80den Ort gebracht, der den Menschen nah ist, weil er zu dem Wald des Besitzers oderder Gemeinde gehörte. Man lief dorthin über Wege, über Acker, die von den Leutenbewirtschaftet wurden. Aber die Stellen, an denen die Menschen fotografiert wurden,waren fast nie der Innenraum, so dass man sich fragen kann: Warum hat er sie nicht inder Küche fotografiert, oder in der guten Stube, da er ja Interesse hatte, mit seinen Fotosim Sinne des Portraits aufzuzeigen, wie die Leute vielleicht sind. Sander hat entschieden,wer sitzt, wer steht, er hat entschieden, wie die Leute stehen. Er hat ‚präzise’komponiert, was soweit geht, dass die Leute sich letztlich sehr unwillig so lange haben‚quälen’ lassen, unter der Besonderheit, dass es ein Diktat war, die Aufnahme ohneSonne zu machen. Man kann sich vorstellen, dass es nicht immer warm war. Ich könnteviele Faktoren nennen, die dazu beitragen, dass die Leute auf den Portraits so aussehen.Und ich behaupte, dass es ihm künstlerisch gelungen ist aufzuzeigen, wie die Leutevielleicht auch sonst stehen, wie sie sich auch sonst verhalten. Wenn eine Frau sitzt undder Mann steht oder umgekehrt, stellt sich die Frage: Interessiert ihn ein hierarchischesVerhältnis in diesem Paar? Die Leute erzählten mir über seine Arbeit: Der Sander ‚kütt’[kommt] und nimmt uns ab. Es wurde nicht gesagt: Er fotografiert uns oder er nimmtuns auf, höchstens nichtsahnend: er ‘knipst’, für ihn stets eine Beleidigung. Also, dieses‚Abnehmen’ lässt ja zumindest eine Interpretation zu, gebunden an meine Eingangseinwendung:Welche Möglichkeit hat der Fotograf eigentlich? Und ich behaupte, dass esihm gelungen ist, die Individualität des Einzelnen in eine solche Anonymität zu treiben,dass der, der fotografiert wurde, überhaupt nicht mehr wissentlich daran gedacht hat:Was mache ich jetzt eigentlich für ein Gesicht? Und: so hat er aus meiner Sicht vielesvom ‘wahren Gesicht’ erfasst.Im Portrait zeigte Sander dann den Typus des Altbauern z.B. Sie sprachen von Entindividualisierung,von dem Anonymisieren.Das ist mir eine zu reduzierte Aussage. Mir erscheint wesentlich, wenn da 20 Leutenebeneinander stehen und es lacht niemand, könnte man meinen, es gab nichts zu lachenin dem Leben der Leute. Oder der Fotograf wollte es nicht, weil er der Überzeugungwar, wenn die Leute nicht lachen, sind sie sich oder meinem künstlerischen Wollennäher. Es ist eine künstlerische Entscheidung, die zu befragen ist, wenn wir von Portraitsreden. Und diese Art der Anonymisierung lässt Äußerungen zu, als seien die Leutezu bestimmten Gefühlsäußerungen nicht fähig. Oder sie lässt Fragen zu: Wie steht eseigentlich mit der Geschlechtlichkeit der Frauen, die 14 Kinder gehabt haben? Aberganz anders will ich unterm Strich sagen: Auch wenn er diese Art der von mir apostrophiertenIndividualitäten nicht wiedergibt, hat er trotzdem Typisches getroffen von demEinzelnen wie in der Summe der Einzelnen. Ich hoffe, dass klar genug ist, welchen behutsamenWeg ich in der Bewertung beschreiben will.August Sander, Fotografieaugestellt im August Sander HausWas ist bemerkenswert an der Architektur des August-Sander-Hauses?Ganz wichtig ist mir zu erwähnen, dass dieses Sander-Haus über die Tatsache, dassich es gemeinsam mit einem Maurer und meinem Sohn gebaut habe, die Grundideeder Camera obscura verkörpert, und die ist von dem befreundeten italienischen ArchitektenHans-Peter Demetz. Und die