28 Typisch Eiderstedt Kirchen <strong>auf</strong> Schritt und Tritt Tönning – ST. LAURENTIUS mit über 63 Metern höchster Kirchturm <strong>auf</strong> Eiderstedt
Die Widersprüchlichkeiten der Natur haben Eiderstedt zu wahrhaft ungewöhnlichem Segen verholfen: egal in welchem Winkel der malerischen Halbinsel man sich <strong>auf</strong>hält – eine Kirchturmspitze ist meist „mit von der Partie“. Der weit ins Meer ragende Landstrich ist nämlich so üppig mit Kirchen versehen wie keine andere Region im deutschen Norden. Insgesamt 18 historische Gotteshäuser schaffen hier paradiesische Verhältnisse für Kulturfreunde und Kirchgänger. Seit einigen Jahrzehnten gibt es <strong>auf</strong> Eiderstedt zudem zwei katholische Kirchen moderner Bauart. Gewiss haben die Tatkraft und die christliche Gesinnung der Menschen wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Gotteshäuser <strong>auf</strong> Eiderstedt so erbaulich drängeln. Dennoch wäre die hohe Kirchen- Präsenz kaum ohne die sehr speziellen Eigenarten der Natur zustande gekommen. Diese hat die Eiderstedter Bauern nämlich einerseits mit äußerst fruchtbaren Böden versorgt, woraus ein erfreulicher Wohlstand erwuchs. Die Barschaft reichte also allemal, eine Kirchturmspitze nach der anderen in den Himmel wachsen zu lassen. Andererseits verhinderte die Natur ohnehin die Bildung größerer Kirchengemeinden. Die Höfe lagen weit auseinander. Das flache Land war zerfurcht von Wasserläufen. Speziell im Winter waren viele Wege unpassierbar. Ein längerer Marsch zum Gottesdienst oder stillen Gebet wäre also oft ein vergebliches Unterfangen gewesen. Trotzdem wollte niemand <strong>auf</strong> den regelmäßigen Kirchgang, die gut erreichbare Grabstätte oder den schnellen Abstecher in den Kirchspielkrug verzichten. Und so verlegten sich selbst kleinste Ansiedlungen dar<strong>auf</strong>, die eigene Kirche ins Dorf zu holen. Man schüttete Warften <strong>auf</strong>, damit die Gebäude einen würdigen und sicheren <strong>St</strong>and hatten. Man verzichtete meist <strong>auf</strong> imposante Türme, um die künstlichen Hügel nicht durch unnötiges Gewicht ins Rutschen zu bringen. Und man hatte der Natur mit dem Bau der Kirchen sogar ein lebensentscheidendes Schnippchen geschlagen: wenn <strong>St</strong>urmfluten über das Land tobten, dienten die erhöht platzierten Gotteshäuser als rettende Zufluchtsorte. Die meisten Kirchen <strong>auf</strong> Eiderstedt haben ihren Ursprung bereits im 12. Jahrhundert. Folglich kann jede einzelne mit einer oft wechselvollen, immer aber äußerst faszinierenden Geschichte <strong>auf</strong>warten. Für den heutigen Kirchenkreis Eiderstedt ist das ein Tatbestand von zweischneidiger Qualität. <strong>Eine</strong>rseits repräsentiert die kirchenhistorische Vielfalt eine kulturelle und ideelle Großzügigkeit, die Einheimische und Gäste gleichermaßen wertschätzen. Andererseits nagen Erhalt und Betrieb der Gebäude am ohnehin strapazierten Kirchenetat. Mit ihrer vielfach bewährten Fähigkeit, konstruktiven Eigensinn zu entfalten, finden die Eiderstedter auch aus diesem Dilemma einen einladenden Weg. Frische, unkonventionelle Ideen, gepaart mit neuen, zeitgemäßen Verwaltungsstrukturen sichern der Kirchenlandschaft das gewohnt fruchtbare Leben. So wurde die Zahl der Pfarrstellen <strong>auf</strong> acht verringert, ohne