<strong>AHV</strong>-<strong>positiv</strong>Im Ruhestand10DOROTHEE SCHMIDVor ein paar Wochen bin ich aus demaktiven Berufsleben verabschiedet worden.Auf die penetrant gestellten Fragen,was ich mit der nun vielen freien Zeitvorhätte, welche Projekte, Ausbildungen,Ehrenämter, Reisen, Kreuzfahrtenanstünden, hatte ich keine vernünftigeAntwort bereit, nur die eine: Mal sehen,wie sich das so anfühlt – vielleicht falleich in ein Loch und hoffe, dass es sich mitder Zeit mit Freudigem und Vernünftigemfüllt.Seit kurzer Zeit befinde ich mich also imRuhestand. Ruhe ist etwas Wunderbares!Die dazu gehörende Musse muss allerdingsgelernt sein, über Jahrzehnte praktizierteAlltagsmuster lassen sich nicht soschnell auswechseln:Ich sollte an die Bahnhofstrasse, eilebeflügelten Schrittes die Treppe hinunter,aus dem Haus, sehe den Vierer kommen;wenn ich renne, erwische ich ihnnoch. Halt! Ich habe Zeit, kann den folgendenBus oder den Zweier nehmen undsogar noch an der Haltestelle ein palästinensischesOlivenöl kaufen. Vorbei dieZeiten, als ich frühmorgens den Zug amStadelhofen erreichen musste, den Viererverpasste und mit dem folgendenZweier und einem nervenaufreibendenSpurt den einfahrenden Zug gerade nocheinholte.Abends schnell einkaufen im Coop – welcheSchlange ist länger, wo versprechendie weniger gefüllten Körbe schnelleresVorankommen, welche ist die flinksteKassiererin? Halt! Nur mit der Ruhe! Ichkann entspannt Leute und Einkäufebeäugen, eventuell Nächstenliebe waltenund einem gestressten Berufsmenschenden Vortritt lassen, denn ich habe Zeit.Ich stehe später auf als gedacht: Wasmuss ich alles erledigen? Plötzlicherscheint mir die Wohnung dreckig wienoch nie, Staub in allen Ecken, verkalkteBrünneli, Schlieren auf den Fensterscheiben.Nichts wie los, alles muss entstaubt,entkalkt, poliert werden. Halt!Was soll das, ich habe alle Zeit der Welt,den Haushalt nach langer, eigentlichdoch mässiger Vernachlässigung wiederin tadellosen Zustand zu bringen.Musse muss gelernt sein. Aber Ruheist etwas WunderbaresSchlafen, bis man von selbst aufwacht,ein langes Frühstück mit intensiver Zeitungslektüre– ich wage mich sogar ankomplizierte Wirtschaftsbeiträge undlese den Sportteil noch intensiver. Dazudas Morgenjournal von DRS 1 hören unddie Ratschläge von «Espresso» zuGemüte führen. Danach eventuell wiederins Bett, bei Regen mit Bettflasche, undden neusten Arjouni-Krimi zu Endelesen, mit dem Privatdetektiv Kayankayaeinig gehen, dass ein beschaulichesLeben, vor allem nach mörderischenSchiesserein und KO-Schlägereien,unbedingt anzustreben ist.Ich beschliesse, im neuen Lebensabschnittmein bisheriges Leben inOrdnung zu bringen und aufzuräumen,und ich beginne im Kleinen. Ich durchforstedas Badezimmerkästchen, entfernedie abgelaufenen Medikamente undentsorge sie in der Höschgass-Apotheke.Vor dem Kleiderkasten entscheide ichmich, einiges in die Klappe beim GZ zuwerfen und bei Mode-Keller die neueHerbstkollektion durchzusehen. Die leerenGestelle für Wein fülle ich mit Nachschubaus der Nachbarschaft beiKummers und für den abgeschabten Teppichwerde ich bei Furrer Ersatz suchen.Die grossen Brocken, die prall gefülltenBüchergestelle, das üppig dokumentierteArbeitsleben, Zeugen intensiver Berufstätigkeitund entsprechend noch tabu,können warten.So füllen sich die Tage und ich frage michtatsächlich, wann ich eigentlich noch vorkurzem Zeit für meine Berufsarbeitgehabt habe. Und mich beschleicht beimWort «Ruhestand» zunehmend einungutes Gefühl: Wo stehe ich, bleibe ichstehen?Wie lange noch geniesse ich diesebeschaulichen Morgenstunden, die vordemAusnahme und darum so kostbarwaren? Wann verleidet mir das Pützeln inder Wohnung, wann das Verfügen überdie eigene Zeit, wenn Krimi lesen, Kinobesuch,FreundInnen treffen nicht mehrLuxus sind? Wenn die «Wonnen derGewöhnlichkeit» sich in Langeweilekehren?Quartiermagazin Kreis 8 <strong>223</strong>/2012
