UnfreiwilligVon der beruflichen Selbständigkeitzur Selbständigkeit in der IV-Rente12Die Arbeit hat mich krank gemacht. Trotzdem nenne ich michhier Felicitas. Über all die beruflichen Jahre habe ich viel erfahren,konnte eigene Wege gehen – meine Wünsche und Zieleerfüllen und dabei auch noch das Portemonnaie vorsorglich fürdas Alter füttern. Auch die Jahre der Krankheit undInvalidisierung möchte ich nicht missen, obwohl das paradoxerscheinen mag. Krankheit ist ein Herausforderung – und bedeuteteine frühe Pensionierung, wenn man dadurch nicht mehrarbeiten kann. Sie ist aber auch eine Weiterbildung, die mansonst nirgends erhalten kann. Mein Leben ist durchzogen wieein Speckstreifen, doch mein Leben ist immer wieder neu erfüllt.FELICITAS«Am Rande der Gesellschaft», Illustration FelicitasDer Beruf war mir immer wichtig. Mitsiebzehn Jahren begann ich mit einerLehre mein erstes Berufsleben; späterfolgte ein Studium mit Fachhochschul-Abschluss. Noch vor dem achtundzwanzigstenLebensjahr gründete ich meineigenes kleines Einfrau-Unternehmen.Als Selbständigerwerbende wollte ichmich auch absichern für Lohnausfall beiKrankheit und Unfall. Zudem brauchteich Erspartes für die Altersvorsorge, dasich die Pensionskasse für mich nichtlohnte. Mit einer Taggeld-Versicherungund einer Versicherung bei «Invaliditätdurch Krankheit und Unfall» startete ichin den 80er Jahren, am Ende der Hochkonjunktur,in die berufliche Selbständigkeit.Feuer und Flamme...Am Anfang war alles Feuer und Flamme,Angst und Jubel. Ich sammelte Erfahrungen,Kundschaft, Aufträge und Erspartes.Nach den ersten sieben Jahren begann eszum ersten Mal so richtig zu harzen: SiebenMonate kam kein Auftrag mehr herein.Das war Mitte der 90er Jahre. Waswar geschehen? Neue Begriffe wie «NewPublic Management» machten bei meinerzum Teil städtischen Kundschaft dieRunde. Ein ganz neues Wort, «Globalisierung»,war in aller Munde. Nun wurdenProjekte blockiert, Reorganisationenund Umstrukturierungen brauchten vieleRessourcen und Zeit. Zudem war Rezession.Wie weiter, fragte ich mich? Muss ich dieSelbständigkeit aufgeben? Muss ichmich umschulen oder weiterbilden?Aber was und wohin? Ein Besuch bei derBerufsberatung brachte kein neuesErgebnis: Ich sei sehr gut ausgebildetund auch im richtigen Beruf.Dann kam der Stein wieder ins Rollenund rollte gute sieben Jahre weiter. Ichhatte wieder Aufträge und noch mehrAufträge; alles was ich mir wünschte, unddoch stimmte Einiges gar nicht mehr.Die Arbeitswelt begann sich stark zu verändern.Mein als Handwerk gelernterBeruf wurde zunehmend digitaler. DieKundschaft hatte keine Zeit mehr fürvorbereitende Arbeiten und Besprechungen.E-Mail und PDF waren jetztangesagt. Auf meinem Tisch landetenzunehmend Pfusch und Schnellschüsse,die ich dann in mühseligem Aufwandaufbereiten musste. Meine Arbeitstagewurden länger und länger. Irgendwannwusste ich, so geht es nicht mehr weiter.Immer mehr lief gegen den Strich, gegenmeine Arbeitsweise und Selbstbestimmung,gegen das was ich gut konnte.Rund sechs Wochen vor dem gesundheitlichenZusammenbruch, es war anfangs2001 und ich war inzwischen zweiundvierzigJahre alt, besuchte ich einen Kurszur beruflichen Standortbestimmung.Ein Test ergab, meine Situation sei der«goldene Käfig»: Nicht genug um zubleiben, zu viel um zu gehen. Es hiess, indieser Situation würden die einen Knallund Fall alles hinschmeissen, die andernwürden krank. Ich glaubte dem Test nicht.Doch ein paar Wochen später tat ich beideszur gleichen Zeit: Ich liess alles stehenund liegen und ich wurde krank. Waswar geschehen?Quartiermagazin Kreis 8 <strong>223</strong>/2012
