwachung und ihr Grundproblem deutlich:Das Internet umfasst nahezu alles Wissenüber die Welt und die Menschen. Wir MenschenDER MENSCHWIRD MEHR UND MEHRIM INTERNETSOZIALISIERT.definieren uns immer mehr über unsere virtuelleKommunikation und wie wir durch andere onlinegesehen werden – wir werden immer abhängigervom Netz und seiner Allmacht.Ein aktueller Radiospot der Deutschen Telekomfasst die Ausmaße der Internetkommunikationin klaren Worten zusammen: »Das Netz istüberall. Es ist unsere gesamte Kommunikation.Es ist überall da, wo Sie sind.« In dieser Grenzenlosigkeitproduzieren die Massenmedien und dieSozialen Medien eine Wirklichkeit, die viel mehrist als die analoge Welt. Diese »realere« Realitätschließt die »analoge«, die immanente Welt zudemimmer mehr ein.Mittendrin findet sich nämlich der Mensch wieder,der digitale Identitäten für sich und für andereproduziert. Internetnutzer erstellen sich eineeigene virtuelle Identität, die beispielsweise ausFacebook- und Twitter-Accounts, Blogs und anderenPräsenzen in den Sozialen Medien besteht.Diese Identitäten werden ständig angepasst, korrigiertund aktualisiert. Besonders in Zeiten desWeb 2.0, in der jeder alles kommentieren kann, istes aber nicht mehr möglich, seine digitale Identitätvollständig zu kontrollieren: Wer jemanden ineinem Tweet erwähnt oder auf dessen Facebook-Seite schreibt, beeinflusst automatisch als Dritterdessen Identitätskonstruktion. Und die verschiedenenPrivatsphäre-Einstellungen zeugen davon,dass die Nutzer der Sozialen Medien Identitätsarbeitleisten, wenn sie beispielsweise versuchen,Privates von Beruflichem zu trennen.Problematisch wird an dieser Stelle jedoch dieAnnahme, der Mensch wäre mit seinem digitalenProfil identisch. Der Facebook-Gründer Mark Zuckerbergsagte einmal: »You have one identity.«Online-Identität und Individuum verschmelzenscheinbar miteinander, glaubt man dem Google-Aufsichtsratschefs Eric Schmidt. Digital Nativeswürden nicht mehr zwischen den unterschiedlichenIdentitätsformen unterscheiden, denn: »Wirsind, was wir tweeten.«Genau diesen Ansatz verfolgen die Geheimdienste:Mit den Programmen »Prism« und»Tempora« speichern US-amerikanische und britischeNachrichtendienste Kommunikationsdatenin unvorstellbarem Ausmaß und erstellen Profileüber weltweite Internetnutzer aus den Daten, dieüber diese im Netz zu finden sind. Die Organisa-ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 29


BIG DATAtionen versuchen als Beobachter zweiter Ordnung»Gesamt-Identitäten« aus den digital verfügbarenInformationen zu konstruieren undscheinen sich zu sagen: »Die Summe dieser Daten,das ist der Mensch.« Sie verschmelzen dasImmanente der digitalen Kommunikation mitdem Transzendenten, dem in Teilen doch unbeobachtbarenIndividuum.Mit diesen Aktivitäten versuchen Staatenund Konzerne, dem Menschen seine »innereUnendlichkeit« zu nehmen. Sie wollen ihm eineIdentität zuschreiben, auf die der Einzelne keinenEinfluss mehr hat und die festgeschriebenwird. Der Einzelne kann in den meisten Fällenaus technischen Gründen weder eine Datensammlungüber sich selbst anlegen und damitprüfen, welche personenbezogenen Daten überihn im Internet vorhanden sind; noch kann erdie von den Geheimdiensten gesammelten Datendaraufhin überprüfen, ob sie tatsächlich ihmzugeordnet werden können, also ob die Informationenstimmen.Jede noch so große Datensammlung über einIndividuum kann nicht mit ihm gleichgesetztwerden. Doch genau das ist das Ziel von Big Data:Den Menschen vermeintlich bis ins Innerste auszuleuchten,um seine Gedanken und seine zukünftigenAktivitäten vorhersagbar zu machen.Das Internet wird in dieser Beobachtungdurch die NSA sowie dem Verschmelzen von digitalerIdentität und Individuum zum religiösenMedium. Es lässt den Menschen in seiner virtuellenIdentität aufgehen und verweist auf deranderen Seite auf ein All-Wissen, eine Beobachterposition,die alles überblickt. Aber: Sowenig wie Gott als Einheit beobachtet werdenkann, kann man das gesamte Internet ausdruckenund dann auf einen Blick überschauen. Dennochversucht die NSA diese Position zu erlangen unddem Internet sämtliche Geheimnisse zu entreißenWährend Datenschützer und Bürgerrechtlerzu Recht protestieren, schwiegen die Kirchensehr lange. Erst im August 2013 kritisierte derBamberger Erzbischof Ludwig Schick als ersterkatholischer Bischof die Spähprogramme der NSA– weil es die Aufgabe der Kirche sei, »sich um dasGEDANKEN LESENKANN DIE NSA NACHWIE VOR NICHT.Wohl der Gesellschaft zu kümmern.« Für ihnsorgt die grenzenlose Überwachung allerdings füreinen Vertrauensverlust der Bürger in die Politik:»Überwachung zur Sicherheit ja! Überwachungsstaatnein, weil das die Mitmenschlichkeit infragestellt und das Miteinander bedroht.« Dabei solltendoch die Kirchen eigentlich die religiöseFunktion von Internet und World Wide Web erkennenund die Gefahr, die in dem Versuch absoluterÜberwachung steckt.Dem Segen des unbegrenzt verfügbaren, digitalisiertenWissens steht der Fluch der damit einhergehendenAllmacht gegenüber: Wer den vollständigenZugriff auf die Welt hat, macht dieMenschen von sich abhängig. Und dabei geht eslängst nicht mehr um das Beobachten allein.»Wer lesen kann, kann auch schreiben« titelte derBlogger Sascha Lobo in seiner Kolumne auf SpiegelOnline bereits im Juli letzten Jahres. WelchesWissen im Internet darf in Zukunft als wahr undnicht manipuliert angesehen werden? Der Vorwurfder Geschichtsfälschung wird übrigens heutenoch im Dunstkreis von Verschwörungstheoretikerngegen den Vatikan erhoben.Doch selbst wenn der Papst heute wiederumpersönlich von Abhörmaßnahmen betroffen ist,scheint der oberste Brückenbauer unbesorgt. Vatikan-SprecherFederico Lombardi antwortet zumThema Überwachung lapidar: »Wir wissen nichtsdavon und sind auch nicht beunruhigt.« Der TheologeFriedrich Schorlemmer ist bislang einer derwenigen Geistlichen, die öffentlich Kritik auch andem Vorhaben der Geheimdienste äußern, gottgleichzu sein. Unlängst prangerte er die Blasphemieder Nachrichtendienste an. Seine Forderungist auch aus systemtheoretischer Perspektivekonsequent: Die Geheimdienste müssen beobachtetwerden können, damit ihnen die aktuellengöttlichen Interventionsmöglichkeiten genommenwerden können.QUELLEN UND LINKS:Interview mit Erzbischof Ludwig Schick:»Überwachungsstaat nein!« auf domradio.de am12. August 2013Kolumne »Die Mensch-Maschine: Wer lesenkann, kann auch schreiben« vonSascha Lobo auf Spiegel Online am 9. Juli 2013ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 30


CHINESISCH-INDISCHE BEZIEHUNGENpolitischen Aufwertung der eigenen Nation, die Indien dem eigenen Großmachtanspruchnäher bringt. Der Konflikt mit Pakistan wird hingegen nurals eine Belastung angesehen.Auch mit Bangladesch, Myanmar und Sri Lanka kooperiert China eng inwirtschaftlichen und militärischen Belangen. Ebenso wie in Pakistan beteiligtsich die Volksrepublik in allen drei Ländern an der Errichtung neuer Hafenanlagen,die die weitere Versorgung Chinas mit Öl aus den arabischen Ländernund dem Iran sichern sollen. Mit dem Bau von Gaspipelines und neuen Zugverbindungenwird eine direkte Anbindung Chinas über Land ermöglicht. Zusätzlichwerden Bangladesch und Sri Lanka durch immense Waffenlieferungenhochgerüstet. Durch diese zahlreichen Investitionen ist China für diekleineren Staaten Südasiens eine willkommene Alternative, die sich demübermächtigen Indien, welches sich auf dem Subkontinent traditionell alsvorherrschende Regionalmacht versteht, wirksam entgegenstellen kann.Indien verfolgt eine ganz ähnliche Strategie bei seinem Machtausbau inAsien. Seit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes und der Liberalisierungder Märkte zu Beginn der 1990er vertieft Delhi seine bisher vernachlässigtenBeziehungen zum Rest Asiens, insbesondere zu den Staaten Südostasiens. Inerster Linie stehen auch hier die wirtschaftlichen Aspekte im Vordergrund.Seit 2009 besteht ein Freihandelsabkommen zwischen Indien und der»Association of Southeast Asian Nations«, der ASEAN, welches gegenwärtignoch weiter ausgebaut wird. Auf der bilateralen Ebene sind Wirtschaftsabkommenunter anderem mit Indonesien, Malaysia und Thailand abgeschlossenworden, ebenso mit Südkorea und Japan. Indien tritt in Südostasien indieselbe Position, welche die Volksrepublik bei den kleinen Nationen Südasienseingenommen hat. Aufgrund der in den letzten Jahren immer aggressivergewordenen Außenpolitik Chinas in diesem Teil Asiens wird Indien daher alswillkommener Gegenpol geschätzt.Zusätzlich baut Delhi seine Machtstellung im Südchinesischen Meerdurch eine enge militärische Kooperation mit mehreren ost- und südostasiatischenStaaten aus. Regelmäßig werden in dieser Region gemeinsame Marinemanöverabgehalten, an denen sich neben Indien, Singapur und Vietnam >>Pomp und Umstände: Chinas Premier Li Keqiang wirdbei seinem Staatsbesuch in Indien im Mai 2013im Hof des Präsidentenpalastes von einer Ehrengardeempfangen (rechts). Sein KonterpartManmohan Singh erhält dieselbe höflicheBehandlung fünf Monate später in Peking (links).Fotos: Indian Ministry of External AffairsIndien fühlt sich durchdie chinesische»Perlenkette« immermehr eingekreist.ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 33


CHINESISCH-INDISCHE BEZIEHUNGEN»Da können wir tausendmal sagen:Aber wir sind eine Demokratie.«auch Japan, Australien und ebenso die USA beteiligen. Allerdings sieht sichPeking in dieser Region traditionell als Hegemonialmacht. Durch die Streitigkeitenum Inselgruppen der Spratlys, Paracels und Senkakus beziehungsweiseDiaoyus, unter denen reiche Erdöl- und Gasreserven vermutet werden,wird das Konfliktpotential in dieser Region noch einmal verschärft.Eine wichtige Rolle nehmen seit einigen Jahren auch die Staaten Zentralasiensfür Indien ein. Die zahlreichen Bodenschätze in Kasachstan, Kirgisistan,Tadschikistan und Usbekistan sind auch für ein energiehungriges Landwie Indien nicht uninteressant. Allerdings muss sich Delhi hier nicht nur derKonkurrenz Chinas, sondern auch der von Russland erwehren, welche beideschon deutlich länger aktiv sind in dieser Region, auch gemeinsam im Rahmender Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, bei der Indien lediglichBeobachterstatus besitzt. Seit dem Ende der Taliban-Herrschaft legt Indienauch wieder ein besonderes Augenmerk auf Afghanistan.In den nächsten Jahren wird zudem die Wasserversorgung eine immerwichtigere, konfliktträchtigere Rolle spielen. Für Jagarnath Panda vom Instituteof Defense Studies and Analysis in Delhi werden nicht die Grenzstreitigkeitendas größte Problem darstellen, sondern die geplanten DammbauprojekteChinas im Himalaya, die Millionen von Menschen in Südasien die Lebensgrundlageentziehen werden.Wie sich die Vereinigten Staaten im Zuge von Barack Obamas propagiertem»pivot to Asia« zukünftig im indo-pazifischen Raum positionieren, wirddie Konkurrenz zwischen Indien und China maßgeblich beeinflussen. 2010bezeichnete der amerikanische Präsident Barack Obama bei einem Besuch inDelhi die Partnerschaft zwischen den USA und Indien als »eine der Schlüsselbeziehungendes 21. Jahrhunderts«. Erste Voraussetzungen für neue,mögliche Konflikte mit China sind bereits während der Bush-Administrationdurch das indisch-amerikanische Atomabkommen gelegt worden. Obwohldie USA und Indien keine offiziellen Verbündeten sind, sieht man inWashington dennoch das demokratische Indien als die zu unterstützendeausgleichende Kraft gegenüber dem kommunistischen China an.Die Beziehungen zwischen Indien und China beschränken sich jedochnicht ausschließlich auf ihren asiatischen Wettstreit. Es kommt bisweilenauch vor, dass beide Nationen die gleichen Interessen vertreten. In diesemFall scheuen sich die Regierungen Delhis und Pekings nicht, zusammenzuarbeiten.Das bekannteste Beispiel ist ihre Kooperation in der sogenanntenBRICS-Gruppe mit Brasilien, Russland und Südafrika bezüglich der internationalenFinanzpolitik. Auf der Klima-Konferenz 2009 in Kopenhagen bezogenbeide Länder zusammen mit anderen Schwellenländern Position gegen dieIndustrienationen. Gemeinsam mit Bangladesch und Myanmar arbeiten Indienund China in der BCIM-Initiative an einer Verbesserung der regionalenTransportmöglichkeiten und der Stärkung der Tourismusbranche. 2010 kames zudem zur Neubelebung eines indisch-chinesischen Verteidigungsdialogs.Das aktuellste Beispiel für die chinesisch-indische Kooperation ist das imOktober 2013 vereinbarte »Border Defence Co-operation Agreement« als einedirekte Reaktion auf die Vorfälle vom Anfang des Jahres.Ist die Konkurrenz zwischen den beiden größten asiatischen Nationennun ein Wettstreit auf Augenhöhe? Sprachen vor wenigen Jahren indischePolitiker noch vom indischen 21. Jahrhundert, so sind diese Träume mittlerweileder Ernüchterung gewichen, dass der Vorsprung des nördlichen Nachbarnso schnell wohl nicht aufzuholen ist. Ein Beamter im indischen Außenministeriumbeschrieb es mit den Worten: »Ja, China ist uns meilenweit voraus,in militärischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht. […] Da können wirtausendmal sagen: Aber wir sind eine Demokratie.« Größtes Hindernis sinddie riesigen innenpolitischen Probleme, die Indien daran hindern, eine nochstärkere außenpolitische Rolle einzunehmen.Im Gegensatz zu China, welches Probleme mit seinen nationalen Minderheitenvergleichsweise gut einhegen konnte, hat die indische Regierung ingroßen Teilen des Landes mit gewaltsamen Aufständen maoistischer Rebellenzu kämpfen, die sich hauptsächlich aus armen und indigenen Bevölkerungsgruppenzusammensetzen. 2006 bezeichnete Premierminister ManmohanSingh die so genannten Naxaliten, maoistische Guerillas, als die »größte >>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 34


