Hanna Ketterer et al.: Gerechtigkeitseinstellungen und Positionen zum Bedingungslosen Grundeinkommen.scheinlicher 10 . Wie nun könnte - vor dem Hintergrund <strong>der</strong> hier berichteten Befunde - einekonstruktive Diskussion aussehen?Geht man davon aus, dass Individuen verschiedene Gerechtigkeitsauffassungen besitzen,die ihre Position zum BGE bedingen, wird kein Dialog über die Möglichkeit einer Gesellschaftmit BGE stattfinden, wenn nicht genau diese Unterschiede offengelegt werden. Folgt manden philosophischen Ausführungen Charles Taylors (1989), müssen individuelle Gerechtigkeitsauffassungendabei immer in einem größeren Zusammenhang, d.h. in ihrer moralischenEinbettung, betrachtet werden: so sind unterschiedliche Gerechtigkeitsauffassungen immermit spezifischen „Konzeptionen des menschlichen Guten“ (S.148) verknüpft, die sich daraufbeziehen, wie ein Individuum die ihm eigene Idee des Guten - in Abhängigkeit von an<strong>der</strong>enIndividuen und in seiner Einbettung in <strong>der</strong> Gesellschaft - verwirklichen kann. Wenn Auffassungsunterschiedezwischen Individuen in Bezug auf eine gerechte Gesellschaftsordnungaufgeklärt werden sollen, geht es also auch um eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den individuellen,zugrundeliegenden Vorstellungen davon wie Individuen in einem demokratischen Gemeinwesen(in <strong>der</strong> individuellen Lebensführung) miteinan<strong>der</strong> verbunden und voneinan<strong>der</strong>abhängig sind. Letztendlich dreht sich auch die Debatte um das BGE im Kern um die Fragenach den sozialen Bedingungen eines „guten Lebens“ 11 . Da diese Frage universelle Relevanzhat - egal ob für, gegen o<strong>der</strong> unentschlossen gegenüber dem BGE - sollte <strong>der</strong> KulturimpulsBGE als Chance betrachtet werden, sich über die Facetten wie auch die politischen Gestaltungsmöglichkeiteneines solchen breit auszutauschen, sowie als Chance <strong>zur</strong> Wie<strong>der</strong>herstellungdes Resonanzraumes 12 zwischen Bürgern und Politik (Rosa, 2012).Sollen Befürworter und Gegner miteinan<strong>der</strong> in einen Dialog treten, sollten die Gerechtigkeitsprinzipien,die in <strong>der</strong> jeweiligen Gerechtigkeitsauffassung maßgeblich sind Einzug in die Diskussionselbst finden. Wenn auch Befürworter und Gegner sich über die Wichtigkeit individuellerLeistungserbringung einig sind, scheint das Leistungsprinzip bei den Gegnern tieferverwurzelt bzw. einer engeren Definition zu genügen, als bei den Befürwortern. Setzt manden Maßstab <strong>der</strong> Leistung an die Beurteilung eines Grundeinkommens, dessen Bezug losgelöstist von jeglicher Bedingung, mag dies zu <strong>der</strong> Ansicht führen, das BGE sei eine Belohnungfür nicht erbrachte Anstrengung o<strong>der</strong> Leistung (im Erwerbsarbeitsmarkt). Dass IndividuenLeistung aber auch in an<strong>der</strong>en Formen als in <strong>der</strong> Beteiligung im <strong>Arbeit</strong>smarkt (z.B. alsHausfrauen, Zivildienstleistende o<strong>der</strong> Straßenkünstler) erbringen o<strong>der</strong>, dass das Leistungsprinzipnicht notwendig ein geeigneter Maßstab für jede zwischenmenschliche Beziehung10 Nachdem die Volksinitiative im August 2013 über 100.000 beglaubigte Stimmen für ein BedingungslosesGrundeinkommen von Schweizer Wahlbürgern und Wahlbürgerinnen erhalten hatte, wird die Initiative offiziellam 4. Oktober 2013 beim Bundesrat eingereicht. Nach <strong>der</strong> Beratschlagung über den Vorschlag im Bundesratwerden parlamentarische Beratungen eingeleitet, die zu einem Gegenvorschlag <strong>zur</strong> Initiative von Seiten desParlaments führen können.11 In <strong>der</strong> Nikomachischen Ethik, aus welcher <strong>der</strong> Begriff entstammt, beschreibt Aristoteles die aktive Beteiligungam Gemeinwesen als zentrales Element des „guten Lebens“.12 Laut Zeitkritikern wie Hartmut Rosa (2012) ist die aktuelle Politik, die <strong>der</strong> Logik des muddling through folgendauf ad-hoc Lösungen bedacht ist, weit davon entfernt die sozialen Bedingungen eines „guten Lebens“ zu bestimmen.Dieses definiert Rosa als die subjektive Erfahrung des Individuums von Autonomie und Authentizität inseiner Lebensführung (S.412).48
<strong>Zürcher</strong> <strong>Beiträge</strong> <strong>zur</strong> <strong>Psychologie</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> – Heft 2, 2013darstellt, wird dabei ausgeblendet. Wenn auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite das Gleichheits- und Bedarfsprinzipeng verknüpft ist mit <strong>der</strong> Zustimmung zum Bedingungslosen Grundeinkommen, somag dies auf <strong>der</strong> Auffassung beruhen, dass Individuen in einem demokratischen Gemeinwesenvielmehr Bürger als <strong>Arbeit</strong>nehmende sind. Und als Bürger sind sie mit gleichen Bürgerrechtenausgestattet und haben Anspruch auf eine würdevolle Existenz, was das BGE zumAusdruck bringen würde.In einer konstruktiven Diskussion würde außerdem berücksichtigt, dass unterschiedliche Gerechtigkeitseinstellungenmit spezifischen Sozialisierungserfahrungen verknüpft sind. Sowürde dieser Zusammenhang in <strong>der</strong> Diskussion selbst aufgegriffen, dekonstruiert sowie inBezug auf den subjektiven Möglichkeitsraum, den <strong>der</strong> Vorschlag eines BGE bei einer Personherzustellen vermag, kritisch reflektiert werden. Darüber hinaus sollte explizit diskutiert werden,inwiefern ein BGE dem von Gegnern und Befürwortern geteilten Bedürfnis nach intaktensozialen Beziehungen entgegenkommen könnte. Betrachtet man zusätzlich den Befund,dass beide Gruppen individuelle Leistung hochhalten und persönliches Wachstum äußerstwertschätzen, sollte für die Diskussion konstruktiv sein, die Möglichkeiten persönlicher Entwicklungin einer Gesellschaft mit BGE, zu diskutieren. Generell sollte in <strong>der</strong> Diskussion überdas BGE - aus kommunikationspsychologischer Perspektive - davon abgesehen werden,Wahrheitsansprüche auf Zukunftsszenarien zu erheben. Selbst häufig vorgetragene Wirkungsvermutungenmüssen spekulativ bleiben, da uns Vergleichsszenarien fehlen. Besserwäre es, verschiedene Szenarien gedanken-experimentell durchzuspielen und damit überMöglichkeiten statt über spekulativ bleibende Wirkungen zu diskutieren. Inwiefern es in <strong>der</strong>zukünftigen Diskussion gelingt, individuelle Entwürfe eines „guten Lebens“, unterschiedlicheGerechtigkeitsauffassungen sowie universelle, menschliche Lebensziele zu diskutieren, wirdauch Einfluss darauf nehmen, welche Position die heute noch Unentschlossenen beziehenwerden.49