<strong>AHV</strong>-<strong>positiv</strong>ausgeschieden…ausgebranntNach einem langen Arbeitstag bemerkteich plötzliche Schmerzen im Augenbereich.Ich sollte diese Schmerzen vonnun an noch fünf weitere Jahre haben.Innerlich kochte ich vor Wut: Wieder soein Tag, an dem ich mich mit Details auseinandergesetzthatte, die eigentlichnicht in meinen Aufgabenbereich gehörten,anstelle der Konzentration auf meineKernaufgaben. Darauf folgten einBesuch beim Augenarzt der keinenBefund ergab, eine neu korrigierte Brille,ein neuer Bildschirm und drei WochenPause. Dann arbeitete ich noch genaueine Woche. Am Freitag, pünktlich um 17Uhr, ging ich ins Wochenende. Das Konzeptfür eine Präsentation vor dem Kadereines städtischen Departements (dasspäter noch viele Schlagzeilen liefernwürde) war nicht gemacht. Doch sokonnte und wollte ich mit meiner Kundschaftnicht mehr weiter arbeiten. Zuvielwurde auf mich abgewälzt, zu oft meineZeit vergeudet: So viel Ärger jeden Tag.Selbständigkeit hin oder her, alles mussteich nicht auf mich nehmen. Anstelleder Präsentation beabsichtigte ich eineAussprache mit meiner Auftraggeberin.Ich wollte «Kunden, nicht Könige».Die Aussprache wurde mir nicht gewährt,doch ich «durfte» den Auftrag zurückgeben.Das war mir recht, denn es ging mirgar nicht gut: Tagsüber wanderte ichStunden ohne Essen und Trinken, nachtswar kaum Schlaf. Ich kochte weiter vorWut über all das, was mir geschehen war.Die Menschen in meiner Umgebung verstummtenvor diesem Zustand. Ich warkein angenehmer Mensch mehr, ich wareine Andere als bisher.Die Hausärztin schrieb mich krank. Sienannte ein Wort, das mir damals nochnicht geläufig war: Burnout. Oder schwereErschöpfung. Oder Erschöpfungsdepression.Oder agitierte Depression.Oder (...).Die Taggeld Versicherung zahlte, stellteaber auch Forderungen. So musste ichmich auf Verlangen der Versicherung beider IV melden. Die IV schickte mich zumGutachter. Der Gutachter schreib ineinem langen Bericht, «Genesung theoretischmöglich, aber nur auf langeSicht». Ich fragte ihn nach Integrationsmöglichkeitenbei der IV. Meine Situationsei zu komplex, sagte der Arzt, ichmüsse mich selbst integrieren – er werdeeine 100-%-Rente beantragen. Zur IVbekam ich von meiner privaten Versicherungmonatlich einen fixen Betrag. Ichmusste also nicht aufs Sozialamt gehenund brauchte keine Beihilfe. Finanziellbin ich dank meiner Selbständigkeit«unabhängig» geblieben.Wege zur Selbst-IntegrationMetaphorisch gesprochen war mein«berufliches Haus» nur zur Hälfte ausgebrannt.Die andere Hälfte beinhaltetGelerntes, das ich in meinen aktivenBerufsjahren nicht zur Anwendunggebracht hatte. Glück im Unglück. Damitist es mir gelungen, einen kleinenBereich zu öffnen, in dem ich weiterselbständig arbeiten kann. Es gibt auchAufträge, die ich gerne annehme. Viel istes nicht. Doch auf diese Weise bin ichnoch an die Arbeitswelt angeschlossenund erhalte Lohn und Anerkennung.Auch Freiwilligenarbeit gibt mirAnschluss an die Gesellschaft, ermöglichtmir Einblicke in neue Gebiete undneue Kontakte. Sie lässt mich weiter lernenund gibt Sinn und Anerkennung. Icherhalte kein Geld dafür, unterliege aberauch keinem Zwang. Viele meinerBekannten mit IV-Rente leisten ebenfallsFreiwilligenarbeit oder konntensich einen kleinen neuen Berufsbereicherarbeiten.Es ist nicht so verschieden, ob wir IV-Rentner werden, ob wir vor der Pensionierungstehen oder ob uns ein schweresSchicksal trifft. Immer stehen wir voreinem spürbaren neuen Lebensabschnitt.Es beginnt ein Prozess, der uns herausfordert,und auch die Menschen in unsererNähe sind aufgefordert, mit oderohne uns, einen neuen Weg zu gehen.Der Prozess beginnt mit einem Verlust.Vielleicht sind wir gut vorbereitet undder Verlust wird als Übergang zu Neuemerlebt. Werden wir aber unvorbereitetaus der Bahn geworfen, so müssen wirFolgendes wissen: Der Weg ist steinig. Esgibt keine Abkürzung. Wir haben nochkeine Erfahrung. Oft sind wir allein –wirklich allein. Ich nenne es «hintereiner gläsernen Wand sein»: Es war, alstrenne mich eine Glasscheibe von denMitmenschen. Sie möchten mir helfen,doch sie verstehen mich nicht. Sie sagen,sie verstehen mich und indem sie essagen, begreife ich, dass sie mich nichtverstehen. Heute weiss ich, sie habenAngst, ohne es zu wissen. Auch ihnenfehlt die Erfahrung. Auch sie sind hilflos.Viele möchten den Weg mit mir nichtgehen und wenden sich ab. Auf den Verlustder Arbeitsfähigkeit folgen Verlusteim sozialen Umfeld.Fortsetzung auf Seite 2913Quartiermagazin Kreis 8 <strong>223</strong>/2012