01.12.2012 Aufrufe

25 Jahre Psychiatrie-Enqute - Aktion Psychisch Kranke e.V.

25 Jahre Psychiatrie-Enqute - Aktion Psychisch Kranke e.V.

25 Jahre Psychiatrie-Enqute - Aktion Psychisch Kranke e.V.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Franz-Werner Kersting<br />

spektive der studentischen Akteure und Unruhen gesellschaftsgeschichtlich<br />

auszuweiten und so der zwischen den beiden Polen<br />

»Studentenrevolte« und »Kulturrevolution« oszillierenden Interpretation<br />

(vgl. KLEßMANN 1991) neue Impulse zu geben.<br />

II. »Dringliche Reformen der psychiatrischen<br />

<strong>Kranke</strong>nversorgung«<br />

Wie die Vorläufer- und Parallelinitiativen in anderen Ländern – besonders<br />

bekannt und einflussreich wurde die »Kennedy-Botschaft«<br />

von 1963 –, so verfolgte auch die westdeutsche <strong>Psychiatrie</strong>-Reform<br />

im Grunde ein dreifaches Ziel (vgl. auch H. HÄFNER u. H. KUNZE<br />

in diesem Band): Im Zentrum stand erstens die Behebung der katastrophalen<br />

Missstände insbesondere in der stationären psychiatrischen<br />

Versorgung der großen Anstalten bzw. Landeskrankenhäuser.<br />

Zweitens sollte die rechtlich-soziale Benachteiligung der psychisch<br />

<strong>Kranke</strong>n beseitigt werden. – Der dänische Psychiater Strömgren<br />

formulierte 1970 einprägsam: »Der psychisch <strong>Kranke</strong> hat das Recht,<br />

das <strong>Kranke</strong>nhaus durch das gleiche Tor zu betreten wie der körperlich<br />

<strong>Kranke</strong>.« (zit. nach FINZEN 1985, S. 39) – Drittens ging es<br />

schließlich vor allem um den Wechsel von der verwahrenden, kustodialen<br />

hin zu einer therapeutischen und rehabilitativen <strong>Psychiatrie</strong>,<br />

denn die alten Versorgungsstrukturen hatten sich als Barrieren<br />

einer wirklichen Entfaltung der seit den 1950er-<strong>Jahre</strong>n vorhandenen<br />

neuen Möglichkeiten psychiatrischer Therapie (Psychotherapie/<br />

Pharmakotherapie) erwiesen (vgl. TÖLLE 1987, S. 136f.).<br />

Diese Problemlagen und Zielsetzungen wurden schon lange vor<br />

der 68er-Protestphase fachintern virulent und in zahlreichen sektoralen<br />

Einzelinitiativen auch praktisch angegangen (s. HANRATH<br />

2001). Exponiertere Beispiele bilden die in dem Eingangszitat<br />

Häfners aufgelisteten Initiativen der Heidelberger Universitätspsychiatrie<br />

zusammen mit der erwähnten Denkschrift von Häfner,<br />

Baeyer und Kisker, die hierin 1965 unter dem Titel »Dringliche Reformen<br />

der psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nversorgung in der Bundesrepublik«<br />

den effektiven Stand dieser Versorgung als »nationale[n] Notstand«<br />

(HÄFNER et al. 1965, S. 118) proklamierten und bereits alle<br />

wesentlichen Forderungen formulierten, die zehn <strong>Jahre</strong> später in der<br />

<strong>Psychiatrie</strong>-Enquete des Deutschen Bundestages ihren Niederschlag<br />

fanden (vgl. DEUTSCHER BUNDESTAG 1975). Schon deshalb hätte<br />

<strong>Psychiatrie</strong>-Reform und ’68<br />

168 169<br />

die Denkschrift eine größere psychiatrie- und zeithistorische Beachtung<br />

verdient. Exemplarische Hervorhebung verdienen aber etwa<br />

auch die Aktivitäten von Walter Schulte, Walter Theodor Winkler,<br />

Alexander Veltin und ihren Ärztekollegen am damaligen Westfälischen<br />

Landeskrankenhaus Gütersloh (s. HANRATH 2001; autobiographisch:<br />

KRÜGER 1995).<br />

Gleiches gilt im Übrigen für die fast zeitgleichen und ganz ähnlich<br />

akzentuierten Einzelstimmen und -aktionen in der ehemaligen<br />

DDR. Unlängst hat Klaus-Dieter Waldmann daran erinnert, dass<br />

man im Herbst 1967 am heutigen Vogtland-Klinikum Plauen damit<br />

begann, die psychiatrische Abteilung offen – ohne geschlossene<br />

Station – zu führen (vgl. WALDMANN 1998). Vorangegangen waren<br />

hier 1963 als Ergebnis eines Internationalen Symposiums im vogtländischen<br />

Rodewisch die »Rodewischer Thesen«. Ihnen folgten dann<br />

1974 die »Brandenburger Thesen zur therapeutischen Gemeinschaft«<br />

von Siegfried Schirmer, Karl Müller und Helmut F. Späte (vgl. ebd.).<br />

In der Erklärung von Rodewisch hieß es unter anderem: »Die psychiatrischen<br />

<strong>Kranke</strong>nhäuser und Kliniken müssen ihre allgemeinen<br />

Bedingungen, unter denen sie therapieren, kritisch überprüfen. Die<br />

besonderen, aus der Anstaltstradition übernommenen Maßnahmen,<br />

die den psychisch <strong>Kranke</strong>n ›anders‹ als einen anderweitig Erkrankten<br />

im <strong>Kranke</strong>nhaus behandeln, sind Zug um Zug zu beseitigen.<br />

Akut und chronisch <strong>Kranke</strong> können zum überwiegenden Teil auf<br />

völlig offenen <strong>Kranke</strong>nstationen geführt werden. Entscheidend für<br />

die Öffnung der <strong>Kranke</strong>nstationen sind ein durchdachtes rehabilitatives<br />

Heilregime, der fürsorgliche Geist des Pflegepersonals, die<br />

damit geschaffene Heilatmosphäre und die aktive Einstellung zur<br />

komplexen Therapie. Aus vorwiegend geschlossenen Heil- und Pflegeanstalten<br />

haben sich vorwiegend offene psychiatrische Fachkrankenhäuser<br />

zu entwickeln. Das umfassende Sicherungsprinzip der<br />

Heil- und Pflegeanstalten muss einem umfassenden Fürsorgeprinzip<br />

des Fachkrankenhauses weichen.« (zit. nach ebd., S. 24)<br />

Die praktische Umsetzung der Rodewischer und Brandenburger<br />

Thesen blieb dann allerdings aus finanziellen, personellen sowie<br />

politischen Gründen »in den Anfängen stecken« und führte »nur<br />

in wenigen Einrichtungen zu dauerhaften und tiefgreifenden Verbesserungen<br />

der Lage der psychisch <strong>Kranke</strong>n« (BUNDESMINISTE-<br />

RIUM für Gesundheit 1991, S. 3). Andernorts blieben »viele Defizite<br />

und zum Teil katastrophale und menschenunwürdige Verhältnisse«<br />

bestehen (ebd., S. 7).<br />

hurenkind

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!