CHINESISCH-INDISCHE BEZIEHUNGENKleiner Grenzverkehr: Am Pass Nathu-Lageben sich indische und chinesischeGrenzsoldaten freundlich, trotzanhaltender Spannungen in der Region.In den 1960er Jahren Schauplatzblutiger Gefechte, ist der Übergangzwischen dem Bundesstaat Sikkim undder Region Tibet erst im Sommer 2006wieder geöffnet worden.Foto: Ajai Shukla / lizensiert gemäß CC BY 2.5 INHerausforderung für die innere Sicherheit unseres Landes«. Hinzu kommendie grassierende Korruption und die mangelhafte Infrastruktur, die zu großenTeilen noch aus der Kolonialzeit stammt.Ob sich nun Indien oder China auf langfristige Sicht gegen den jeweilsanderen durchsetzen wird, ist nur schwer zu beantworten. Sabine Mokry undSandra Destradi vom »German Institute of Global and Area Studies« in Hamburgkönnen in dem asiatischen Wettstreit sogar einen positiven Effekt fürden Kontinent ausmachen. Durch die intensive Erschließung neuer Rohstoffquellen,den damit einhergehenden Ausbau der Infrastruktur und diezunehmende wirtschaftlichen Verflechtung würden auch die kleinen undmittleren Staaten vor allen Dingen in Süd- und Südostasiens immens profitieren.Derzeit ist noch ungewiss, welches politische System sich auf Dauerals das stabilere erweisen wird.Eine bessere Perspektive sieht hier Robert D. Kaplan, Publizist und »chiefgeopolitical analyst« beim amerikanischen Think Tank Stratfor, für Indien.Auf der einen Seite stehe zwar ein wirtschaftlich starkes, aber staatlichautoritärgelenktes China, dessen Bürger immer häufiger gegen diese Art desRegierungsstils aufbegehren. Auf der anderen Seite befinde sich ein bürokratisches,ein sich selbst behinderndes Indien, dessen Demokratie aber von derbreiten Masse der Bevölkerung getragen werde. Nichtsdestotrotz erkenntman an der pragmatischen Außenpolitik Chinas und Indiens, dass es ein Bewusstseindafür gibt, dass sich durch gegenseitige Kooperation auch großeProfite und Stabilität erzeugen lassen.Roman Wienbreier ist Masterstudent am Centre for Modern Indian Studies inGöttingen. Momentan studiert er an der Jawaharlal-Nehru-University in Delhi.Quellen und Links:Meldung »China, India sign border defence pact« von The Hinduvom 24. Oktober 2013Bericht »Chinese Official Arrives in India, Hoping to Focus on Trade« derNew York Times vom 19. Mai 2013Bericht »Afghanistan’s Karzai seeks Indian military aid amid tensions withPakistan« von Reuters am 19. Mai 2013Bericht »Chinas Attacke gegen Indien« auf Spiegel Online am 2. Mai 2013Hintergrundbericht »Neue beste Freunde?« im Deutschlandfunkam 9. März 2013Themenseite »Indien und China – Partner und Rivalen« der Deutschen Welleaus dem Jahr 2012Robert D. Kaplan: »The India-China Rivalry«, Hintergrundbericht von Stratforvom 25. April 2012Forschungspapier »Feindliche Freunde? Die indisch-chinesische Konkurrenzund Kooperation in Asien« vom German Institut of Global andArea Studies, Institut für Asien-Studien, GIGA Focus, Ausgabe 7/2011ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 35


Eine auf Guam stationierte amerikanische B52 auf Patrouille über dem Pazifik. Bomber wie dieser testeten im November die chinesische ADIZ. Foto: US Air ForceREIHE: FLUGSICHERHEITNOTIZGefährlicheSchnittmengeIm November vergangenen Jahresrichtete die Volksrepublik China imOstchinesischen Meer eineneue Luftraumüberwachungszoneein. Und lieferte damit einen neuenZankapfel.Wer die Nachrichten zur Lage in Ostasien letztenNovember verfolgte, merkte schnell: So rechtklar ist es nicht, was eine »Air Defense IdentificationZone« (ADIZ) denn nun genau sein soll.Flugverbotszone, Luftraumüberwachungszone,Luftverteidigungszone – all diese Begriffe schwirrtendurch die Medien. Klar war aber, dass dieUSA, Japan, Taiwan und Südkorea sich ChinasVorgehen nicht gefallen ließen. Sie schickten daraufhinihre Flugzeuge absichtlich in die chinesischeADIZ, um gegen die Zone zu protestieren.Dabei hat Peking nichts getan, was anderenicht auch schon getan hätten. So erweiterte Japanseine ADIZ im Südchinesischen Meer 2010ebenfalls in die taiwanesische ADIZ hinein, ohnevorher Taipei zu konsultieren. Zwar ließ Tokioverlauten, es bedauere diesen Schritt zutiefst,wäre aber nicht verpflichtet, andere Staaten vorherzu informieren.Die chinesische ADIZ hat jedoch zwei Besonderheiten,die insbesondere für Verstimmung sorgen.Zum einen liegt die Zone über den SenkakubeziehungsweiseDiaoyu-Inseln, die von Tokio undPeking gleichermaßen beansprucht werden. Japanund seine Alliierten sehen hierin eine Provokation,die den Inselstreit nur verschärfen wird. Zum anderenentsprechen die Regeln für die neue ADIZnicht den allgemein akzeptierten. So verlangt China,dass jegliche Flugzeuge, die die Zone durchfliegen,sich bei seinem Außenministerium vorherregistrieren müssen. Andere Staaten verlangendies hingegen nur, wenn das Flugzeug auch vorhat,in den Luftraum des betroffenen Staates einzudringen.Die USA kritisieren diese Forderung heftig.Zwar bricht China nicht das Völkerrecht, hat sichmit seiner ADIZ letztendlich aber wohl einen Bärendiensterwiesen. Insbesondere Südkorea hatseiner Kritik Taten folgen lassen und Mitte Dezemberseine eigene ADIZ ebenfalls erweitert – indie chinesische Überwachungszone hinein. dimQuellen und Links:Bericht der Japan Times vom 8. Dezember 2013Analyse »In search of theoretical justificationfor air defence identification zones« vonRuwantissa Abeyratne, Experte der kanadischenInternational Civil Aviation Organization, vom19. August 2011Bericht der Taipei Times vom 26. Juni 2010ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 36


DIE WELT UND DEUTSCHLAND: FORSCHUNG UND LEHRE IAkademischer Zündstoffvon Stefan Dölling und Sebastian NiekeSeit 2010 ist ein Ringen um so genannte »Zivilklauseln« an deutschen Hochschulen entbrannt.Und obwohl die Diskussion mittlerweile fast vier Jahre alt ist, herrscht selbst bei zentralenBegriffen immer noch Unklarheit. Die Argumentationslinien beider Seiten werfen mehr Fragen auf,als sie beantworten. Indes gibt es kaum verifizierbare Zahlen und die Debattenkulturbleibt auf der Strecke. >>Demonstration des »Arbeitskreis Zivilklausel« des AStA der Universität Kassel auf dem Campus am 2. Mai 2012. Foto: AK Zivilklausel KasselADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 37


FORSCHUNG UND LEHRE IAm 5. Dezember 2013 vermeldete die FrankfurterNeue Presse: »Uni Kassel verabschiedet Zivilklauselfür friedliche Forschung«. Die Entscheidungdazu war am Vortag im akademischen Senatgefallen, womit sich die nunmehr 15. deutscheHochschule eine solche Klausel gegeben hatte.Oder doch nicht? Denn ausgerechnet der Kasseler»Arbeitskreis Zivilklausel« – also jenes Aktionsbündnis,das vehement die Einführung der Klauselgefordert hatte – veröffentlichte fast zeitgleichunter der Überschrift »Uni Kassel stimmtgegen Zivil- und Transparenzklausel« eine Pressemitteilung,die genau das Gegenteil nahelegte.Was war geschehen?Der Senat hatte tatsächlich tags zuvor beschlossen,folgenden Passus in die Ordnung derHochschule aufzunehmen: »Forschung und Entwicklung,Lehre und Studium an der UniversitätKassel sind ausschließlich friedlichen Zielen verpflichtetund sollen zivile Zwecke erfüllen; dieForschung, insbesondere die Entwicklung undOptimierung technischer Systeme, sowie Studiumund Lehre sind auf eine zivile Verwendungausgerichtet.«Das aber ging den im genannten Arbeitskreisorganisierten Zivilklauselbefürwortern nicht weitgenug. Sie kritisierten die beschlossene Formulierungals eine weiche, kaum verpflichtende»Soll«-Bestimmung, die zudem in Abwesenheitvon Kontroll- und Durchsetzungsorganen kaumWirksamkeit entfalten könne. Ihre Forderungnach der Einrichtung einer »Ethikkommission«,die künftig Forschungsprojekte auf ihren zivilenCharakter überprüfen sollte, hatte die Universitätsleitungstrikt abgelehnt.Der Vorgang in Kassel verweist auf ein grundlegendesProblem, dass die gegenwärtige Debatteum die Einführung so genannter »Zivilklauseln«von Beginn an begleitet: Obwohl in den vergangenenJahren eine ganze Reihe deutscher Universitätendiesen Schritt vollzogen hat, ist nach wievor unklar, was genau eine »Zivilklausel« eigentlichist. Selbst manch renommiertes Nachschlagewerkbietet zu dem Begriff bislang keinen Eintrag.Glaubt man Wikipedia, handelt es sich beieiner solchen Klausel um die »Selbstverpflichtungvon wissenschaftlichen Einrichtungen wieUniversitäten, ausschließlich für zivile Zwecke zuforschen«.Tatsächlich werden unter dem Etikett»Zivilklausel« jedoch meist recht unreflektiertsehr unterschiedliche Verpflichtungserklärungendeutscher Hochschulen in einen Topf geworfen.So beinhalten beispielsweise nur 9 der 15 bestehenden,vermeintlichen »Zivilklauseln« überhauptdas Wort »zivil«. Und während viele der 15Universitäten in ihren Klauseln ausdrücklich Militär-und insbesondere Rüstungsforschung ablehnen,begnügen sich andere damit, Forschung undLehre allgemein dem Frieden zu verpflichten. Soheißt es in Tübingen seit 2010: »Lehre, Forschungund Studium an der Universität sollen friedlichenZwecken dienen, das Zusammenleben der Völkerbereichern und im Bewusstsein der Erhaltung dernatürlichen Lebensgrundlagen erfolgen«.Diese und ähnliche Formulierungen wärenbesser mit dem Begriff »Friedensklausel« zu fassen.Mit solchen Friedenklauseln aber habenselbst ausgesprochene Zivilklauselgegner, wieetwa der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitikan der Universität Kiel, Joachim Krause, eigentlichwenig Probleme. Denn seiner Argumentationnach unterliegt sämtliche Forschung undLehre in Deutschland ohnehin der »Friedensfinalität«des Grundgesetzes. Da die Verfassung aberauch die Bundeswehr als legitimes, dem Friedenverpflichtetes Organ vorsieht und ihren Einsatzklar regelt, ist Forschung für und im Auftrag derStreitkräfte demnach nicht nur nicht verwerflich,sondern sogar geboten.Auch nach einer über dreijährigenDebatte bleibt unklar, was genau eineZivilklausel eigentlich ist.Während also wortwörtliche Zivilklauseln Rüstungs-und Militärforschung einer stringent pazifistischenLogik folgend per se als eine Friedensbedrohungansehen und deshalb in jeglicherForm ausschließen, lassen Friedensklauseln dieseunter bestimmten Prämissen zu. Letztere sindgrundsätzlich auch mit der – glaubt man denUmfragen und Wahlergebnissen, hierzulandeweit verbreiteten – Sichtweise kompatibel, dass>>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 38


FORSCHUNG UND LEHRE Iin manchen Fällen nur der Einsatz von Streitkräftenunter einem Mandat der Vereinten NationenFrieden bewahren oder wieder herstellen kann.Daraus ergibt sich konsequenterweise, dass dieseImmer neueForschungsbereichegelten plötzlich als»sicherheitsrelevant«.Streitkräfte auch ausgebildet, ausgerüstet undihre Einsätze gegebenenfalls vorbereitet und ausgewertetwerden müssen. Eine Friedensklauselließe Forschung zu diesen Zwecken ihrem Wortlautnach prinzipiell zu.Eigentlich. Denn die begriffliche Unschärfebisheriger Klauseln erschöpft sich nicht nur ineinem oft unverbindlichen »Soll«-Charakter, sondernöffnet andererseits auch manchen BefürworternTür und Tor für Versuche, schlichtwegandere Meinungen zur Außen- und Sicherheitspolitikvom Campus zu verbannen. So protestiertenin Tübingen Mitglieder des dortigen Arbeitskreisesgegen die Berufung des langjährigen Diplomatenund Vorsitzenden der Münchner SicherheitskonferenzWolfgang Ischinger zum Honorarprofessorund versuchten, ein von ihm gehaltenesSeminar über Krisendiplomatie zu stören. Ander Universität Frankfurt unternahmen Aktivistenwiederum den Versuch, einen Vortrag mitanschließender Diskussion des ehemaligen SoldatenJohannes Clair über dessen Eindrücke ausMit besonderer BerücksichtigungEs gibt derzeit 428 Hochschulenin Deutschland, darunter108 Universitäten und 216Fachhochschulen.Von diesen 324 Universitäten undFachhochschulen haben derzeit 15eine Zivil- oder Friedensklausel –was einer Quote vonrund 4,6 Prozent entspricht.zHochschulen mit Jahr der Einführungder KlauselHochschule mit ZivilklauselHochschule mit FriedensklauselBegriff »zivil« im Wortlaut der Klausel* Die TU Berlin besitzt eigentlich die älteste Zivilklausel,da das Vier-Mächte-Abkommen der Alliierten von1971 sie bis 1991 ohnehin auf zivile Forschung festlegte.Quellen: Statistisches Bundesamt, eigene RechercheIllustration: mmoUniversitätOldenburg 2007dem Afghanistaneinsatz zu verhindern, indem sieder Hochschulleitung bestimmte Passagen seinesBuchs »Vier Tage im November« vorlegten, indenen sie einen Verstoß gegen die dortige, Anfang2013 verabschiedete Zivilklausel ausmachten.Dass selbst solches Reden, Informieren undForschen über Sicherheitspolitik von manchenzzzzUniversität Münster 2013TU Dortmund1991zzUniversität Bremen 1986Hochschule Bremen 2012zzzUniversität Rostock 2011Hochschule Bremerhaven 2012Universität Göttingen 2013Universität Kassel 2013TU Ilmenau 2010Universität Frankfurt/M. 2013TU Darmstadt 2012Universität Tübingen 2010Universität Konstanz 1991TU Berlin 1991*Zivilklauselbefürwortern vehement abgelehntwird, illustriert nochmals die begriffliche Unschärfeund damit einhergehenden Probleme vonZivil- und Friedenklauseln.Der eigentliche Regelungsbereich solcherKlauseln ist nach mehrheitlicher Auffassung aberdie Forschungspraxis. Wie also gestaltet sich ihre >>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 39


FORSCHUNG UND LEHRE IUmsetzung im Alltag? Auch hierüber herrschtweitgehend Unklarheit. So existieren mit Ausnahmeder Technischen Universität Berlin, diekonkrete Mechanismen zur Umsetzung ihrer Zivilklauseletabliert hat, an keiner Hochschule mitentsprechender Selbstverpflichtung klare Umsetzungsbestimmungen.Leider blieb eine Anfragedes ADLAS an die TU, wie viele und gegebenenfallswelche Forschungsprojekte bislang wegenihrer Zivilklausel untersagt wurden, unbeantwortet.Einige wenige Universitäten lassen strittigeForschungsvorhaben wiederum durch Kommissionen– ähnlich der in Kassel abgelehnten Ethikkommission– prüfen und gegebenenfalls untersagen.Da derzeit allerdings keine aussagekräftigenInformationen zur Arbeit solcher Gremienvorliegen, sind Einschätzungen, welche Rolle dieUmsetzung von Friedens- und Zivilklauseln inder Arbeitspraxis spielt, kaum möglich.Die meisten Hochschulen mit Zivil- oder Friedensklauselnbelassen es ohnehin lediglich dabei,an ihre Forschenden zu appellieren, keine denSelbstverpflichtungen entgegenstehenden Forschungsprojektezu verfolgen. Solche »Soll«-Klauseln stoßen bei den Zivilklauselbefürworternauf scharfe Kritik. Da sie keinerlei Sanktionen beiVerstößen vorsehen, könnten sie – so der Vorwurf– von den Universitätsleitungen als Feigenblattbenutzt werden, um die Diskussion um etwaigeZivilklauseln schnell, geräusch- und letztlichfolgenlos zu beenden.Dass solche Bedenken zuweilen berechtigt seinkönnen, verdeutlicht das Beispiel der UniversitätBremen. Diese führte 1986 als erste deutscheHochschule überhaupt eine Zivilklausel ein.Gleichwohl wurden dort laut Recherchen des Spiegelvom Juni 2012 allein zwischen 2003 und 2011»mindestens ein Dutzend Forschungsprojekte mitwehrtechnischem Auftraggeber« im Gesamtvolumenvon rund 480.000 Euro durchgeführt. EineVeröffentlichung genauerer Informationen zu denForschungsprojekten kam für die Hochschulleitungnicht in Frage. Sie versprach allerdings, dasskünftig »alle Wissenschaftler zunächst über dieExistenz der Zivilklausel informiert werden« undlegte so klares Zeugnis darüber ab, welcher Stellenwertder ältesten Zivilklausel Deutschlands bislangim Forschungsalltag zukam.Doch wie ist es deutschlandweit überhaupt umrüstungs- und streitkräftebezogene Forschung anUniversitäten und anderen Hochschulen bestellt?Auch hierzu gestalten sich bereits Überblicksaussagenschwierig. Aus Sicht der Zivilklauselbefürworterscheint die Sache klar. Sie machen eine – angeblichoft schleichende – »Militarisierung derUniversitäten«, oder auch gleich der »Gesellschaft«insgesamt aus, der es entschieden zu begegnengelte. Bemerkenswerterweise scheint es sich dabeium ein Phänomen der jüngsten Vergangenheit zuhandeln, denn allein 10 der 15 Zivilklauseln wurdenzwischen 2010 und 2013 verabschiedet. Zuvorhatte das Thema nach einer ersten Phase mit viereingeführten Klauseln zwischen 1986 und 1991 andeutschen Hochschulen scheinbar kaum Diskussionsstoffgeschweige denn Mobilisierungspotenzialgeboten. Was hat sich seitdem geändert?Unbestritten gibt es zwar seit wenigen Jahreneine beobachtbare Zunahme von Stiftungsprofessurenin Kooperation mit Unternehmen, die auchim Rüstungssektor operieren – etwa die »EADS->>DER WORTLAUTDie Kernaussagen der 15 Zivilklauselndeutscher HochschulenTechnische Universität BerlinBeschluss des Akademischen Senats (AS) von 1991:„Der Akademische Senat (AS) begrüßt die Diskussioninnerhalb der Universität, die darauf abzielt,rüstungsrelevante Forschung auch nach Wegfallder alliierten Bestimmungen an der TU Berlin zuverhindern. Die Mitglieder des AS sind sich darübereinig, dass an der TU Berlin keine Rüstungsforschungdurchgeführt werden soll. Weiterhin istsich der AS auch im Klaren darüber, dass wissenschaftlicheErgebnisse nicht davor geschützt werdenkönnen, für militärische Zwecke von Drittenmissbraucht zu werden.Es sollen daher von der TU Berlin bzw. von ihrenForschungseinrichtungen keine Aufträge oderZuwendungen für rüstungsrelevante Forschungentgegengenommen werden. Im Zweifelsfall solldie Antragstellerin oder der Antragsteller denNachweis führen, dass das beabsichtigte Forschungszielnicht primär militärischen Zweckendient. Können bestehende Zweifel nicht ausgeräumtwerden, wird abweichend von § 25 (4) HRGfür rüstungsrelevante Forschungsvorhaben dieVerwaltung der Mittel von der TU Berlin nichtübernommen. Mit hauptamtlichen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern in solchen Vorhaben, dieaus Mitteln Dritter bezahlt werden, schließt dieTU Berlin keine Arbeitsverträge ab. Jede Antragstellerinund jeder Antragsteller von Forschungs-ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 40