Wegeführung, von der Sie sprachen, oder dieRaumbildung ist in der Tat absichtsvoll dramaturgisch inszeniert. Man nähert sich vonweitem aus der Himmelsrichtung des früheren Wohnortes von August Sander, nämlichKuchhausen, man geht eine Treppe hinauf, Seitenwände begleiten einen, der Blick indie Landschaft wird einem genommen. Man hat die Möglichkeit, eine Türe hochzuschieben,die dann festgestellt wirkt wie die herausgezogene Platte einer Kamera. Mankommt in diesen Raum hinein und wird umfangen von einem Licht, das den Arbeitenzusätzliche Bedeutung gibt. Und man hat in der Tat eine auratische Empfindung. Füruns ist es immer wieder ein neues Glücksempfinden, dass diese Fotos aus den Bauernhäusernund vergammelten Zuständen entborgt worden sind. Und letztlich konntenwir, was wir früher gar nicht wussten, einem brieflichen Dokument von August Sanderentsprechen, es sei sein größter Wunsch, irgendwann einmal in seiner Heimat musealgewürdigt zu werden. – Wir haben dieses wunderbare Bild aus einer Familiengruppe,das gibt es aus meiner Sicht und Kenntnis nur ganz selten. Ein alter Mann, ein Herr, einePersönlichkeit, gestützt und partiell getragen von einem Spazierstock, der unter aus einer»Niederung« kommend, eine Landschaft hinter sich lässt, den Gestaltungsmitteln vonSander entsprechend ab der Schulter mehr oder weniger in die Unschärfe des Hintergrundesgehend, womit er Tiefe erzeugt und damit die Figur und alles, was davor liegt,in einen besonderen Bedeutungsraum hineinstellt. Dieser Mann wirft die Fragen auf:Wo kommt er her? Wo will er hin? Wer hat ihn eigentlich so werden lassen? Er wirftdie vage Frage auf: Welche Möglichkeit haben wir, uns in einem Umraum autonom zuverhalten? Oder welche Wirkungsmechanismen wirken ein? Das ist etwas, was Sander
ganz intensiv beschäftigt hat. Und wenn er diese Figur, was zufällig ist, von uns aus soisoliert, präsentiert mit einem Krückstock, schafft er eine ungewollte Brücke zu demDreibeiner in dem Wald, bei dem es letztlich auch um die Ambivalenzen des Gehen-Wollens und eines Nur-bedingt-Gehen-Könnens geht. Lebensnäher kann man eigentlichnicht sein. Und das hat Sander mit seinen Fotos gezeitigt und letztlich verewigt. Ichkönnte noch lange weiter reden, weil ich festgestellt habe, welche Möglichkeiten es mirgibt, mich mit dieser Persönlichkeit August Sander zu identifizieren.Im Zusammenhang mit dem Tal veranstalten Sie einmal im Jahr, am 21. Juni, den jourfixe, Symposien finden statt. Sie beziehen Literatur, Tanz und Musik ein. Alle Medienkommen zum Tragen. Die Dokumentation eines Symposions trägt den Titel: WelcheLandschaft wollen wir? 28 Welche Themen waren/sind Ihnen wichtig? Worum geht esIhnen dabei?Das genannte Symposion greift zunächst 30 Jahre übergreifend die Interessen auf,die auch das »atelier nw 8« schon versucht hat. Es widmet sich spezieller dem Thema,wie man mit einer Landschaft umgeht, welche Bedeutung sie eigentlich für uns hat.Und diese drei Symposien hatten bei gleicher Titelgebung unterschiedliche Ausrichtungen.Das erste war sehr politisch gedacht. Leute kamen zu Wort, die in einem hohenMaße die Landschaft so wie sie ist, mit zu verantworten haben. In dem zweiten Symposionwurden Gärten fürstlicher Häuser kunsthistorisch behandelt. In diesem Jahr kamenLiteraten zu Wort unter dem Thema: Gärten in der Literatur. Wo dann z.B. ein Aspektder Poesie eine Rolle spielte, im wahrsten Sinne des