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credo umbruch - Andrea Molino

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Religiöser HOCHMUT<br />

Wenn in einer Religionsgemeinschaft es gerade die Unerbittlichkeit<br />

ist, die übermächtig wird, dann verbindet diese nicht die Menschen,<br />

sondern entzweit sie. Daher sät eine Religion, wenn sie<br />

Selbstzucht und Kasteiung zu ihrem wichtigsten Merkmal macht,<br />

wenn sie vor allem Brauch und Ritual den vornehmsten Platz einräumt,<br />

Zwiespalt unter den Menschen. Dann hindert ihre trostlose<br />

Strenge sie am Zusammenkommen mit allen; in strenger Absonderung<br />

hält sie sich in ihren eigenen Gesetzen eingeschlossen.<br />

Stets ängstigt sie sich, ob nicht durch eine Regelverletzung ein Vergehen<br />

zustande komme. Eben deshalb muss sie, jeden beiseite<br />

schiebend, sich selbst abseits halten. Nicht nur das: Gerade weil<br />

ein gewisser Hochmut im Einhalten von Regeln den Menschen hart<br />

macht, weil eine gewisse Gier nach dem Einhalten von Regeln sich<br />

seiner bemächtigt und es ihm zur Gesinnung wird, alle diese Regeln<br />

als festen Glauben anzusehen, erwächst in ihm dort, wo er<br />

das Fehlen dieser Regeln bemerkt, eine gewaltige Geringschätzung.<br />

Der Hang zum Zusammenkommen ist eine Sache, die über dem<br />

Streben nach Eigenständigkeit steht. Wenn das Streben nach Eigenständigkeit<br />

die naturgegebene Eigenschaft des Zusammenkommens<br />

gänzlich überwältigt und sich einen Platz über ihr aneignet,<br />

dann entsteht genauso Unrecht, wie wenn ein Sklave den<br />

König ermordet und sich auf den Thron schwingt. Eben deshalb<br />

steht, auch wenn die intellektuelle Kraft der Selbstsucht – sei sie familiärer,<br />

sozialer oder nationaler Art – den Menschen in die Richtung<br />

der Eigenständigkeit hinzieht, die intellektuelle Kraft der Religion<br />

darüber und ruft ihn beständig in Richtung auf die Welt, die<br />

gesamte Menschheit hin.<br />

RABINDRANATH TAGORE, Mein Vermächtnis<br />

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