FORSCHUNG UND LEHRE IStiftungsprofessur Hubschraubertechnologie« ander Technischen Universität München (TUM).Doch auch wenn ein großer Teil aller weltweitgebauten Hubschrauber militärisch genutzt wird– ist die Hubschrauberforschung der TUM damitautomatisch »Rüstungsforschung«? Zudem wirdoft ausgeblendet, dass sich die Rolle von Drittmittelprojektenund Stiftungsprofessuren anHochschulen seit der »Bologna«-Reform sogrundlegend gewandelt hat, dass die reine Existenzvon Drittmittelprojekten oder Stiftungsprofessurenaus dem Bereich der »Militär«- und»Rüstungsforschung« für sich genommen kaumetwas aussagt. Der Vergleich mit der Zeit vor»Bologna« wäre hingegen einer zwischen denEin klares Statementgegen eine Zivilklauselsucht man auchan Universitäten, diesich gegen eineEinführung entschiedenhaben, nahezu vergebens.sprichwörtlichen Äpfeln und Birnen, keineswegsaber ein sicherer Indikator für eine stattfindende»Militarisierung« der deutschen Wissenschaft.Auch angesichts einer Reduzierung der Bundeswehrbei Personal und Material um mehr als50 Prozent seit Ende des Kalten Krieges, einemVerteidigungsetat, der seit Jahren bei unter 1,5Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, undnicht zuletzt des »freundlichen Desinteresses«,das der deutschen Öffentlichkeit in Sachen Außen-und Sicherheitspolitik gemeinhin attestiertwird, ist der Vorwurf einer »Militarisierung« vonUniversitäten und Gesellschaft nicht unmittelbareingängig. Gäbe es eine solche Entwicklung,müsste sie sich in Zahlen ausdrücken lassen.Wird aber heute an deutschen Hochschulenmehr für Militär und Rüstungsindustrie geforscht,als beispielsweise in den 1980er oder1990er Jahren? Die kurze Antwort lautet abermals:Wir wissen es nicht. So kursiert auf denWebseiten der Zivilklauselbefürworter zwar dieZahl, dass bundesweit an 40 Hochschulen»Rüstungsforschung« stattfinde. Offen bleibt jedoch,ob es hier um Kooperationen mit der Bundeswehr,mit der Rüstungsindustrie, oder um imweiteren Sinne sicherheitstechnologierelevanteForschung geht. Auch fehlen belastbare Vergleichszahlenaus der Vergangenheit, die eineAussage zu etwaigen Tendenzentwicklungen erstermöglichen würden.Bekannt ist hingegen, dass das Bundesministeriumder Verteidigung als für »Verteidigungsforschung«zuständiges Ressort im Haushaltsplan2013 insgesamt 273 Millionen Euro für Auftragsforschungvorgesehen hat. Damit wurden Projektean zehn bundeswehreigenen Forschungseinrichtungen,an öffentlichen Hochschulen undinnerhalb der Rüstungsindustrie finanziert. Am25. November 2013 teilte das Verteidigungsministeriumauf Anfrage erstmals mit, wie viel von>>projekten soll erklären, dass das betreffende Projektnicht militärischen Mitteln dient. Eine entsprechendeÄnderung des Projekt-Anzeige-Formblattesdurch die Verwaltung der TU Berlin sollvom Präsidenten veranlasst werden. Weiterhinwerden von der TU-internen Forschungsförderungkeine Mittel zur Durchführung rüstungsrelevanterForschung bereitgestellt.“Universität BremenBeschluss des Akademischen Senats von 1986:„Der Akademische Senat lehnt jede Beteiligung anWissenschaft und Forschung mit militärischerNutzung bzw. Zielsetzung ab und fordert die Mitgliederder Universität auf, Forschungsthemenund -mittel abzulehnen, die Rüstungszweckendienen können.“Beschluss des Akademischen Senats von 1991:„Der Bewerber / die Bewerberin soll zukünftig ander Universität Bremen keine Militär- und Rüstungsforschungbetreiben und sollte nicht ausBereichen der Rüstungsforschung kommen.“Universität KonstanzBeschluss des Großen Senats von 1991:„Auch der Wissenschaft und Forschung kommt imHinblick auf die angehäuften Waffenpotentiale inunserer Zeit eine immer größere Verantwortung zu.Der Große Senat der Universität Konstanz erklärthierzu, dass Forschung für Rüstungszwecke, insbesonderezur Erzeugung von Massenvernichtungswaffenan der Universität Konstanz keinen Platzhat und auch in Zukunft keinen Platz haben wird.“Technische Universität DortmundBeschluss des Senats von 1991:ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 41


FORSCHUNG UND LEHRE Idiesem Geld in den drei Vorjahren an zivileHochschulen geflossen ist. Demnach erhieltendortige Projekte zwischen 2010 und 2013 jährlichFördergelder von insgesamt etwa zehn MillionenEuro. Hochgerechnet auf das gesamte jährlicheFördervolumen der Deutschen Forschungsgemeinschaft(DFG) im Jahr 2012 wären das 0,4Prozent. Doch auch hier fehlen Vergleichszahlenzu der Zeit vor 2010, um gegebenenfalls zumindesteine Tendenz zur »Militarisierung« deutscherUniversitäten aufzeigen zu können.Wenn die Faktenlage aber so dünn ist, stelltsich die Frage, woraus auf Seiten der Zivilklauselaktivistender Eindruck einer zunehmenden »Militarisierung«erwächst. Möglicherweise ist es vorallem eine Frage der Wahrnehmung. So operierenFachleute in Politik und Wissenschaft seit übereinem Jahrzehnt mit dem »erweiterten« undjüngst dem »umfassenden« Sicherheitsbegriff.Außer bei Experten und Interessierten ist diesallerdings erst mit deutlicher Verzögerung in denletzten Jahren wirklich rezipiert worden. Das wiederumsorgt dafür, dass immer neue Forschungsbereicheplötzlich als »sicherheitsrelevant« entdecktwerden. Hätte man beispielsweise vor 20Jahren die Arbeit an besseren Algorithmen zurVerarbeitung von Datenbanken vermutlich kaumbei der Militär- oder Rüstungsforschung verortet,sieht das heute gänzlich anders aus. Die zunehmendeakademische Auseinandersetzung mit der»Versicherheitlichung« zahlreicher Lebensbereichescheint zudem das Problembewusstsein fürden Aspekt der »Dual-Use«-Problematik, besondersim Bereich der Grundlagenforschung, gestärktzu haben. Verbunden mit den beschriebenenVeränderungen des Wissenschaftsbetriebesdurch »Bologna« würde dies zumindest erklären,warum die Debatte gerade in den vergangenenJahren so deutlich an Fahrt aufgenommen hat.Angesichts des vergleichsweise sehr geringenMittelanteils betonen Zivilklauselgegner häufig,in der Realität gebe es in Deutschland eigentlichgar kein durch Klauseln zu lösendes Problem.Doch nicht zuletzt angesichts der Ende 2013 vonNorddeutschem Rundfunk und Süddeutscher Zeitungunter dem Titel »Geheimer Krieg« veröffentlichtenRechercheergebnisse ist die Frage berechtigt,ob es reicht, die Diskussion mit einem Verweisauf das geringe Auftragsvolumen und dieWissenschaftsfreiheit für beendet zu erklären.Die Berichte ermöglichten erstmals einigeEinblicke in die wenig transparente Welt militärischerAuftragsforschung durch ausländische Auftraggeberan deutschen Hochschulen. Dass ausgerechnetauf Grund des »Freedom of InformationAct« öffentlich zugängliche US-Dokumenteund nicht die Transparenz deutscher Universitätenden Journalisten die Arbeit überhaupt ermöglichte,dürfte dabei Wasser auf die Mühlen derKlauselbefürworter sein. Die durch den NSA-Skandal angestoßene Berichterstattung lässt indesnur erste Schlüsse auf die Kooperation deutscherHochschulen mit dem US-Verteidigungsministeriumzu – genauere Erkenntnisse zurebenso erfolgten akademischen Zusammenarbeitmit anderen Staaten liegen hingegen nicht vor.So wurde bekannt, dass aus den USA seit 2000»mehr als zehn Millionen US-Dollar« an »mindestens22 deutsche Hochschulen und Forschungsinstitutefür Rüstungsforschung geflossen« seien.>>„Der Senat der Universität Dortmund erklärt imSinne einer Selbstverpflichtung, dass die Forschungan der Universität Dortmund ausschließlichzivilen Zwecken dient und auch zukünftigkeine Forschungs- und Entwicklungsvorhabendurchgeführt werden, die erkennbar militärischenZwecken dienen sollen.“Klausel im Mustervertrag für Forschungs- undEntwicklungsvorhaben:„Der Auftraggeber verpflichtet sich, die an derUniversität Dortmund im Rahmen des Vorhabensentstandenen Forschungsergebnisse ausschließlichfür zivile Zwecke zu nutzen.“Universität Oldenburg2007 in der Grundordnung festgeschrieben:„Alle an Forschung und Lehre beteiligten Mitgliederund Angehörigen der Universität haben dieFolgen wissenschaftlicher Erkenntnisse zu bedenken.Werden ihnen Ergebnisse der Forschung, vorallem an der Universität, bekannt, die Gefahrenfür Gesundheit, das Leben oder das friedliche Zusammenlebenherbeiführen können, sollen sie dieEthikkommission unter- richten.“Technische Universität IlmenauBeschluss des Akademischen Senats von 2010,im Leitbild festgeschrieben:„Grundlagen einer verantwortungsbewussten Lehre,Forschung und Entwicklung sind die AllgemeineErklärung der Menschenrechte und das Grundgesetzder Bundesrepublik Deutschland, Autonomieund Selbstregulierungsfähigkeit der Universitätsowie die friedliche, zivile Nutzung wissenschaftlicherErkenntnisse und die nachhaltigeBewahrung der menschlichen Lebensgrundlagen.“ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 42


FORSCHUNG UND LEHRE IDie Recherchen ergaben zum Beispiel, dass Chemikerder Ludwig-Maximilians-Universität inMünchen im Auftrag des Pentagon an»ökologischen Sprengstoffen« arbeiteten oder,dass Biologen der Universität Marburg mit Forschungsergebnissenzur nächtlichen Orientierungflugfähiger Insekten mittelbar die Navigationvon Drohnen zu verbessern halfen.Von einer organisiertenGegnerschaft derZivilklauseln kann nichtgesprochen werden.Angesichts des völkerrechtlich mindestens problematischenEinsatzes bewaffneter Drohnen gegenTerrorverdächtige und des – auch vom Bundesverwaltungsgerichtals völkerrechtswidrig bezeichneten– Krieges gegen den Irak 2003 stelltsich die Frage, wie problemlos vereint Forschungsfreiheitund Friedensfinalität noch sind,wenn an deutschen Hochschulen erlangte Forschungsergebnissenicht mehr nur den dieser Finalitätverpflichteten deutschen Streitkräften zurVerfügung stehen. Denn wer stellt sicher, dassdie Ergebnisse deutscher Forscher im AuftragDritter nicht in Drohnen über Pakistan und demJemen oder andernorts landen? Wie soll garantiertwerden, dass der »ökologische Sprengstoff«made in Germany von Deutschlands Partnern –und den Kunden ihrer Rüstungsindustrie – nurvölkerrechtskonform eingesetzt wird?Zu klären bleibt, wer genau eigentlich für odergegen Zivilklauseln eintritt. Hier bietet sich einäußerst asymmetrisches Bild: Während die Bewegungder Befürworter einige mediale Aufmerksamkeiterzielt, treten die Gegner kaum öffentlichin Erscheinung. Keine Website sammelt ihreArgumente oder organisiert Widerstand gegendie Einführung der Klauseln, sodass auch überdrei Jahre nach Einsetzen der Debatte nicht voneiner öffentlich organisierten Gegnerschaft gesprochenwerden kann.Professorinnen und Professoren üben sich beidem Thema zumeist in Zurückhaltung. So äußertensich zum Beispiel in Köln von 522 aktivenLehrstuhlinhaberinnen und -inhabern derUniversität zur dortigen Debatte um die Einführungeiner Zivilklausel gerade einmal 13 öffentlich,indem sie eine Unterschriftenaktion derBefürworter unterstützten. Fast alle dieser Unterstützerstammen allerdings aus Forschungsbereichen,die mit einer etwaigen »Zivilklausel«kaum in Konflikt stehen könnten. Der Rest derpotenziell eher betroffenen habilitierten KölnerLehrkräfte entzog sich mehrheitlich schlicht deröffentlichen Debatte, sorgte später allerdingsper repräsentativem Votum im akademischenSenat dafür, dass die Klausel vorerst gestopptwurde.An anderen Hochschulen bietet sich ein ähnlichesBild. Ein klares öffentliches Statement gegeneine Zivilklausel sucht man, vielleicht mitAusnahme des Kieler Professors Joachim Krause,auch an Universitäten, die sich gegen eine Einführungentschieden, nahezu vergebens. In dermedialen Berichterstattung entsteht so oftmals>>Universität Tübingen2010 in der Präambel der Grundordnungfestgeschrieben:„Lehre, Forschung und Studium an der Universitätsollen friedlichen Zwecken dienen, das Zusammenlebender Völker bereichern und im Bewusstseinder Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagenerfolgen.“Universität Rostock2011 in der Grundordnung festgeschrieben:„Lehre, Forschung und Studium an der Universitätsollen friedlichen Zwecken dienen, das Zusammenlebender Völker bereichern und im Bewusstseinder Nachhaltigkeit bei der Nutzung der endlichennatürlichen Ressourcen erfolgen.“Hochschule BremenBeschluss des Akademischen Senats von 2012:„Studium, Lehre und Forschung an der HochschuleBremen dienen ausschließlich friedlichen Zwecken.Der Akademische Senat lehnt die Beteiligung vonWissenschaft und Forschung an Projekten mit militärischerNutzung bzw. Zielsetzung ab und fordertdie Mitglieder der Hochschule auf, derartige Forschungsthemenund -mittel abzulehnen. WerdenForschungsvorhaben bekannt, deren Ergebnissedas friedliche Zusammenleben der Menschen bedrohenkönnen, werden diese im AkademischenSenat hochschulöffentlich diskutiert.“Ergänzend zur Zivilklausel fasste der AkademischeSenat zur Frage der ethischen Anforderungen andas Handeln der Forscherinnen und Forscher am 12.Juni 2012 folgenden Beschluss:„Der Akademische Senat fordert das Rektorat auf,im Rahmen der Gestaltung der VerfahrensabläufeADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 43


