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Religiöser HOCHMUT<br />
Wenn in einer Religionsgemeinschaft es gerade die Unerbittlichkeit<br />
ist, die übermächtig wird, dann verbindet diese nicht die Menschen,<br />
sondern entzweit sie. Daher sät eine Religion, wenn sie<br />
Selbstzucht und Kasteiung zu ihrem wichtigsten Merkmal macht,<br />
wenn sie vor allem Brauch und Ritual den vornehmsten Platz einräumt,<br />
Zwiespalt unter den Menschen. Dann hindert ihre trostlose<br />
Strenge sie am Zusammenkommen mit allen; in strenger Absonderung<br />
hält sie sich in ihren eigenen Gesetzen eingeschlossen.<br />
Stets ängstigt sie sich, ob nicht durch eine Regelverletzung ein Vergehen<br />
zustande komme. Eben deshalb muss sie, jeden beiseite<br />
schiebend, sich selbst abseits halten. Nicht nur das: Gerade weil<br />
ein gewisser Hochmut im Einhalten von Regeln den Menschen hart<br />
macht, weil eine gewisse Gier nach dem Einhalten von Regeln sich<br />
seiner bemächtigt und es ihm zur Gesinnung wird, alle diese Regeln<br />
als festen Glauben anzusehen, erwächst in ihm dort, wo er<br />
das Fehlen dieser Regeln bemerkt, eine gewaltige Geringschätzung.<br />
Der Hang zum Zusammenkommen ist eine Sache, die über dem<br />
Streben nach Eigenständigkeit steht. Wenn das Streben nach Eigenständigkeit<br />
die naturgegebene Eigenschaft des Zusammenkommens<br />
gänzlich überwältigt und sich einen Platz über ihr aneignet,<br />
dann entsteht genauso Unrecht, wie wenn ein Sklave den<br />
König ermordet und sich auf den Thron schwingt. Eben deshalb<br />
steht, auch wenn die intellektuelle Kraft der Selbstsucht – sei sie familiärer,<br />
sozialer oder nationaler Art – den Menschen in die Richtung<br />
der Eigenständigkeit hinzieht, die intellektuelle Kraft der Religion<br />
darüber und ruft ihn beständig in Richtung auf die Welt, die<br />
gesamte Menschheit hin.<br />
RABINDRANATH TAGORE, Mein Vermächtnis<br />
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