dass ein einziges Gotteshaus die Pforten hätte dicht machen müssen. In allen Kirchen werden weiterhin Gottesdienste abgehalten – allerdings nicht überall an jedem Sonntag, sondern von Kanzel zu Kanzel in stetem Wechsel. Ein seit rund zehn Jahren aktiver Förderverein kümmert sich um den Erhalt der kirchlichen Kunstschätze. Ein äußerst gehaltvolles Kultur- und Musikprogramm sichert dauerhaft die öffentliche Sympathie und Spendenbereitschaft. Und in einem einzigartigen Geniestreich hat sich ein Gotteshaus sogar gänzlich in den Dienst allumfassender Kulturarbeit gestellt: vor 30 Jahren wurde in einem kleinen Ort mit dem großen Namen Welt die dortige Kirche zum Veranstaltungszentrum umgestaltet. Übrigens hat die große Kirchendichte <strong>auf</strong> Eiderstedt auch einen denkbar entspannenden Nebeneffekt. Angeblich hilft gegen schlaflose Nächte nichts so gut wie der Versuch, vor dem inneren Auge alle Eiderstedter Kirchen samt ihren Namen <strong>auf</strong>zureihen. Das Unterfangen ist so anspruchsvoll, dass man relativ zuverlässig darüber einschläft. <strong>St</strong>. <strong>Peter</strong> – ST. PETRI Poppenbüll – ST. JOHANNES Westerhever – ST. STEPHANUS Garding – ST. CHRISTIAN Lebendige Geschichte Mögen die Gebäude auch viele Jahrhunderte alt sein und längst unter Denkmalschutz stehen: „Unsere Kirchen sind trotzdem keine Museen“, betont Propst Dr. Friedemann Green und unterstreicht damit die Lebendigkeit, die dem kirchlichen Sein <strong>auf</strong> Eiderstedt unverändert innewohnt. Neben den Gottesdiensten finden auch Kirchenführungen statt, beispielsweise in der Tönninger <strong>St</strong>. Laurentius-Kirche von Mai bis Ende September an jedem Donnerstag um 10 Uhr. Die <strong>St</strong>. Christian-Kirche in Garding bietet im Juli und August an jedem Dienstag um 10 Uhr Führungen an – immer dann, wenn in direkter Nachbarschaft auch der Wochenmarkt sein buntes Leben entfaltet. In den kleineren Orten sind Führungen nach Vereinbarung üblich. Und auch Spontanbesucher sind willkommen: „Die Kirchen sind immer zugänglich“, versichert Propst Green. „Sollte die Tür verschlossen sein, kann man im Aushang ersehen, wo der Schlüssel zu bekommen ist.“ Grundsätzlich empfiehlt er, die „Kirchen als Geschichtsbücher des Glaubens zu lesen; Architektur ist ja auch Sprache und in den Kunstgegenständen sind immer religiöse Anliegen enthalten“. Etliche Malereien seien folglich nicht nur als Wandschmuck, sondern auch als „Lehrmaterial“ zu sehen. Der Propst: „Viele Menschen konnten früher nicht lesen und schreiben; also hat man ihnen die Bibel in Bildern gezeigt.“ Dabei folgten die betreffenden Kunstwerke mitunter sehr unbefangen der Vorstellungswelt der so genannten einfachen Leute. Dass Jesus sich <strong>auf</strong> dem Weg nach Golgatha zum Verschn<strong>auf</strong>en <strong>auf</strong> sein Kreuz setzt oder später von einem Heuh<strong>auf</strong>en aus zum Himmel <strong>auf</strong>fährt, gehörte eben zur Bildsprache der alten Eiderstedter Kirchen. Die reiche Ausstattung, die die wohlhabenden Bauern ihren Gotteshäusern dereinst verpasst hatten, hat im L<strong>auf</strong> der Jahrhunderte zwar stetig abgenommen; u.a. soll sich der dänische König gründlich bedient haben. Trotzdem zeigen die 18 Kirchen auch heute noch kulturhistorische Schätze, die ihresgleichen suchen. NordseeMagazin 29