FORSCHUNG UND LEHRE Ider Eindruck, dass die jeweiligen Klauselinitiativenbreit in der Studierenden- und Mitarbeiterschaftverankerte Projekte seien, die gegebenenfallsam bürokratischen Widerstand intransparenterStrukturen und Akteure scheiterten.Die Befürworterschaft ist demgegenüber sowohlan vielen Hochschulstandorten als auchbundesweit gut organisiert und kommuniziertihre Positionen zumeist mittels kostenloserWeblogs äußerst medienwirksam. Ihren hartenKern bilden Gruppierungen aus dem linken undlinksextremen Umfeld. Diese können häufig aufbereits bestehenden Strukturen wie Studierendenvertretungen,friedensaktivistische Gruppenoder bildungspolitische Aktionsbündnisse aufbauen.Unterstützt werden sie dabei insbesonderevon linksgerichteten parteinahen Jugendorganisationenwie den »Jusos«, der »Grünen Jugend«,der »Linksjugend Solid« oder der Nachwuchsorganisationder Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft»Junge GEW«.Während die Linkspartei und die GEW, wieihre Jugendverbände auch, auf Bundesebene festhinter der Einführung von Zivilklauseln stehen,vermeiden Bündnis90/Die Grünen und die SPDauf dieser Ebene klare Bekenntnisse. Beide begrüßenzwar entsprechende Initiativen »von unten«an den Hochschulen, fordern aber selbst keineverbindlichen Klauseln. Zumindest die Sozialdemokratenhaben sich vor der letzten Bundestagswahl,wie Wolfgang Hellmich im Interviewgegenüber ADLAS, zudem explizit »zu ihrer Verantwortunggegenüber der deutschen wehrtechnischenIndustrie« bekannt. CDU/CSU und FDPlehnen die Einführung von Zivilklauseln auf Bundes-und Landesebene, ebenso wie ihre Jugendorganisationen,grundsätzlich ab.Es bleibt die Frage, wen die Aktivisten derKlauselinitiativen repräsentieren. »Die Studierenden«,wie es gern in Flugblättern, Pressemitteilungenund bisweilen auch der überregionalenPresse verbreitet wird, sind es mehrheitlich wohlnicht. Denn wenn beispielsweise Zeit Online davonberichtet, dass sich bei einer Urabstimmung»über 76 Prozent der Studenten an der Uni Frankfurt«für eine Zivilklausel ausgesprochen hätten,bleibt die Frage, wie viele Studierende tatsächlichan dieser Abstimmung teilnahmen, ausgeblendet.Diese ist aber relevant, da die studentische Beteiligungan hochschulpolitischen Gremienwahlenund vergleichbaren Partizipationsmöglichkeitenbedauerlicherweise nicht nur in Frankfurt seitlangem günstigstenfalls im Bereich um 20 Prozentdümpelt. Eine Pressemitteilung des »AK Zivilklausel«an der Goethe-Universität Frankfurtam Main lässt es sich dann zwar nicht nehmen zuunterstreichen, »dass die Beteiligung an der Zivilklausel-Abstimmungbei der Urnenwahl um 9,6Prozent höher lag als bei der traditionellen Wahlzum Studierendenparlament«, vermeidet aberebenso eine Angabe der jeweils absoluten Wahlbeteiligung.Während »Transparenz« eigentlich eine Kernforderungder Befürworter der Zivilklauseln ist,zeigen sich solche Ausklammerungen im Interessedes eigenen Vertretungsanspruchs auch ananderen Großuniversitäten. So stimmten an derUniversität Köln laut dem dortigen Aktionsbündnisauf die Nachkommastelle ausgezählte 65,5Prozent der Studierenden für die Einführung ei->>zur Beantragung von Forschungsmitteln sowie zurDurchführung von Auftragsforschungsprojekten(Drittmittelrichtlinie) sicherzustellen, dass dieWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler derHochschule die Zivilklausel, die Anforderungendes Leitbildes der Hochschule sowie das Mitbedenkensgebotdes § 7 Absatz 1 BremHG [BremischesHochschulgesetz] beachten und ihre Forschungsvorhabenan den sich daraus ergebendenMaßstäben messen.“Hochschule BremerhavenBeschluss des Akademischen Senats von Juni 2012,im März 2013 auch im Leitbild verankert:„Die Hochschule Bremerhaven ist dem Friedenverpflichtet und konzentriert ihre Tätigkeiten aufzivile Zwecke. Sie erwartet von ihren Angehörigenein ethisches Verhalten in Forschung und Lehre.“Technische Universität DarmstadtBeschluss der Universitätsversammlung vomOktober 2012, in der Präambel der Grundordnungfestgeschrieben:„Forschung, Lehre und Studium an der TechnischenUniversität Darmstadt sind ausschließlichfriedlichen Zielen verpflichtet und sollen zivileZwecke erfüllen; die Forschung, insbesondere dieEntwicklung und Optimierung technischer Systeme,sowie Studium und Lehre sind auf eine zivileVerwendung ausgerichtet.“Universität GöttingenBeschluss des Senats von Februar 2013:„I. 1. Die Universität bekennt sich zum Friedenund zur Gerechtigkeit in der Welt. Die Universitätund die in ihr tätigen Wissenschaftlerinnen undADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 44


FORSCHUNG UND LEHRE IVon Repräsentativitätoder einer mehrheitlichenVerankerung des Themaskann kaum die Rede sein.ner Zivilklausel, bei 19,7 Prozent Gegenstimmenund 14,9 Prozent Enthaltungen. Zugleich ist vonschwer verifizierbaren »circa 8.000« insgesamtabstimmenden Studierenden die Rede. Da dieStudierendenschaft an der Kölner Universität allerdingsmehr als 45.000 Köpfe zählt, hätten damitgerade einmal rund 17,5 Prozent der Immatrikuliertenüberhaupt an der Abstimmung teilgenommen.Klarer als in Frankfurt und Köln äußertesich dagegen der AStA der Universität Augsburgmit ihren über 19.000 Studierenden: »Aufder studentischen Vollversammlung am Dienstag,den 26. Juni [2012], die mit 300 anwesenden(von 833 für die Beschlussfähigkeit notwendigen)Studierenden nicht beschlussfähig war, fiel dasErgebnis der Abstimmung […] für die Forderungder Studierenden nach Einführung einer ZivilundTransparenzklausel in die Grundordnung derUniversität eindeutig positiv aus.« Von Repräsentativitätoder einer mehrheitlichen Verankerungdes Themas kann somit kaum die Rede sein.Gleichwohl sollte der Diskussion deshalb nicht,wie von einigen Zivilklauselgegnern zuweilen getan,jegliche Legitimität abgesprochen werden.Denn selbst wenn der oft geäußerte Anspruch derBefürworter, mit der Forderung nach Zivilklauselnden Willen »der« Studierenden zu vertreten, häufigkaum der Realität entspricht, bleibt festzuhalten,dass das Thema an vielen Hochschulen nachweisbarhunderte, wenn nicht tausende, Menschenbewegt – und das wiederum auch über daslinke Studierendenspektrum hinaus.Das ist bemerkenswert, denn an deutschenCampussen ist, wie auch in der gesamten Republik,das Mobilisierungspotenzial bei außen- undsicherheitspolitischen Themen eher begrenzt.Mit der Debatte um friedliche Forschung aberhaben die zumeist linken Aktivisten offenbarweit über ihre übliche Zielgruppe hinaus einenmilitärskeptischen Nerv getroffen. Das mögen dieGegner der Zivilklauseln bedauern – ignorierensollten sie es nicht. Das offenbar starke Interesseam Thema könnte vielmehr die Chance bieten,die immer wieder geforderte, öffentliche Debattezu außen- und sicherheitspolitischen Themengezielt an den deutschen Hochschulen zu führen.Auch und gerade an Debattenkultur scheint esjedoch im Ringen um die Klauseln vielfach zumangeln. Denn obgleich die Diskussion bereitsmehrere Jahre währt, scheinen beide Lager – anstattmiteinander – lieber mit sich selbst, übereinanderoder aneinander vorbei zu reden. Somusste beispielsweise der AStA der Ruhr-Universität Bochum eine geplante Podiumsdiskussionunter dem Titel »Zivilklausel ja odernein« absagen, da die angefragten Zivilklauselbefürworterihre Position unter keinen Umständenbei einer Veranstaltung zur Diskussion stellenlassen wollten, bei der auch »die Bundeswehr«teilnähme. Abgesehen davon, dass nicht ein An- >>Wissenschaftler sind bestrebt, durch Forschungund Lehre dem Frieden der Welt zu dienen. Siesind bei ihrem Handeln in Verantwortung für dieGesellschaft den der Wissenschaft immanentenethischen Grundsätzen verpflichtet.2. Der Senat wird die Zivilklausel in geeigneterWeise im Leitbild der Universität verankern.3. Präsidium und Vorstand werden aufgefordert,durch geeignete organisatorische Vorkehrungendafür zu sorgen, dass ihnen gegenüber Forschungsvorhabenmit erkennbar militärischemZweck angezeigt werden. Hierüber ist einmal imJahr in geeigneter Weise im Senat zu berichten.II. Der Senat gibt folgende Erklärung zu Ziffer I. 3.des Beschlusses zu Protokoll: „Forschungsvorhaben,deren Ergebnisse mittelbar oder sowohlfür zivile als auch militärische Zwecke verwendbarsind (z.B. die Beteiligung an der Entwicklungsogenannter Dual-Use-Güter), sind ausschließlichdann anzuzeigen, wenn absehbar ist, dass dieErgebnisse militärisch verwendet werden sollen.“Universität Frankfurt am MainBeschluss des Senats von März 2013:„Lehre, Forschung und Studium an der Goethe-Universität dienen zivilen und friedlichen Zwecken.“Universität MünsterBeschluss des Senats von Juli 2013:„Forschung, Lehre und Studium an der UniversitätMünster sind auf zivile und friedliche Zwecke ausgerichtet.“Quelle: www.zivilklausel.deADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 45


FORSCHUNG UND LEHRE Igehöriger der Streitkräfte, sondern ein Vertreterdes »Bundesverbands Sicherheitspolitik an Hochschulen«eingeladen war, scheint der Vorfallsymptomatisch für eine Diskussionskultur zusein, bei der bereits die Anwesenheit – möglicherweise– abweichender Meinungen als Affrontbegriffen wird. Andererseits sind immer wiederDas komplexe Themawäre wichtiggenug, um einmalrespektvoll miteinanderzu diskutieren.ErfindungsreicherAktionismus: Mit einem»UniLeaks-Briefkasten«wollte der Kasseler»ArbeitskreisZivilklausel« im Januar2013 es jedemermöglichen, aufanonyme Weisevermeintliche geheimemilitärische Forschungsprojektean derUniversität öffentlichbekannt zu machen.Foto: AK Zivilklausel KasselBeschwerden zu vernehmen, dass Zivilklauselbefürworterbei den entsprechenden Anhörungender universitären Entscheidungsgremien häufigkein Rederecht erhielten oder ihre Gutachternicht gehört würden, während die Gegenseiteihre Argumente unwidersprochen ausbreitenkönne. Beides offenbart eine Debattenkultur, diedes akademischen Umfelds, in dem die Diskussionstattfindet, nicht würdig ist.Dabei wäre das komplexe Thema wichtig genug,um konzentriert, faktenbasiert und respektvollgegenüber der jeweils anderen Seite darüberzu diskutieren und gegebenenfalls auch einmalüber Lösungsalternativen jenseits der bislang gepflegten»Alles-oder-Nichts«-Rhetorik beider Seitennachzudenken. Wo, wenn nicht an den Hochschulen,sollte dies möglich sein? Quellen und Links:Website des »Arbeitskreis Zivilklausel« an derChristian-Albrechts-Universität zu KielBericht der Zeit zur militärischen Auftragsforschungan deutschen Universitäten vom 17. Januar 2014Sammlung von »Antworten der Parteienzur Bundestagswahl« vom 4. September 2013auf einen Fragebogen der »InitiativeHochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel!«Stellungnahme von Prof. Dr. Joachim Krause vom»Institut für Sicherheitspolitik« der CAU vom Juli 2013Bericht der Kieler Nachrichten vom 7. Juli 2013Bericht des Hessischen Rundfunks vom 14. Mai 2013Pro- und Contra-Positionen zur Kasseler Zivilklauselbei Zeit Online vom 24. Januar 2013Karsten Herzmann: »›Friedlichkeitsanforderungen‹an die universitäre Forschung als rechtlicheSackgasse?«, in der Zeitschrift für Wissenschaftsrecht,Ausgabe 4/2011Interview des Schwäbischen Tagblattes mit WolfgangIschinger vom 17.Oktober 2011Gutachten »Zur Zulässigkeit einer so genannten›Zivilklausel‹ im Errichtungsgesetz für das geplanteKarlsruher Institut für Technologie« von ErhardDenninger zur Einführung einer Zivilklausel am KITKarlsruhe vom Februar 2009ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 46


Foto: Jürgen Haacks / Uni KielDISKURS: FORSCHUNG UND LEHRE IILinksradikaleSpäthippies?Im Sommer 2013 wurde die Debatte umuniversitäre »Zivilklauseln« an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel besondersheftig geführt. Eine Einführung einer solchenSelbstverpflichtung an dieser Hochschule istnoch ungeklärt. ADLAS lässt zwei Studierendevon der Förde zu Wort kommen.Eine Zivilklausel verlangt die ethisch geboteneAuseinandersetzung mit den möglichen Konsequenzenwissenschaftlichen Handelns.Pro von Vanessa TiedeDie Schlagzeile, dass deutsche Universitäten für das US-Verteidigungsministeriumforschen, befeuerte im vergangenen Herbst erneut die Debatte umdie Integration von Zivilklauseln in die Statuten deutscher Hochschulen. DieDiskussion verorten Gegner einer Zivilklausel gerne als »linksradikalen Späthippie-Paranoia«.Dieser Darstellung widerspricht aber die gesellschaftlich undglobal breite Aufstellung der Befürworter: So gibt es auf internationaler EbeneBewegungen wie das International Network of Engineers and Scientists for GlobalResponsibility (INES), dessen Aufruf zur Einführung von Zivilklauseln unteranderem von Chemie-, Physik- und Friedensnobelpreisträgern, dem Bürgermeistervon Hiroshima sowie Wissenschaftlern der Harvard University und desMassachusetts Institute of Technology (MIT) unterzeichnet wurde.Zivilklauseln sind ein schwerwiegender Eingriff indie Freiheit der Wissenschaft.Und darüber hinaus für den Forschungsalltag untauglich.Contra von Heiko RohowskiDie gemeinhin als »Zivilklauseln« bezeichneten hochschulpolitischenSelbstverpflichtungen werfen in drei Dimensionen – einer juristischen,einer ideologischen, und einer organisatorisch-praktischen – zahlreicheFragen auf und bringen so schwerwiegende Probleme mit sich, dass ihreEinführung hierzulande sehr bedenklich ist.Zunächst berühren die so genannten Zivilklauseln eine juristische Dimension.Je nachdem, wie detailliert sie im Einzelnen ausgestaltet sind,bringen sie bestimmte Verbote und andere Einschränkungen mit sich, diein Konflikt mit geltendem Recht stehen können. Das trifft besonders aufein Grundrecht zu, das in Deutschland fest verankert ist: »Kunst, Wissenschaft,Forschung und Lehre sind frei«, heißt es in Absatz 3, Artikel 5 desADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 47