Wortes, vor allem mit den erzeugtenBildwelten. Zu diesem Symposion hatten wir (nun zum dritten oder vierten Mal), fürdie Arbeitsreihe »Eigene Wege im Tal« den Schriftsteller Norbert Hummel eingeladen,der sich poetisch mit dem Tal beschäftigt hat. Wie auch die Studenten aus Hildesheimvon Herrn Ortheil, die dieses Symposion wesentlich mitbestritten und die unterschiedlichenPoesien im Tal entdeckt haben. In diesem Zusammenhang ließe sich erneut überdie Anlage im Tal und die vielen formalen und inhaltlichen Ansätze reden. Ich nennenur den Aspekt der Poesie, die Norbert Radermacher, Johannes Brus, Brummack undSchwegler ermöglichen, die gleichzeitig die Ironie einspielen. Daran wird die Komplexitätin den verschiedensten Ausprägungen deutlich.Erwin Wortelkamp mit Urmelbeim Rundgang im TAL nebender Arbeit »Ort der Harmonie« (1986-89)von Heinrich BrummackHasselbach, 12. Oktober 2003Es gibt ja eine ganze Reihe von Schriften, die Sie in diesem Kontext herausgegebenhaben. Wie finanziert sich das?Auch für die Anlage draußen können wir immer noch sagen, da sind keine öffentlichenGelder drin, auch wenn wir mit dem Beginn einmalig von der Bundesrepublik mit40.000 Mark bezuschusst wurden und der damalige Kultusminister uns einmal mit20.000 Mark unterstützt hat; das sind die beiden einzigen öffentlichen Gelder, die wirhaben. Die Freunde und alle, die einem helfen, und vor allen Dingen das, was die Familieleistet, sind die Ursachen, dass es das Tal gibt, und ergänzend unbedingt und mit einzigerNamensnennung das Ehepaar Börgerding. Darüber hinaus finanzieren sich diePublikationen mit Hilfe des Kultusministeriums. Und es ist mir immer gelungen, ausallen Parteien Menschen zu finden, die ich erschließen konnte für das, was hier stattfindet,so dass ich auch nicht zu denen gehöre, die allgemein Politiker verteufeln. Aberumso mehr bin ich dafür, dass die Leute, die absichtsvoll etwas verhindern, benanntwerden. Und es wäre zu wünschen, dass uns weitere Pläne gelängen, wozu wir z.B. daserste Mal das Land einbeziehen wollen und nicht nur das Land, weil es viele Menschengibt, nicht nur in der Bundesrepublik und in diesem Bundesland, die der Überzeugungsind, dass diese Art der Strukturen und was damit zusammen hängt, einen Bedeutungsstanderreicht hat, der durch das, was wir uns noch vorstellen, wesentlich intensiviertwerden könnte. Aber das ist weder durch die paar Freunde noch durch die Familienkraftzu entwickeln.Die Anlage pflegen Sie selber.Ja, klar. Sie dürfen nicht vergessen, ich will auch relativieren, was vielleicht als löblicheszu nennen wäre, wenn Sie eine solche Anlage machen. Als Bildhauer mit Kollegenkann das nur so sein, dass das, was dort geschieht, mit den bildhauerischen Interessenmeiner Arbeit zu tun hat. Für mich ist das eine nach außen verlegte Werkstatt und ichempfinde von den 400 Stunden, die ich dort jährlich für die Pflege verwende, ganzwenige als Arbeit. Ich folge auch sonst bei dem, was ich tue, dem Lustprinzip. Das mussman schon benennen, weil sich dann alles relativiert. Ich kann Ihnen auch eine andereRechnung aufmachen; meine Frau geht erfreulicherweise ungefähr 400 Stunden imJahr mit dem Hund [Urmel]. Ich will das mal in Relation setzen und sagen, was auchandere zum Maßstab nehmen könnten, in dieser Zeit etwas zu tun, sich vielleicht füreine soziale Tat zur Verfügung stellen o.ä.
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