<strong>AHV</strong>-<strong>positiv</strong>11Die kleine Sehnsucht nach dem Lebenvor dem RuhestandHin und wieder beschleicht mich eineleise Wehmut und eine kleine Sehnsuchtnach dem Leben vor dem Ruhestand;nach den frühen, dunklen, hektischenMorgenstunden, dem Rennen auf denVierer, dem sehr leeren Tram, der nurhalbvollen Bahn, der Zeitungslektüreund dem kleinen Frühstück während derhalben Stunde bis zum Arbeitsort; demHeimkommen nach getaner Arbeit, erledigtund zufrieden, wieder einmal mitmeiner heute schmerzlich vermisstenpubertierenden Klientel herrlich gestrittenzu haben.Ich möchte nicht stehen bleiben undmache mich auf verschiedenen Gebietenkundig.Einen Kurs an der EB besuchen, ist jagleich um die Ecke: Wieder alltagstauglichesFranzösisch auffrischen, Italienischlernen, schliesslich ist ja die Toskana fürältere Semester eine angesagte Destination.Im Katalog ist sogar «Chinesischzum Ausprobieren» zu finden – da wäreich auf der Höhe der Zeit und müsstemeine Gehirnzellen gehörig trainieren.Noch anspruchsvoller erscheinen miraber die Fortbildungen im Informatikbereich:«Grosse Dokumente – leichtgemacht».Aber nicht nur im geistigen Bereich willich mich bewegen. Auch körperlich darfich nicht stehen bleiben. Also: Mein Fitnessaboim Schulthess-Training besserausnutzen, mit dem Velo einkaufen undgleich noch eine kleine Schlaufe über dieWeinegg anhängen oder am Morgen aufsVelo steigen und irgendwohin fahren, aneinem schönen Ort picknicken und ineinem gemütliche Gasthof absteigen ...Vielleicht darf ich mir für einen Wehrenbachtobel-Spaziergangden reizendenBerner Sennenhund aus der Dufourstrasseeinmal ausleihen?Das soziale Leben erweitern. Vom passivenzum aktiven Mitglied der KirchgemeindeNeumünster werden:gemeinsamer Mittagstisch 60+, gemeinsamesLesen, offener Gesprächskreis.Die Tastatur des Klaviers wieder unterdie Finger nehmen und fürs Duo einePartnerIn mit Geige suchen. An Quartieranlässenteilnehmen, nicht nur Röstibraten einmal im Jahr am Quartierfest,sondern regelmässig den «musigznacht»geniessen und an einem Quartiergesprächdabei sein.Irgendwann bin ich vielleicht dann dochnoch reif für die grosse Bildungsreise indie ferne Welt, aber zuerst versuche ichmeinen Alltag neu zu sichten, zu strukturieren– und zu ertragen.Zeit für Lesen, Haushalt, Bewegen, Kursebesuchen, Konzerte geniessen, mitFreundInnen essen... ist wunderbar –aber es reicht, befriedigt, erfüllt michnicht. Ich möchte neben der Zeit, in derich familiär engagiert bin, anderes Sinnvolles,Sinnstiftendes machen, gebrauchtwerden, etwas zu einem guten Lebennicht nur von mir beitragen.Hoffnungsvoll und gelassen harre ich derAufgaben, die da hoffentlich mit der Zeitkommen mögen.Dorothee Schmid, Jahrgang 1948, lebte in den siebzigerJahren im Seefeld und wohnt seit 1995 wiederim Quartier. Sie arbeitete von 1976 bis 2012 alsMittelschullehrerin für Deutsch, davon die letzten30 Jahre an der Kantonsschule Zürcher Unterland inBülach.Quartiermagazin Kreis 8 <strong>223</strong>/2012