FORSCHUNG UND LEHRE IIAuf nationaler Ebene engagieren sich studentische Initiativen, Gewerkschaften,Vereinigungen von WissenschaftlerInnen und HochschullehrerInnen, Friedensorganisationenund Parteien. Auf Landesebene setzt sich beispielsweisedie Partei Bündnis 90/Die Grünen in Schleswig-Holstein für eine Zivilklauselein, auf Bundesebene befürwortet die Partei Die Linke solche Klauseln. Siehtman sich die Argumente der Befürworter genauer an, zeigt sich grundsätzlichein Bedürfnis nach Transparenz und Verantwortlichkeit der beteiligten Akteureim Umgang mit rüstungs- und streitkräftebezogener Forschung.Kein Befürworter von Zivilklauseln gibt sich dem Wunschdenken hin, dassüber Nacht verbindliche Festschreibungen mit ausgereiften Umsetzungs- undÜberprüfungsmechanismen in die Statuten aller deutschen Hochschulen eingehenwerden. Jede Zivilklausel ist das Ergebnis eines Verhandlungsprozessesbetroffener Akteure und die bisher existenten Klauseln unterscheidensich daher deutlich im Wortlaut und in ihrer Verbindlichkeit. Doch auchwenn sich zunächst nur unverbindliche Formulierungen durchsetzen, sinddiese das Ergebnis einer umfassenden Diskussion, die beispielsweise an derUniversität Kiel Befürworter mit Gegner zusammenbringt und deren Ursprungein offensichtliches Bedürfnis nach gesellschaftlicher Auseinandersetzungmit diesem Thema ist.Es scheint kaum noch Forschungsbereiche zu geben, die nicht militärischnutzbar gemacht und deren Erforschung dementsprechend gefördert undfinanziert werden. Sensornetzwerke helfen im Bereich der technischen Informatikbei der Entwicklung von intelligenten Kühlsystemen ebenso wie beider Entwicklung intelligenter Bomben. In der Computerlinguistik könnenProgramme zur Untersuchung von Sprachstrukturen zur Verbesserung militärischerAbhörsysteme verwendet werden, und an der Universität Marburgforschten NeurobiologInnen im Auftrag der US-Luftwaffe über fliegende Insekten– um damit letztlich Militärdrohnen weiterzuentwickeln. WissenschaftlerInnen,die sich für Zivilklauseln engagieren, sehen diese Entwicklungsehr kritisch. Unumstritten ist, dass sich bewaffnete Konflikte veränderthaben, und dass sich ebenso deren Untersuchung wandelt und wandelnmuss. Aber der Zusammenhang zwischen der Forschung und der Verwendungihrer Ergebnisse wird zunehmend entkoppelt, auch weil entsprechendeProjekte oft als Verschlusssache gehandhabt werden und Informationen vonUniversitäten dazu daher schwer zu bekommen sind. Damit wird die Verant-Grundgesetzes. Im Jahr 1973 hat das Bundesverfassungsgericht diesenArtikel konkretisiert und herausgestellt, dass die Freiheit der Forschung»insbesondere die Fragestellung und die Grundsätze der Methodik sowiedie Bewertung des Forschungsergebnisses und seine Verbreitung« umfasse.Dieser Schutzbereich des Artikels beziehe sich ausdrücklich auf die»geistige Tätigkeit mit dem Ziele, in methodischer, systematischer undnachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen«.Die Beschränkungen, die vonZivilklauseln ausgehen,sind ein Eingriff in das Grundrechtder Wissenschaftsfreiheit.Nach Auffassung des Gießener Juristen Karsten Herzmann findet derSchutzbereich keine Grenzen in der Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers,da die Auswirkungen seines Forschens für die Schutzbereichsebenekeine Relevanz hätten. Die Beschränkungen, die von Zivilklauselnausgingen, stellten seiner Ansicht nach einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheitdar, die das Grundgesetz aber vorbehaltlos gewährt. EtwaigeEinschränkungen dieses Grundrechts müssten laut Herzmann vom Gesetzgeberausdrücklich festgelegt werden, sollte es im Einzelfall zur Kollisionmit einem anderen Schutzgut von Verfassungsrang kommen.Erhard Denninger, emeritierter Professor für Öffentliches Recht inFrankfurt am Main und ein Befürworter von Zivilklauseln, hingegen argumentiert,dass die »Friedensfinalität« des Grundgesetzes ein solches,mindestens ebenso hochwertiges Schutzgut sei, dem die Klauseln zurGeltung verhelfen sollen. Ihm zufolge seien die Klauseln verfassungsrechtlichgrundsätzlich zulässig. Einer Kollision mit der Forschungsfreiheitmüsse in konkreten Fällen mit einem »möglichst schonenden Ausgleich«begegnet werden. Denninger sieht in Zivilklauseln kein grundsätzlichesVerbot von Rüstungsforschung. Vielmehr müssten Rüstungsforscher,die an einer Universität arbeiten, die sich eine Zivilklausel ge-ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 48


FORSCHUNG UND LEHRE IIwortung der Forschenden, AuftraggeberInnen und weiterer beteiligter Akteurefür das, was mit den Ergebnissen schlussendlich passiert, schwerernachvollziehbar. Eine Zivilklausel hält dieser Tendenz institutionell etwasentgegen. Forschungsvorhaben werden in einen Kontext gesetzt, die betroffenenAkteure an der Hochschule informiert, Geld- und Auftraggebendebekanntgemacht, und die einzelnen Forschenden mit einer möglichen späterenVerwendung ihrer Ergebnisse konfrontiert.Transparenz ist in sicherheitsrelevanten Bereichen traditionell rar gesätund wird regelmäßig nicht als elementare Anforderung einer demokratischenGesellschaft, sondern als Risiko und Hindernis erachtet. Globale Datenzur Produktion und zum Export von Rüstungsgütern beispielsweise sindschwer zu bekommen, wie das Stockholm International Peace Research Institute(SIPRI) und andere Forschungsinstitute immer wieder feststellen.Entsprechende Forschung an öffentlichen Universitäten, im Rahmen einerEs gibt kaum noch Forschungsfelder,die nicht militärischnutzbar gemacht werden.Verfassungsordnung, die gemäß der Präambel des Grundgesetzes dem Friedender Welt dienen möchte, kann nicht einfach geräusch- und kritiklos erfolgen.Dazu zählen Projekte deutscher Rüstungskonzerne, deren Produkteexportiert und auch in völkerrechtswidrigen internationalen und nationalenbewaffneten Konflikten eingesetzt wurden und werden. Ebenso darunter fallenAufträge von Staaten, die gemeinsam mit Deutschland Teil eines kollektivenSicherheitssystems sind, aber diese Forschungsergebnisse in solchenbewaffneten Konflikten nutzen. Die USA als einer der größten ausländischenKooperationspartner deutscher Universitäten im Bereich der Rüstungsforschungund ihr Krieg gegen den Irak im Jahr 2003 sind hier nur einprominentes, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel.Forschung und Lehre müssen grundsätzlich frei sein. Eine Zivilklausel,die den wissenschaftlichen Betrieb inhaltlich beschränkt, ist ein Eingriff ingeben hat, damit leben, dass ihnen das für die Verteilung zuständige Organkeine finanziellen Mittel bereitstellt.Dass es notwendig sein sollte, wie Denninger die Worte der Präambeldes Grundgesetzes zur Friedensfinalität für die Wissenschaft in interpretativerWeise mittels Zivilklauseln zu konkretisieren, erscheint angesichtseindeutiger Grundgesetzartikel wie Artikel 1, Absatz 2 – dem Bekenntniszum Frieden – oder Artikel 26, Absatz 1 – dem Verbot von Angriffskriegen– mehr als fragwürdig. Da die Anwendung militärischer Gewaltim Grundgesetz nicht nur legitimiert, sondern vor allem streng reglementiertist, kann man schließlich von einer »wehrhaften Friedensstaatlichkeit«sprechen.Die Motivation, die hinter der Einführung von Zivilklauseln steht, spiegeltsich in einer ideologischen Dimension wider. Einen Überblick über dieMotive hinter den Forderungen nach Zivilklauseln bietet der einführendeAufsatz von Thomas Nielebock, Simon Meisch und Volker Harms – alleDozenten und Forscher an der Universität Tübingen – in ihrem Sammelband»Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium – Hochschulen zumFrieden verpflichtet«. Darin sprechen die Autoren von »besonderer« und»individueller« Verantwortung von Wissenschaftlern, die aufgrund einesWissensvorsprungs »früh Einsicht in unerwünschte technische oder sozialeEntwicklungen der eigenen oder fremder Forschung gewinnen«. DieVerantwortung des Wissenschaftlers gehe dabei soweit, dass er vor zivilenund militärischen Gefahren seiner Forschung warnen müsse. Es reiche jedochnicht aus, auf »moralischen Heroismus« oder »Tugendhaftigkeit desIndividuums« zu setzen. Vielmehr sei eine »gemeinschaftliche Wahrnehmungder Verantwortung« und eine »institutionelle Absicherung« notwendig.Die Autoren konstatieren, dass Zivil- und »Friedensklauseln«»Mitarbeiter(inne)n und Studierenden als auch ihrem gesellschaftlichenUmfeld Orientierung« böten und rote Linien zögen für das, was in der Forschung»gewünscht, akzeptabel und möglich ist und was nicht mehr«. Worinder Sinn von Zivilklauseln liegt, könnten nur die Hochschulen für sichdiskursiv entfalten; er sei »nicht von selbst gegeben.«Obwohl Nielebock, Meisch und Harms die Unterschiedlichkeit vonFriedensvorstellungen – auch und gerade an Hochschulen – akzeptieren,und die Ausgestaltung einer etwaigen Zivilklausel entsprechendADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 49


FORSCHUNG UND LEHRE IIdieses verfassungsmäßig garantierte Recht. Daraus folgt jedoch nicht automatisch,dass eine Zivilklausel verfassungswidrig ist. Entsprechende Gutachtendes Rechtsprofessors Erhard Denninger oder des Rechtsanwalts BerndHoppe kommen zu dem Schluss, dass auch verbindliche Zivilklauseln mit derVerfassung vereinbar sind, da die explizit friedliche Ausrichtung des Grundgesetzesein ebenso schützenswertes Verfassungsgut ist.Wer die Unabhängigkeit der WissenschaftlerInnen durch eine Zivilklauselgefährdet sieht, sollte sich im Gegenzug einmal die Frage stellen, ob aufgrundfehlender Grundfinanzierung und prekärer Beschäftigungsverhältnissedie Unabhängigkeit der Wissenschaft nicht schon lange mehr als bedroht ist.Entstehen Forschungsinteressen, weil sie potentiell Drittmittel einbringen,steigt die Abhängigkeit von externen Geldgebenden, was bei der chronischenUnterfinanzierung deutscher Hochschulen in einer unkritischen Haltung gegenüberderen Agenden resultieren kann. Dieser Argumentationslinie folgtauch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) als Repräsentationsorgandes Hochschulpersonals.Auch dem Mythos, die Umsetzung einer Zivilklausel sei in der Praxis unmöglich,da viele Ergebnisse sowohl zivil als auch militärisch verwendet werdenkönnen, muss deutlich widersprochen werden. Dieser »Dual-Use-Aspekt«macht es vermeintlich unmöglich, eine Tendenzaussage über das militärischePotential wissenschaftlicher Projekte zu treffen. Es mutet aber geradezu lächerlichan, dass inhärente Ambivalenzen des Forschungsprozesses dazu genutztwerden, sich aus jeglicher Verantwortung herauszureden. Forschendean Hochschulen gehören zur akademischen Elite und von ihnen kann undmuss verlangt werden, dass sie sich Gedanken darüber machen, ob und wieihre Forschungsergebnisse bewaffnete Konflikte beeinflussen können. Auftrag-und Geldgebende, an der Forschung beteiligte Organisationen, Institutionenund Firmen, der Stellenwert einzelner Themen innerhalb eines Projekts,die Thematisierung militärischer Aspekte und der Grad der Geheimhaltungvon Verträgen und Ergebnissen sind Faktoren, die klare Schlussfolgerungenerlauben. Eine Zivilklausel verlangt diese ethisch gebotene Auseinandersetzungmit den möglichen Konsequenzen wissenschaftlichen Handelns.Ein Vorschlag, den auf globaler Ebene beispielsweise INES vertritt, sindparitätisch besetzte universitäre Gremien, die das zivile und militärische Potentialeines Auftrages einem Abwägungsprozess unterziehen. Auf nationalerZivilklauseln sind mit Blickauf die Friedlichkeitsausrichtungdes Grundgesetzes überflüssig.gestaltet sein sollte, so deuten sie es doch als eine »Gefahr«, wenn»Kriege als legitimes Mittel der Politik« in einer solchen Ausgestaltunggeduldet würden.Der argumentative Kern der Befürwortung von Zivilklauseln liegt –gerade in der Reflexion der gesamten Bewegung bei Nielebock, Meischund Harms offenkundig – in einem nicht näher ausdifferenzierten Pazifismus,einer grundsätzlich negativen Konnotation alles Militärischenund der verallgemeinerten Grundannahme, dass militärbezogene Forschunggrundsätzlich kriegsfördernd wäre. Annäherungen an die Annahme,dass Kooperationen von Hochschulen mit Militär und Rüstungsindustrienotwendig sein könnten, werden dabei kaum gewagt.Bleibt noch die organisatorisch-praktische Dimension, die die Frage aufwirft,wie eine institutionelle und organisatorische Ausgestaltung von Zivilklauselnim Hochschulalltag konkret aussehen sollte. Zunächst ist festzustellen,dass es nur an vier deutschen Hochschulen – den TUs und Dortmund,den Universitäten Bremen und Oldenburg – festgelegte Verfahrenbeziehungsweise Vorgaben für die Umsetzung von Zivilklauseln gibt.Über die am konkretesten ausgestaltete Klausel verfügt laut HendrikBurmester, Autor im Sammelband von Meisch, Nielebock und Harms, dieBerliner TU. Forschende müssen hier bei Förderungsanträgen notfallsnachweisen, dass ihre Forschung nicht militärischen Zwecken dient. Burmesterzitiert einen ehemaligen Hochschulmitarbeiter, der das Prozedereerklärt: Zunächst müsse demnach eine »Anzeige eines Projekts« geschriebenwerden. Der nötige Vordruck fragt auch danach, ob das Projektmilitärischen Zwecken diene. Diese Anzeige durchläuft dann zahlreicheInstitutionen, darunter Institutsrat, Dekanat, ForschungskommissionADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 50


FORSCHUNG UND LEHRE IIEine Zivilklausel verlangt die ethischgebotene Auseinandersetzung mit denmöglichen Konsequenzenwissenschaftlichen Handelns.Ebene fordert zum Beispiel der Arbeitskreis Zivilklausel an der Universität Kielein solches Gremium. Würde dieses Organ das Risiko einer militärischen Nutzungder Ergebnisse im Vergleich zum zivilen Mehrwert als sehr niedrig einschätzen,wäre das betreffende Vorhaben mit einer etwaigen Zivilklausel vereinbar.Das Ziel ist dementsprechend kein absolutes Verbot der »Dual Use«-Forschung und soll diese auch keinem Generalverdacht aussetzen. Da zudemprivate Institute, auch innerhalb der Rüstungsbranche selbst, ebenso Teil derWissenschaftsgemeinschaft sind, bleiben durch verbindliche Zivilklauseln anöffentlichen Hochschulen weder bestimmte Gebiete unerforscht noch wirdentsprechende Forschung durch solche Klauseln generell unmöglich gemacht.Praktische Fragen, etwa der Auslegung, Implementierung und Kontrolle,die sich bei jeder neuen Regelung stellen, können auch kein ernsthaftes Argumentgegen die Einführung von Zivilklauseln sein. Niemand kann verallgemeinerndin die Zukunft schauen und einen reibungslosen Ablauf garantierenoder ausschließen. Erst die Auslegung und Befolgung der unterschiedlichenZivilklauseln in der Praxis wird zeigen, welche Auswirkungen sie aufden Forschungsbetrieb haben werden.Die Gesamtproblematik der Debatte kann darüber hinaus auch nicht ausschließlichan den einzelnen Forschenden festgemacht werden. Denn im Gegensatzzu dem Argument, dass individuelle WissenschaftlerInnen absolut inihrer Freiheit geschützt seien, geht der Gedanke einer Zivilklausel in einestrukturelle Richtung. Bei wissenschaftlichen Ergebnissen, die am Ende einerlangen Kette von Ereignissen in einem Konflikt gegen Menschen eingesetztwerden, kann die Betrachtung unmöglich beim forschenden Individuum enden.Denn diese Kette besteht aus mehr als voneinander unabhängigen indiviundden »Service-Bereich Forschung«. Da in all diesen Etappen sowohlStudierende, Professoren, wissenschaftliche und sonstige Mitarbeitervertreten seien, können diese auch das Projekt jeweils kritisieren undhinterfragen. Die genauen Vorgehensweisen der anderen Hochschulenkonnte Burmester nach eigenen Angaben »nicht ermitteln.«Der Blick auf diese drei Dimensionen führt zu einem ernüchterndenFazit: Die Auseinandersetzung der juristischen Betrachtungen brachtezwei gegensätzliche Ansichten hervor. Obwohl beide profund recherchierterscheinen und ihre Vertreter sie plausibel erklären, kann HerzmannsAuffassung als die belastbarere von beiden gelten. DenningersSicht, die den Hochschulen eine großzügige Freiheit bei der Gewichtungvon Verfassungsgütern zuspricht, scheint doch ganz entscheidend voneiner ideologischen Doktrin genährt zu sein. Herzmann dagegen bietetmit seiner Nichtzuständigkeitsthese eine in weiten Teilen objektive Einstellung,zumal er nicht nur eine These zur Verfassungswidrigkeit vonZivilklauseln liefert, sondern sie mit Blick auf die deutlich erkennbareFriedlichkeitsausrichtung des Grundgesetzes auch für überflüssig erklärt.Die ideologische Dimension ist zweifellos das Fundament aller Argumentationenfür Zivilklauseln. Betrachtet man die wenigen Aufsätze, diezum Thema veröffentlicht wurden, fällt bereits nach kurzer Zeit auf, dassdie Ablehnung alles Militärischen in einer beinahe schon penetranten Präsenzdämonisierender Begrifflichkeiten ihren Niederschlag findet: Da istbei Burmester die Rede von einer »Militarisierung von Hochschulen« und»militarisierter Lehre«, vor welcher die Universitäten »geschützt« werdenmüssten. Von einer allgemeinen »Gefährlichkeit« und »Bedrohung« durchdas Militär sogar sprechen Nielebock, Meisch und Harms.Diese von naiver Chuzpe zeugende Grundhaltung kann nicht überzeugen,da der beschriebene, schier unumstößliche Pazifismus nicht einmalim Ansatz die Annahme zulässt, dass das Militär nicht per se etwas Negativesoder »Böses« sein könnte. Auch die Tatsache, dass die Bundeswehrverfassungsmäßig legitimiert ist und ihr Einsatz demokratisch mandatiertwerden muss, wird vollkommen ignoriert. Hinzu kommt, dass dieGlaubwürdigkeit der humanistischen Grundeinstellung mancher Zivilklauselbefürwortermassive Einbußen hinnehmen muss, wenn sie zumBeispiel »zivile Rüstungsforschung« – wie etwa für die Polizei – alsADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 51


FORSCHUNG UND LEHRE IIduellen Entscheidungen. Eine Betrachtung des gesamten Systems, in dem dieeinzelnen Forschenden nur ein Teil der Akteurslandschaft sind, ist in anderenethisch kontroversen Bereichen – wie etwa der Genforschung – unbestrittenerStandard. Eine Zivilklausel versucht, ähnliche institutionelle Rahmenbedingungenfür sicherheitsrelevante Forschungsbereiche zu schaffen. Damit wirdein Bewusstsein für eben dieses System und die dortige Verantwortungskettegebildet. Denn in einer dem Frieden verpflichteten Verfassungsordnung darfdie Freiheit der einzelnen ForscherInnen nicht dazu führen, dass das kollektiveGut des Friedens – beispielswiese durch einen rechtswidrigen Einsatz vonWaffen, die gegebenenfalls mithilfe deutscher Hochschulen entwickelt wurden,gegen Demonstrierende in anderen Staaten – gefährdet wird.Forschung ist politisch, steht immer im Kontext von etwas, und wird immerfür jemanden betrieben. Gerade bei expliziter Auftragsforschung kannnicht beansprucht werden, dass sie wissenschaftlich neutral, objektiv undwertfrei sei. Und dass Transparenz und kritische Auseinandersetzung derWissenschaft schaden, kann kein ehrliches Argument sein. Eine Zivilklauselist weder Maulkorb noch Zwangsjacke. Eine Zivilklausel beschränkt Forschung,die in bewaffneten Konflikten gegen Menschen zum Einsatz kommtund fördert durch Transparenz ein Bewusstsein für wissenschaftliche Verantwortung.Das gilt auch für Grundlagenforschung.Die Kette, welche vom Labor gegebenenfalls zum niedergeschossenenDemonstranten führt, ist sicher lang und komplex, muss aber gerade deshalbtransparent sein. Universitäten, gerade in einem Staat, dessen Verfassungdem Frieden in der Welt verpflichtet ist, stellen sich mit einer Zivilklauselgegen den Kreislauf aus Unterfinanzierung, Abhängigkeit von Drittmitteln,Intransparenz gegenüber den eigenen Studierenden und Ignoranz darüber,was es am Ende eines Tages bedeutet, für Rüstungsfirmen und kriegführendeStaaten zu forschen. Deshalb sind Zivilklauseln in den Grundordnungen derHochschulen in Deutschland so wichtig.ethisch unbedenklich etikettieren. Im Umkehrschluss ließe daraus sichfolgende Analogie bilden: Die Entwicklungsforschung für neues Feldbesteckder Bundeswehr ist ethisch nicht vertretbar, die Entwicklung vonDie von naiver Chuzpezeugende Grundhaltung kannnicht überzeugen.neuer Scharfschützenmunition für die Spezialeinsatzkommandos der Polizeienhingegen schon. Die Legitimation der Sicherheitsbehörden Militärund Polizei wird also unterschiedlich gewichtet, obwohl beide eine festeVerankerung in der Verfassung haben und beide gegebenenfalls Menschenverletzten oder gar töten müssen.Für den Forschungsalltag sind Zivilklauseln kaum tauglich, denn sielassen sich nicht störungs- und nebenwirkungsfrei implementieren. DasBerliner Beispiel macht offensichtlich, wie ihre nur halbwegs konsequenteEinführung und Umsetzung zu einer ausufernden Bürokratieketteführt, an deren Ende, so lässt sich vermuten, nur frustrierte Forscher,überforderte Universitätsverwaltungen und streitende ASten stehen.Zivilklauseln stehen rechtlich auf höchst wackeligen Beinen, ihre ideologischeBegründung ist vage und widersprüchlich. Nicht zuletzt mangeltes bis heute an einer brauchbaren Handhabung im universitären Alltag.Sie sind folglich für die freie Forschung nur hinderlich. Ihre Einführungund Umsetzung an Hochschulen zu verhindern, ist daher absolutgerechtfertigt.Vanessa Tiede studiert Internationale Politik und Internationales Recht an derChristian-Albrechts-Universität zu Kiel.Heiko Rohowski studiert Politikwissenschaft und Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universitätzu Kiel.Anmerkung der Redaktion: Die hier veröffentlichten Texte geben ausschließlich die Meinungen der beiden Autoren wieder. Sie sind ausdrücklich weder ein e Meinungsäußerung des BSH noch der Redaktion.ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 52


DIE WELT UND DEUTSCHLAND: ENERGIEGas gegen Wertevon Ricarda ScheeleIn einer Zeit der Verknappung globaler Ressourcen wird die Energiepolitik Europas beinahezwangsläufig Teil seiner Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei versucht die EU, mit ihrerEnergieaußenpolitik wirtschaftliche Interessen mit normativer Verantwortung in der Welt zuvereinbaren. Das scheitert bisher jedoch an mangelnder Einsicht der beteiligten Akteure – allen voranden Nationalstaaten, aber auch den Energieunternehmen – in die langfristige Notwendigkeit einerwerteorientierten Politik. Eine gemeinsame Linie bleibt vorerst Wunschdenken. >>Bundeskanzlerin Angela Merkel, der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew und EU-Energiekommissar Günther Oettinger, und andere, bei der Eröffnung der »Nord Stream«-Pipeline in Lubmin im November 2011. Foto: Nord Stream AGADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 53


Foto: BundesregierungENERGIEBundespräsident Joachim Gauck wollte in derSprache der Geschäftsleute sprechen: »Menschenrechtesind nicht verhandelbar.« Das sagte er imApril 2013 vor der Parlamentarischen Versammlungdes Europarats. Ihn bewegte die Erinnerungan die Entspannungsphase des Kalten Krieges, alsWesteuropa im Zeichen des »Wandels durch Annäherung«bereit war, Menschenrechtsverletzungender kommunistischen Regime im Osten desKontinents nicht zu benennen. »Erneut wird wiedamals von einigen vorgetragen, die Verteidigungvon Menschenrechten stünde im Widerspruchzur wirksamen Durchsetzung von politischenund wirtschaftlichen Interessen«, erklärteer. »Lassen Sie mich nur so viel dazu anmerken:Das Argument, gute wirtschaftliche Zusammenarbeitwürde Kompromisse bei der Frage vonMenschenrechten erzwingen, vermag mich heutenoch weniger zu überzeugen als damals.«Das deutsche Staatsoberhaupt scheint überzeugt,dass – in einer Welt geprägt von neuartigen,komplexen Risiken – aktive Beiträge zur Entwicklungeiner auf demokratischen Werten basierendeninternationalen Ordnung auch die langfristigeExistenzgrundlage westlicher Demokratiensichern können. Für Gauck haben auch AußenundSicherheitspolitik eine moralische Dimension.Wenn EU-Kommissar Günther Oettinger dagegenvon Energieaußenpolitik spricht, ist seltenervon Werten die Rede. In einem Vortrag vor den»Friends of Europe« im letzten November inBrüssel erwähnt er Normen oder Moral nicht miteinem Wort, sondern fordert, dass Europa pragmatischund mit langfristiger Perspektive mit denHerausforderungen der globalen Energiekonkur-»Das Argument, gute wirtschaftlicheZusammenarbeit würde Kompromisse bei der Fragevon Menschenrechten erzwingen, vermag mich heutenoch weniger zu überzeugen.« Joachim Gauckrenz umgeht. Das erscheint wie der Gegensatz zuGaucks Wertebetonung.Den engen Zusammenhang zwischen der Förderungtradierter Werte und einer nachhaltigenSicherheitspolitik stellen auch die Stiftung Wissenschaftund Politik (SWP) und der GermanMarshall Fund (GMF) in einem gemeinsamen Forschungspapierunter dem Titel »Neue Macht,neue Verantwortung« heraus. »In der langfristigenPerspektive […] ist Werteorientierung für einewestliche Demokratie ein existenzielles Interesse«,heißt es dort. Der Prozess der Globalisierungschaffe Freiheiten und Impulse für die wirtschaftlicheund gesellschaftliche Entwicklung, begünstigeaber auch neue Abhängigkeiten und Risikenfür bestehende Gesellschaftsmodelle. NationaleRegierungen, so die Autoren, könnten diesen Risikenweder im Alleingang, noch mit einer traditionellenSicherheitsstrategie entgegenwirken. und den Fortbestand des europäischen Gesell-voraussetzung für sozialen Wohlstand, InnovationDer daraus folgende Anspruch, Werte in sicherheitspolitischeStrategien zu integrieren, bemeinsamen,werteorientierten Energiestrategie.schaftsmodells erfordert neue Ansätze einer geschränktsich jedoch nicht nur auf traditionelle Sicherheitspolitische Aspekte der Energieversorgungstehen seit langem auf der Tagesord-Bereiche der Verteidigungspolitik oder einer europäischenEinwanderungspolitik. Auch die langfristigeSicherung der Energieversorgung als Grund- Auseinandersetzungen zwischen Russland undnung nationaler und europäischer Politik. Die>>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 54


350 MILLIARDEN EUROgaben die Staaten der EU allein für ihre Ölimporte im Jahr 2011 aus.ABHÄNGIGKEIT VON ENERGIEEINFUHREN NACH LÄNDERN 2011 *ENERGIEEUROPA AM TROPFPROGNOSE DER EU-ENERGIEIMPORTE 2005 BIS 2030100 %90 %80 %70 %60 %50 %40 %2005 2010 2020 2030der Ukraine um die Durchleitung von Erdgas nachEuropa sind mittlerweile zu einem Dauerthemageworden. Sie führen der EU auf drastische Weisevor Augen, wie Moskau Energieressourcen alspolitisches Druckmittel nutzt und wie abhängigsich Mitgliedstaaten der EU vom politischen Kalkülvon Drittstaaten machen können.ErdölErdgasgesamtKohle54 PROZENTihrer Energie musste die EU 2011 einführen. Sie istdamit der weltweit größte Energieimporteur.* Die Energieeinfuhrabhängigkeit errechnet sich aus dem Quotientenvon Nettoimport und Bruttoverbrauch.Quellen: Frank Umbach: »An Energy Strategy for Europe«, 2009 (oben);Eurostat, International Energy Agency (rechts)Malta 101%Luxemburg 97%Zypern 93%Irland 89%Litauen 82%Italien 81%Portugal 77%Spanien 76%Belgien 73%Österreich 69%Griechenland 65%Slowakei 64%Deutschland 61%Lettland 59%Finnland 54%Ungarn 52%Frankreich 49%Slowenien 48%Schweden 37%Bulgarien 37%Großbritannien 36%Polen 34%Niederlande 30%Tschechien 29%Rumänien 21%Estland 12%Dänemark -9%über 70 Prozent ihres Erdgasverbrauchs. DieEnergieversorgungssicherheit europäischer Staatenhängt dabei weiterhin auch von der Zusammenarbeitmit autoritären oder gar diktatorischenRegierungen ab.Globale Energieressourcen sind geografischnicht gleichmäßig verteilt und konzentrieren sichschwerpunktmäßig in Regionen und Ländern mitoft eher fragwürdigem demokratischen Verständnis.Energieimporte nach Europa sind von denpolitischen Entwicklungen in den Lieferantenländernabhängig. Zwar versuchen die europäischenMitgliedstaaten diese Abhängigkeit zu reduzieren,indem sie verstärkt auf eigene Energieeffizienzmaßnahmenund den Ausbau erneuerbarerEnergien setzen, fossile Energieträger aus Regionenaußerhalb der EU werden aber auf langeSicht noch notwendiger Bestandteil des EU-Energiemixes bleiben. Bestehende Partnerschaftenmit energieexportierenden Staaten zu konsolidierenund neue zu etablieren, sind daher zentraleKomponenten europäischer Energiepolitik.In ihrem »Energieaktionsplan« vom März 2007greift die EU erstmals offiziell die Idee einerEnergieaußenpolitik auf. Die ordnet entsprechendePartnerschaften in den jeweiligen politischenKontext ein und definiert die Förderungvon »Good Governance«, also von freiheitlichdemokratischenWerten und einer rechtsstaatlichenOrdnung, als nachhaltiges Ziel.Doch so einleuchtend dieses europäische Bekenntnisauch scheint, es verlangt einen grundsätzlichenParadigmenwechsel hin zu einem stra-Selbst beim steigenden Ausbau der erneuerbarenEnergien und mit der Verbesserung der Energieeffizienzwird die Union künftig noch in einemerheblichen Umfang auf Energieeinfuhren ausdem Ausland angewiesen sein. Laut dem aktuellenBericht der EU-Kommission gilt dies für über tegischen Politikansatz, in dem Verantwortungsbewusstseinund Wertegebundenheit über den 90 Prozent ihres gesamten Erdölverbrauchs und >>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 55


ENERGIESOLIDARISCHE PLÄNEMit dem »Energieaktionsplan 2007« des EuropäischenRates und der Unterstützung des Plansdurch das Europäische Parlament geht Brüsselexplizit auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen,auf außenpolitische Ziele abgestimmte E-nergiepolitik der EU ein. Der Plan soll zur Realisierungeiner besseren internen Koordination nationalerStrategien beitragen, indem er bi- undmultilaterale Partnerschaftsabkommen der Unionmit Erzeugerländern, unter anderem Russland,unterstützt. Weitere wesentliche Bestandteile desAktionsplans sind die Festigung der Beziehungenzu alternativen, energiereichen Regionen wie etwaZentralasien und die Kooperation mit anderenVerbraucherländern, allen voran den USA, aberauch China, Indien und Brasilien.»Energiesolidarität« ist seit dem Vertrag von Lissabonist ausdrückliches Ziel der EU. Dieses Prinzipsoll den Partnern als Instrument der Versorgungssicherheitmittels effektiverer Koordinationnationaler Infrastrukturen und energiepolitischerMaßnahmen dienen. Es soll jedoch nicht zur totalenVergemeinschaftung des Energiesektors gereichen,wie es etwa das Münchener Centrum fürangewandte Politikforschung versteht. Konkretsieht das Solidaritätsprinzip vor, Krisenmechanismenund die strategische Vorratshaltung fossilerEnergieträger zu fördern. Das Institut Jacques Delorsin Paris sieht hier eine Entwicklung »fromindependence to interdependence«, kritisiertjüngst allerdings, dass die EU-Mitglieder immernoch eine ganz eigene Auffassung von Solidaritäthätten. Das würde zum Beispiel auch bedeuten,dass die eine solidarische Elektrizitätsversorgungnoch sehr schwach ausgebaut sei.kurzfristigen Interessen von Mitgliedstaaten, Institutionenund Wirtschaftsunternehmen stehenund so den Weg für eine langfristige Energiesicherheitsstrategieebnen. Evelyne Gebhardt,deutsches Mitglied des Europäischen Parlaments,macht es deutlich: »An der Energiepolitik wirdsich zeigen, ob Europa politisch in der Lage ist,gemeinsamen Herausforderungen durch ehrgeizigelangfristige Strategien und ein gemeinsamesEngagement zu begegnen.«Eine Forderung nach dem »Ziehen an einemStrang« scheint jedoch vor allem in der europäischenEnergiepolitik schwer realisierbar. In deminstitutionellen Zusammenspiel zwischen EU-Kommission, nationalen Regierungen und Energieversorgungsunternehmenwerden die zentralenHindernisse sichtbar.Bereits innerhalb der EU-Kommission zeigensich deutliche Diskrepanzen zwischen den Generaldirektionen.Die Realisierung einer Energieaußenpolitikerfordert ein Zusammenspiel der Direktionen»Energie«, »Unternehmen und Industrie«,»Entwicklung und Zusammenarbeit« sowiedem Auswärtigen Dienst der EU. In der Realitätjedoch prallen vor allem die Direktionen»Energie« und »Entwicklung und Zusammenarbeit«häufig aufeinander. Während sich Entscheidungsträgeraus dem Bereich »Energie« oft dage-gen sträuben, das Fördern von Demokratisierungsprozessenin Lieferanten- oder Transitländernals Teil ihrer Arbeit anzuerkennen oder garden durch europäische Entwicklungshilfe forciertenAnstieg der Energienachfrage in den produzierendenStaaten als Gefahr für die langfristigeeuropäische Energieversorgungssicherheit betrachten,kritisieren Vertreter der DirektionBerlins Partner werfen ihm vor, bewusst andereeuropäische Nachbarländer zu umgehen.»Entwicklung und Zusammenarbeit« das Vorherrschenwirtschaftlicher Eigeninteressen in der EU-Entwicklungspolitik. In diesem Zusammenhangmahnte auch Martin Schulz, Präsident des EuropäischenParlaments, im April 2013 in einem Interviewfür die Landes-»Energieagentur« Nordrhein-Westfalen:»Wenn wir wirklich eine nachhaltigeeuropäische Energiepolitik wollen, müssenwir uns viel stärker koordinieren und mit einerStimme sprechen, denn nur so wird es möglichsein, unseren Einfluss sicherzustellen«.Noch deutlicher werden die Widersprüchezwischen auf europäischer Ebene vereinbartenPrinzipien und nationalstaatlichem Handeln.Trotz der Etablierung ihres Energiebinnenmarktessehen die EU-Mitglieder den Energiesektornoch immer vorrangig als nationalen Verantwortungsbereich.Dies begründet sich vor allem ausder Bedeutung einer sicheren und kostengünstigenEnergieversorgung für die Sicherheit und >>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 56


Foto: Vertretung des Freistaats Bayern bei der EU / Felix KindermannENERGIEWettbewerbsfähigkeit einer einzelnen Volkswirtschaft,aber auch daraus, dass europaweit geltendeMarktmechanismen und eine transeuropäischeEnergieinfrastruktur noch immer Mangelwaresind. Abkommen zwischen nationalen Energieunternehmenund Energiepartnern mit autoritärenoder gar diktatorischen Regierungssystemenwerden daher auf nationalstaatlicher Ebenekaum hinterfragt, geschweige denn vor dem Hintergrundeiner gemeinsamen, wertegebundenenEnergieaußenpolitik kritisiert.Mit dem russischen Erdgasunternehmen Gazpromunterhalten etwa diverse europäische Energiekonzernebilaterale Abkommen: Eon noch bis2035, Gaz de France Suez bis 2030 und die italienischeEni ebenfalls bis 2035. Die Eon allein beziehtlaut ihrem Geschäftsbericht 2012 ein Viertelihrer Gaslieferungen aus Russland, das Handelsblattspricht sogar von einem Drittel. Solcheumfangreichen Langzeitverträge werden auch inkommenden Jahrzehnten eine gemeinsame europäischeStrategie zur Verzahnung von »GoodGovernance«-Förderung und Energiebeziehungeneher erschweren.Dass das Festhalten an nationaler Souveränitätnicht nur eine europäische Linie torpedieren,sondern auch Konflikte zwischen EU-Mitgliedstaatenhervorrufen kann, zeigt das deutsche»Wir brauchen eine gemeinsame Stimmefür unsere Außenverhandlungen.« Günther OettingerProjekt »Nord Stream-Pipeline«, das auch alsklassisches Beispiel für Realpolitik verstehenlässt. Diese Transportroute, die seit Ende 2011russisches Erdgas durch die Ostsee nach Deutschlandliefert, hatten europäische Partner und EU-Administration im Vorfeld massiv kritisiert. Berlinwurde vorgeworfen, Umweltschutzaspekte zuvernachlässigen, bewusst andere europäischeNachbarländer zu umgehen und nicht zuletzt eineHaltung gegenüber Russland an den Tag zulegen, die rein auf der pragmatischen Durchset-zung wirtschaftlicher Eigeninteressen basiert. ImKampf um Energie scheint alles erlaubt – auchunter vermeintlichen EU-Bündnispartnern.Zweifellos ist die Sicherung von Energieressourcenein politisch sensibles Thema. Als Grundlagefür unsere sozialen Ordnungen und die wirtschaftlicheEntwicklung ist Energie unverzichtbar;gleichzeitig untergraben pragmatische, vermeintlichunpolitische Abkommen mit autoritären Staatenunsere westlich tradierten Werte, ja sie gefährdenlangfristig eine globale multilaterale und normativeAusrichtung. Wie kaum ein anderer Bereichbringt die Energiepolitik die deutlichen Konfliktezwischen wirtschaftlichen Eigeninteressenund einem aktiven Eintreten für Werte ans Licht.In der Tat sind diese Zielkonflikte aber nichtunüberbrückbar; sie erfordern vielmehr ein gewissenhaftesAusbalancieren langfristiger undkurzfristiger Interessen. Im Zuge einer neuenVerantwortung inmitten einer globalisierten undverwundbaren Welt, so formulieren es die SWPwie auch der GMF, könne auch die Förderung vonWerten ein ebenso essentielles Interesse demokratischerGesellschaften sein.Bei der Energieaußenpolitik zeigt sich, wieviel für die Europäische Union und ihre Mitgliederauf dem Spiel steht. Die EU ist hier bisherkaum in der Lage, ihre institutionellen Barrierenaufzubrechen und die internen Voraussetzungenfür eine gemeinsame Energieaußenpolitik zuschaffen. Worüber auch Kommissar Oettingerklagt: »Wir brauchen eine gemeinsame Stimmefür unsere Außenverhandlungen.«Zwar hat der Vertrag von Lissabon 2009 dieZuständigkeiten der europäischen Ebene in der >>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 57


ENERGIEANZEIGEEnergiepolitik klar gestärkt, die kurzfristigen Eigeninteressender beteiligten Akteure behindernjedoch die Weitsicht, die EU-Energiepolitik sicherer,nachhaltiger und vor allem strategischer auszurichten.Gelingt dies nicht, so wird der »fight forenergy« langfristig nicht nur zu einem energiepolitischenRisiko, sondern auch zu einem Risiko fürDemokratie und Rechtsstaatlichkeit. ganz neue Methoden ...Ricarda Scheele hat International Business andManagement in Groningen und Turin sowie EuropeanGovernance in Bristol studiert.Quellen und Links:Rede von EU-Kommissar GüntherOettinger vor den »Friends of Europe« in Brüsselam 7. November 2013Rede von Bundespräsident Joachim Gauck vor derParlamentarischen Versammlung des Europaratesin Straßburg am 22. April 2013Forschungspapier »Neue Macht NeueVerantwortung« der Stiftung Wissenschaft undPolitik und des German Marshall Fundof the United States vom Oktober 2013Bericht der EU-Kommission »Umsetzung derMitteilung zur Energieversorgungssicherheit« vom13. September 2013Meldung »Eon prüft Kündigung aller Gazprom-Verträge« des manager magazin vom 2. Juni 2013Interview der EnergieAgentur.NRWmit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz vom22. April 2013ADLAS – Magazin für Außen- und Sicherheitspolitikbetritt Neuland und macht akademische Erkenntnisse verständlich.Das eJournal informiert über Außen- und Sicherheitspolitik,regt zum Diskutieren an und bringt Themen indie Debatte ein.Außergewöhnlich ist sein Anspruch: aus dem akademischenUmfeld heraus einen Ton finden, der den Bogen zwischenFachsprache und Verständlichkeit schlägt. ADLAS – Wissenschaftauf Deutsch.ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 JETZT HERUNTERLADEN BEI WWW.ADLAS-MAGAZIN.DE58


Russische Spezialkräfte beim Training. Foto: Vitaly Kuzmin / lizensiert gemäß CC BY-SA 3.0DIE WELT UND DEUTSCHLAND: RUSSLANDNur wenige Wochen vordem Beginn der OlympischenWinterspiele haben zweiSelbstmordattentate dieMillionenstadt Wolgograderschüttert. Die Attacken werfeneinmal mehr die Frage nachder Sicherheit der Spiele auf, diein Sotschi im Nordkaukasusstattfinden.Aber auch der von zwei ausTschetschenien stammendenAttentätern verübteBombenanschlag in Boston imvergangen Sommer trägtdazu bei, dass die Region wiederals Europas konfliktreichsterLandstrich stärker in den Fokusder Aufmerksamkeit rückt.Speznaz, Spiele undKorruptionvon Max BrandtDas Erbe der Sowjetunion nirgendwo blutiger:Mit den Ende der UdSSR eskalierten die historischenAutonomiebestrebungen der Völker desKaukasus und interethnische Gewalt in der Regionin eine Reihe bewaffneter Konflikte. Vor allemdie beiden Kriege in Tschetschenien erlangtendabei ob ihrer gewaltigen Zerstörungen und dervielen Todesopfer weltweite Aufmerksamkeit.Der tschetschenische Widerstand war zunächst inerster Linie ethnisch-nationalistisch motiviert.Vereinfacht betrachtet ging es um die AbspaltungTschetscheniens von Russland und seine Etablierungals unabhängiger Staat, was von 1994 bis1996 zum ersten Krieg führte. Der Islam als imNordkaukasus verbreitetste Religion war dabei nureines von vielen identitätsstiftenden Merkmalenin Abgrenzung zu Russland. Ab Mitte der 1990erJahre wurde sie jedoch zunehmend als zentralesInstrument der Abgrenzung und Mobilisierung imtschetschenischen Widerstand etabliert und verankert.Vor allem ausländische Mudschaheddinund tschetschenische Kämpfer – die ihrerseitswiederum im Ausland durch islamistische Gruppierungenausgebildet worden waren – trugen da- >>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 59


RUSSLANDzu bei, den separatistischen Regionalkonflikt ineinen Kampf zu verwandeln, der über die GrenzenTschetscheniens hinaus wirken sollte. Dies beinhalteteauch den Einbezug neuer Taktiken. Sowurde fortan zunehmend auf die Verbreitung vonTerror im russischen Kernland gesetzt. In Folgeeiner Serie von Terroranschlagen und Angriffenauf Gemeinden in der Nordkaukasusrepublik Dagestankam es mit dem »Zweiten Tschetschenienkrieg«ab 1999 zur zweiten großen militärischenIntervention Russlands. Dieser dauerte offiziell bis2009, doch wirklicher Frieden ist in die umkämpfteRegion bis heute nicht eingekehrt.In diese Zeit des Zweiten Tschetschenienkriegsfielen auch einige der medienträchtigsten Anschlägekaukasischer Terroristen und ihrer Helfer ausdem Ausland. Vor allem die Zerstörung mehrererApartmenthäuser in Moskau und Wladikawkas imJahr 1999 sowie die Geiselnahmen im Moskauer»Nordost-Theater« und in einer Schule im nordkaukasischenBeslan 2002 und 2004 stachen dabeials besonders brutale Terrorakte hervor.Russland vollzog in diesem Zusammenhangeinen paradigmatischen Wechsel seiner Sicherheitspolitik.Der neu ins Amt gekommene PräsidentWladimir Putin führte die Operationen imNordkaukasus explizit als einen Anti-Terror-Kampf, wodurch das militärische Vorgehen inDer Kampf um Unabhängigkeit istzum Kampf gegen die »Ungläubigen« geworden.Tschetschenien angesichts des westlichen sicherheitspolitischenParadigmenwechsels nach dem11. September international in ein anderes Lichtgerückt wurde. Ganz anders als der Erste TschetschenienkriegMitte der 1990er Jahre hielt sich dieinternationale Kritik nunmehr in Grenzen. Vorallem durch die von den USA betriebene Internationalisierungder Terrorismusbekämpfung fandensich nunmehr Anknüpfungspunkte zwischen denStrategien Moskaus und denen westlicher Staaten.Die spektakulären Anschläge in Russland fielenzudem in die Zeit, als auch Europa in Madridund London durch ähnliche Angriffe heimgesuchtwurden. Auch angesichts der jüngsten Anschlägevon Wolgograd ließ die US-Regierung über eineSprecherin »vollständige und umfassende Unterstützung«anbieten. Andersherum hatten die PräsidentenBarack Obama und Wladimir Putin bereitsnach dem Anschlag in Boston eine bessereZusammenarbeit gegen Terrorismus vereinbart:»Wenn wir unsere Kräfte vereinen, werden wirsolche Anschläge nicht zulassen und keine derartigenVerluste mehr erleiden müssen«, hoffte derrussische Präsident noch im April 2013.Auch auf Seiten der kaukasischen Separatistenwurde der Anschluss an die globalen Frontverläufedes »Krieges gegen den Terror« noch deutlichersichtbar. So wandelte sich der Widerstand gegenden russischen Zentralstaat in seiner Rhetorik voneinem Kampf um Unabhängigkeit endgültig zueinem gegen »die Ungläubigen«. Exemplarisch fürden ideologischen Formwandel war die Ausrufungdes »Kaukasischen Emirats«, mit dem der Führerdes islamistischen Widerstands, der selbsternannte»Emir« Doku Umarow, 2007 die neue Strategieeines pan-kaukasischen Islamismus und damitauch die Ausweitung des Kampfes auf die NachbarrepublikenTschetscheniens propagierte.Der 2004 getötete Präsident Achmat Kadyrowund sein heute regierender Sohn Ramsan habenmit einer Mischung aus Repression und monetärerBegünstigung in Tschetschenien relative Ruhegeschaffen. Bei beiden handelt es sich um ehemaligeRebellen, welche sich im Verlauf der Konflikteauf die Seite des russischen Staates geschlagenhaben. Ramsan Kadyrow steht heutewegen zahlreicher Menschenrechtsverletzungenseiner Sicherheitskräfte und der undurchsichtigenWirtschaftsaktivitäten seiner Gefolgsleuteinternational in der Kritik, genießt aber weiterhindie Gunst des Kreml. Eine echte Lösung der Problemebietet seine harte Hand aber nicht. Der islamistischeUntergrund hat seine Operationenvielmehr auf die gesamte Region des Nordkaukasusausgeweitet. So finden die Mehrzahl der immernoch zahlreichen Anschläge und Feuergefechtebis heute in der Teilrepublik Dagestan amKaspischen Meer sowie in Inguschetien und Kabardino-Balkarienstatt.Insgesamt kamen im Nordkaukasus allein imJahr 2012 nach Einschätzung der InternationalCrisis Group 1225 Menschen durch die Gewalt zuTode. Die unzugänglichen Berg- und Waldregio->>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 60


RUSSLANDnen dienen dabei als idealer Rückzugsraum fürdie islamistischen Kämpfer, welche mit ihren gewalttätigenAktionen vor allem auf russische Sicherheitskräfteund Staatsbedienstete, aber auchauf gemäßigte Muslime, Journalisten und zivilgesellschaftlicheAktivisten zielen. Anschläge, wieetwa auf Fernzüge zwischen Moskau und St. Petersburgim Jahr 2009, auf die Moskauer U-Bahn2010 und ein Jahr später auf den Moskauer FlughafenDomodedovo bezeugen zudem, dass dieterroristischen Gruppierungen nach wie vor inder Lage sind, im russischen Kernland zu operierenDas zeigt sich nun auch in Wolgograd, dasselbst nicht im Kaukasus liegt. Bereits vor demjüngsten Doppelanschlag hatte sich in Wladiwostokim Oktober eine Selbstmordattentäterin ineinem Kleinbus in die Luft gesprengt und sechsMenschen mit in den Tod gerissen.Der Kampf der kaukasischen Islamisten warund ist primär gegen Russland gerichtet. Internationaltreten islamistische Kämpfer aus dem Kaukasuszwar – wie etwa in Syrien – in selbsterklärtenheiligen Kriegen auf. Anschläge in Europaund den USA wären aber für ihre Gesamtstrategiekontraproduktiv. Insofern ist es, auch wenn diejuristische Aufarbeitung der Bostoner Anschlägeabzuwarten bleibt, unwahrscheinlich, dass dieTäter Tamerlan und Dzokhar Tsarnaev im Auftrageiner Terrororganisation aus dem Nordkaukasusgehandelt haben.Das bedeutet aber keineswegs, dass eine Radikalisierungim Umfeld der sich ausbreitenden islamistischenKreise in Dagestan, wo sich der ältereder beiden Attentäter vor den Anschlägen für mehrereMonate aufhielt, stattgefunden haben kann.Von russischer Seite werden die meisten Operationengegen Terroristen heute nicht mehr vomMilitär, sondern von Einheiten des Innenministeriumsund des Geheimdienstes durchgeführt.Diese sind zwar nicht weniger schwer bewaffnet,nur soll so der Eindruck eines Krieges vermiedenwerden. Dazu kommen sicherheitspolitischeMaßnahmen wie etwa die Aufrüstung lokaler Kosakenmilizen.Diese werden schon seit den Zeitender Zaren zum Schutz der russischen Interessenim Kaukasus eingesetzt. Insgesamt ist der sicherheitspolitischeAufwand für Russland im Nordkaukasusgewaltig, und die Verluste sind hoch.Trotz dieser Lage wäre es vorschnell, die russischePolitik im Nordkaukasus allein als repressivund kontraproduktiv einzustufen. So verfolgt derKreml seit einigen Jahren einen Ansatz, der aufregionale wirtschaftliche Entwicklung setzt undviele der Republiken im Nordkaukasus – allenvoran Tschetschenien – haben durch zahlreicheVerwaltungs- und Finanzreformen heute mehrUnabhängigkeit als Anfang der 90er Jahre jemalsanzunehmen gewesen wäre. Auch der Tourismussoll in der landschaftlich attraktiven Region helfen,die Spirale aus Armut und Gewalt zu durchbrechen,wie insbesondere in der Entscheidung,die olympischen Winterspiele 2014 im unweit derKrisenregion gelegenen Sotschi auszutragen,deutlich wird. Zudem profitieren einige Teilrepublikenvon Rohstoffvorkommen und so lassensich auch einige sichtbare Zeichen von wirtschaftlichemAufschwung und Wiederaufbau imNordkaukasus ausmachen. Als beispielhaft dafürMoskau versucht, dem Nordkaukasus einePerspektive zu verschaffen.steht unter anderem die tschetschenische HauptstadtGrosny, die nach ihrer fast völligen Zerstörungheute durchaus auflebt.Die schlechte Sicherheitslage und ein weit gestricktesNetzwerk aus Korruption, die zu einemwesentlichen Teil von den Geldern des russischenZentralstaats lebt, blockieren aber eine umfassendeund nachhaltige Entwicklung des Nordkaukasus.Das grundlegende Problem liegt in der russischenStrategie, den Konflikt durch die Übertragungder Verantwortung an lokale Machtpersonenmit zweifelhaftem Ruf zu entmilitarisieren.Deren Loyalität zu Moskau aber basiert fast ausschließlichauf erheblichen finanziellen Zuwendungenund dem Versprechen der russischen Behörden,angesichts massiver Verstrickungen inStrukturen organisierter Kriminalität beide Augenzuzudrücken. Ein wirksames Aufbrechen diesesBereicherungssystems jedoch würde wiederumdie relative Stabilität gefährden. NachhaltigeEntwicklungsfortschritte bleiben deshalb bislangweitgehend aus und insbesondere die hohe regionaleArbeitslosigkeit bildet einen Nährboden für>>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 61


RUSSLANDneue Radikalisierung. Um dem zu begegnen undden islamistischen Militanten den ideologischenNährboden zu entziehen, hat die russische RegierungInitiativen in Medien gestartet und in Zusammenarbeitmit lokalen Behörden Programmezur De-Radikalisierung und zum interkulturellenDialog entwickelt. Der langfristige Erfolg solcherMaßnahmen bleibt dabei abzuwarten, in jedemFall aber wird seitens Moskau versucht demNordkaukasus eine Perspektive zu schaffen.In der Region haben die Terroranschläge aufZivilisten die ursprünglich fast wohlwollende Haltungder internationalen Öffentlichkeit gegenüberdem tschetschenischen Freiheitskampf der 1990erJahre endgültig zerstört. Lange hatte auch derrussische Präsident von einer »Doppelmoral« derwestlichen Staaten in Bezug auf den Terror auswürde nicht nur Moskaus Ruf in der Welt diskreditieren,sondern auch die Versuche, die Regionwirtschaftlich zu entwickeln, zurückwerfen. Derislamistische Widerstand weiß natürlich um dieBedeutung der Spiele. Ein einjähriges Moratorium,in dem Islamistenführer Umarow dazu aufrief,keine Gewalt gegen Zivilisten mehr zu verüben,revidierte er auf YouTube. Es ist wahrscheinlich,dass die Anschläge von Wolgograddamit zusammenhängen.Die russischen Sicherheitskräfte bieten imVorfeld der Spiele alles auf, um einen reibungslosenAblauf zu gewährleisten. Die Kosten der Sicherheitsvorkehrungengehen über die aller vorherigenSpiele hinaus: Mehr als 2 Milliarden Euround 60.000 Sicherheitskräfte will man aufbieten.So versicherte auch Alexander Schukow, Chef desMöglichkeit nutzen, von der Expertise der USAund der EU für die Sicherheitsgewährleistung großerSportveranstaltungen zu profitieren.Auch erwarten alle Staaten, deren Angehörige,ob als Sportler oder Besucher, nach Sotschi reisen,umfassend über die Sicherheitslage informiertzu sein. All das sollte im besten Fall derGrundstein für einen Politikwechsel sein, in demRussland mehr internationales Engagement imNordkaukasus zulässt. Bisher suchte man zwardurchaus eine Zusammenarbeit in der Terrorismusabwehr,verbat sich aber jegliche Einmischungin die politische Lage im Nordkaukasus.Angesichts der vielschichtigen Verflechtungensozialer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischerAspekten des Terrorismusproblems solltediese Haltung überdacht werden. »Es wurden alle notwendigenSicherheitsmaßnahmen schon getroffen.«dem Nordkaukasus gesprochen. Anders als etwabei Anschlägen in Europa, wird dabei von Kommentatorenjedoch bis heute zumindest eine Teilschuldin einer repressiven Politik Russlands gegenüberdem Nordkaukasus gesehen. Im Großenund Ganzen ist aber das Feld der Terrorbekämpfungeines der eher unproblematischen zwischenRussland und dem Westen, und es bietet daherauch Möglichkeiten einer tieferen Kooperation.Der Fokus richtet sich nun vor allem auf dieWinterspiele in Sotschi 2014. Ein Anschlag dortNationalen Olympischen Komitees von Russland,dass »alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmenschon getroffen« seien.Um den Terrorismus langfristig einzudämmenbieten die Anschläge von Boston und Wolgograd,sowie die anstehenden Spiele auch eine Chancefür Moskau, Kooperationen im Anti-Terror-Kampfwiederzubeleben. So haben amerikanische undrussische Sicherheitsbehörden die Kooperation inBezug auf islamistische Organisationen im Nordkaukasusverstärkt. Moskau sollte nun auch dieMax Brandt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter ander Deutschen Hochschule der Polizei in Münster.Quellen und Links:Forschungspapier von Natalia Tereshchenko inder Counter Terrorist Trends and Analysis, AusgabeMai 2013Anhörung von Ariel Cohen von der HeritageFoundation vor dem Auswärtigen Ausschuss desUS-Repräsentantenhauses am 27. Februar 2013Arbeitspapier von Pavel K. Baev überTerrorismus und Korruption im Nordkaukasus vomOktober 2010Forschungspapier der Friedrich-Ebert-Stiftung zuRussland im Nordkaukasus vom Mai 2010ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 62


Der Desktophintergrund »Bliss« für das Betriebssystem Windows XP wurde 2001 eingeführt. Foto: Microsoft CorporationLITERATURCrashkurs »Neuland«In Sachen IT-Sicherheitstecken viele den Kopf in den Sand.Dabei gilt auchfür diesen Fall: Lesen bildet!Eine Empfehlungaus aktuellem AnlassInmitten in der Affäre um die Enthüllungen Edward Snowdens prägte AngelaMerkel den Begriff »Neuland« und erntete dafür viel Hohn und Spott derNetzgemeinde. Dabei hatte sie – möglicherweise ungewollt – voll ins Schwarzegetroffen. Denn der Umgang mit der Affäre machte schnell deutlich, dassdie Masse der deutschen Bevölkerung und ihre politischen Entscheidungsträgersich zwar tagtäglich im Netz bewegen, gleichzeitig aber vereint sind infundamentaler Unwissenheit darüber, wie die globalen Netze eigentlich funktionierenund welche Sicherheitsprobleme sie mit sich bringen. Die nächstliegendeLösung in dieser Lage – sich Sachkompetenz anzueignen – scheint bislangjedoch weder auf dem Schirm von Politikern noch der Bevölkerung angekommenzu sein. Dazu trägt sicher die verbreitete Vorstellung bei, IT-Sicherheit wäre ein allzu technisches Feld, welches man nur verstehen könne,wenn man mindestens ein paar Semester Informatik absolviert hat.Das dem nicht so ist, zeigt schon längst das hervorragende Buch des Kryptologie-und IT-Sicherheitsexperten Bruce Schneier: »Secrets & Lies. DigitalSecurity in a Networked World« aus dem Jahr 2000. Getreu dem im Vorwortausgegebenen Motto, »Wenn du glaubst, dass Technologie deine IT-Sicherheitsproblemelösen kann, dann hast du weder die Probleme noch die Technologieverstanden«, führt der Autor den Leser auf gut 400 Seiten durch einenextrem anschaulichen Crashkurs in Sachen IT-Sicherheit, dem jeder – auchohne einschlägige technische Vorkenntnisse – problemlos folgen kann. DennSchneier geht es weniger darum, IT-Sicherheitsspezialisten auszubilden, alsvielmehr breiten Bevölkerungsschichten einen Zugang zu einem umfassendenund grundlegenden Verständnis von IT-Sicherheit zu ermöglichen.Absolute Sicherheit – das wird schnell offensichtlich, gibt es im Cyberspaceebenso wenig wie im »echten« Leben. Folgerichtig beginnt Schneierseine tour d‘horizon mit einer Analyse der Motivationen, Ressourcen und Fähigkeitenverschiedener, potenziell sicherheitsrelevanter Akteure im Netz –denn auch im Cyberspace ist nicht jedermann gleichermaßen interessant fürKriminelle oder Geheimdienste. Wirksame Schutzmaßnahmen müssen daherimmer mit der realistischen Einschätzung der eigenen Gefährdung beginnen– in der realen Welt, das zeigt der Kryptografie-Fachmann deutlich, wird diesererste Schritt leider zu oft durch naives Wunschdenken oder irreale Angstvorstellungenersetzt.Die angenehm unaufgeregte Art des heute 51-jährigen Amerikaners, dasThema in klare Worte zu fassen, führt zudem schnell zu der Einsicht, dassauch die angeblich so schnelllebige Welt des Cyberspace ganz ähnlichenGesetzmäßigkeiten folgt wie die uns vertraute »reale«. Und eines wird beider Lektüre der verschiedenen Kapitel deutlich: Die Technologie mag sichseit der englischen Erstausgabe rasant weiterentwickelt haben, die Problemeund ihre Lösungsansätze sind jedoch überwiegend immer noch dieselben– und werden das vermutlich auch noch eine Weile bleiben. Das macht>>ADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 63


LITERATURdas Buch auch vierzehn Jahre nach seinem Erscheinen noch so aktuell undlesenswert.In späteren Kapiteln beschreibt Schneier grundlegende und für das täglicheLeben im Netz zentrale Technologien, mögliche Angriffsvektoren undbenennt Schwachstellen und deren reale Folgen. Wenn Sie sich immer schongefragt haben, welchen Logiken die Verschlüsselung ihres Online-Bankingsfolgt, warum Passwörter unter acht Zeichen Länge nicht sicher sind, und wases eigentlich mit diesem »PGP« auf sich hat, dann liefert Schneiers Buch dieAntworten darauf in leicht verständlichen Beispielen.Vor allem aber, und hier liegt eine weitere Stärke des Buchs, konfrontiertSchneier vermeintlich »sichere« Verfahren und Technologien immer wiedermit der Realität der praktischen Anwendbarkeit. Dabei zeigt sich schnell,dass das größte IT-Sicherheitsrisiko immer vor dem Computer sitzt. Dennwenn das technisch sichere, 16-stellige Passwort am Ende so schwer zu merkenist, dass es als Post-it am Bildschirm des Rechners landet, dann führtdies nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit. Und wenn beispielsweiseBundestagsabgeordnete oder Behördenmitarbeiter ihre dienstlichen E-Mailsaus Bequemlichkeit auf ihre Privat-Accounts – am besten bei ausländischenAnbietern – weiterleiten, dann nützt die beste IT-Security nichts.Bereits im Jahr 2004 über 150.000 Mal als Hardcover über den Ladentischgegangen und seither auch in deutscher Übersetzung vorliegend, ist »Secrets& Lies« schon lange Pflichtlektüre für alle, die sich beruflich mit IT-Sicherheitbefassen. Und nach Snowden eigentlich für alle Bürger und politischen Entscheidungsträger,die im Informationszeitalter nicht zum Freiwild von Kriminellenaus dem Netz auf der einen und der Angstpropaganda von Sicherheitsbehördenund Unternehmen auf der anderen Seite werden wollen. doeKampfreicher HöhepunktWer den Titel das erste Mal hört, mag sich fragen, ob dies nicht nur nochein weiteres Buch über die Gefechte in Afghanistan aus Sicht der deutschenSoldaten ist. Man könnte versucht sein, auf die Lektüre zu verzichten. Doch»Feindkontakt« nimmt einen ganz anderen Blickwinkel ein. So kommenunter anderem ein Stabsoffizier, mehrere Kompaniechefs und zwei Feldwebelder »Task Force Kunduz« zu Wort und schildern dem Leser das ereignisreicheEinsatzjahr 2010 aus Sicht der militärischen Führer in ihrem taktischenUmfeld. Der Titel hält dabei, was er verspricht: Militärisch-sachlich,aber durchaus mit persönlichen Akzenten wird Bericht über das Kampfgeschehennahe Kunduz erstattet. Dass sich hierbei »verschoben« oder ausStellungen »gewirkt« wird, verlangt Lesern ohne Militärerfahrung manchesNachschlagen ab, unterstreicht aber die Authentizität des Gesagten.Besonders dem Abschnitt »Planung und Analyse« gelingt es darüberhinaus, eine Ebene zu betrachten, die deutsche Afghanistanliteratur –von individuellen Erlebnissen oder der politischen Vogelperspektive dominiert– ansonsten kaum thematisiert. Ereignisse wie das Karfreitagsgefechtvom 2. April 2010, die Operation »Halmazag« und die noch wenigerbekannte Luftlandeoperation »Towse-e-Garbe II« beleuchten die Autorenim taktischen Kontext und gehen weit über den Blick eines Einzelschützenhinaus. Sie schildern die Lage vor Ort mit allen Erfolgen und Problemen.So wird auch dem nicht militärisch versierten Leser verständlich,was die Fallschirmjäger taten und vor allem weshalb – auch wenn das politische»Warum« nicht Anspruch des Buches ist. Robert Clifford MannBruce Schneier»Secrets & Lies.Digital Security in a Networked World«New York (Wiley) 2000,Paperback, 448 Seiten, 16,70 EuroSascha Brinkmann, Joachim Hoppeund Wolfgang Schröder»Feindkontakt. Gefechtsberichte aus Afghanistan«Hamburg (E.S. Mittler & Sohn) 2013,Paperback, 224 Seiten, 19,95 EuroADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 64


Foto: Christophe Meneboeuf / lizensiert gemäß CC BY-SA 3.0IMPRESSUMAUSBLICKADLAS Magazin für Außen- und Sicherheitspolitikist aus dem »Aktualisierten Dresdner InfoLetter für Außen- und Sicherheitspolitik«des Dresdner Arbeitskreises für Sicherheits- und Außenpolitik hervorgegangen undbesteht seit 2007. Er erscheint seit 2010 als bundesweites, überparteiliches, akademischesJournal für den Bundesverband Sicherheitspolitik an Hochschulen (BSH).Der ADLAS erscheint quartalsweise und ist zu beziehen über www.<strong>adlas</strong>-magazin.de.Herausgeber: Stefan Döllingc/o Bundesverband Sicherheitspolitik an HochschulenZeppelinstraße 7A, 53177 BonnRedaktion: Stefan Dölling (doe), Sophie Eisentraut (eis), Björn Hawlitschka (haw),Dieter Imme (dim), Christian Kollrich (koll), Johanna Lange (jl), Marcus Mohr (mmo),Sebastian Nieke (sn), Isabel-Marie Skierka (isk), Stefan Stahlberg (sts) (V.i.S.d.P.),Kerstin Voy (kv)Layout: mmoAutoren: Andreas Auer, Max Brandt, Yvonne Försterling, Robert CliffordMann, Heiko Rohowski, Ricarda Scheele, Guido Steinberg, Vanessa Tiede,Roman WienbreierDanke: herzwort, DoroCopyright: © ADLAS Magazin für Außen- und SicherheitspolitikZitate nur mit Quellenangabe. Nachdruck nur mit Genehmigung. Für die Namensbeiträgesind inhaltlich die Autoren verantwortlich; ihre Texte geben nicht unbedingt dieMeinung der Redaktion oder des BSH wieder.DER BUNDESVERBAND SICHERHEITSPOLITIK AN HOCHSCHULENverfolgt das Ziel, einen angeregten Dialog über Außen- und Sicherheitspolitik zwischenden Universitäten, der Öffentlichkeit und der Politik in Deutschland herzustellen.Durch seine überparteilichen Bildungs- und Informationsangebote will derBSH vor allem an den Hochschulen eine sachliche, akademische Auseinandersetzungmit dem Thema Sicherheitspolitik fördern und somit zu einer informiertenDebatte in der Öffentlichkeit beitragen.Weitere Informationen zum BSH gibt es unter www.sicherheitspolitik.de.Ausgabe 1/2014SchwerpunktKALTER KRIEG RELOADEDZur Lage in OsteuropaADLAS 4/2013 ISSN 1869-1684 65

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!