SchlossMagazin Fuenfseenland April 2016
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18 | region | anatol regnier<br />
Anatol Regnier<br />
tritt am 8. <strong>April</strong> um 19:00 Uhr im „Wartesaal<br />
für allerhöchste Herrschaften“<br />
im Starnberger Bahnhof (Bahnhofsplatz<br />
5) auf. Er liest aus seinem aktuellen<br />
Buch „Wir Nachgeborenen – Kinder<br />
berühmter Eltern“, für das er<br />
Zeitgenossen interviewt hat, die im<br />
Schatten ihrer prominenten Vorfahren<br />
ihren eigenen Weg finden mussten. Alle<br />
Interviewten berichten sehr offen über<br />
ihr Leben, Autor Regnier zieht nach und<br />
erzählt ebenso offen seine eigene Geschichte.<br />
Seine Lesung begleitet er mit<br />
Gitarrenmusik und Chansons von Wedekind,<br />
Brecht und anderen Größen aus<br />
Literatur und Kabarett.<br />
Information<br />
www.kunstraeume-am-see.de<br />
Wir Nachgeborenen –<br />
Kinder berühmter Eltern<br />
336 Seiten · Preis 22,95 €<br />
ISBN 978-3-406-66792-3<br />
Verlag C.H. Beck<br />
www.beck.de<br />
Nein, sicher nicht. Aber Nehama fühlte sich<br />
im kalten Deutschland und auch in Ambach,<br />
in diesem damals sehr provisorischen Haus,<br />
nicht wohl. Auch ihre künstlerische Karriere<br />
stagnierte. Ich hatte einen recht schönen<br />
Posten als Gitarrendozent am Münchner<br />
Richard-Strauss-Konservatorium. Eines Tages<br />
kam Nehama auf die Idee, nach Australien<br />
zu ziehen. Ich war zuerst nicht einverstanden,<br />
ans andere Ende der Welt! Es ist schon<br />
eine essentielle Entscheidung auszuwandern,<br />
gerade mit Kindern. Auch der Abschied von<br />
meinen Eltern. Aber wir gingen. Meine Frau<br />
und ich entschieden uns für Perth in Westaustralien.<br />
Als wir ankamen, war das erst einmal<br />
ein Kulturschock. Im Januar hatte es<br />
vierzig Grad, es wehte ein heißer Wind. Die<br />
Menschen trugen Trainingsanzüge oder andere<br />
zweckmäßige Kleidung. Ich war dort nur<br />
Gitarrist, nicht Sohn oder Enkel von jemandem<br />
– Wedekind war dort nur Insidern bekannt.<br />
Wir mussten komplett von vorne anfangen.<br />
Kaum waren wir in Perth ein wenig<br />
etabliert, wollte meine Frau weiter. Also zogen<br />
wir nach Sydney, wieder ein Anfang von<br />
vorne. Die große künstlerische Karriere ist<br />
uns auch dort nicht gelungen, obwohl wir<br />
nicht schlecht gelebt haben. Aber als Europäer<br />
ist man doch sehr abgeschnitten, so weit<br />
weg vom Weltgeschehen und von der Familie.<br />
Wir waren insgesamt zehn Jahre dort – keine<br />
schlechte Zeit, aber auch gut, als sie wieder<br />
vorbei war.<br />
Wie war es für Sie, wieder in Ihre bayerische Heimat zu kommen?<br />
Mir ist bewusst geworden, welch ein Privileg es ist, in Europa<br />
zu leben. Hier setze ich mich ins Auto und bin einige Stunden<br />
später in Wien, Prag, Amsterdam, Rom. Diese Vielfalt, diese<br />
Dichte, sprachlich, kulturell, kulinarisch, ist einzigartig. Auch<br />
der Raum Starnberger See ist einmalig. Da muss man schon<br />
lange suchen, um so etwas Schönes zu finden. Ambach ist<br />
fast genauso wie früher, es hat sich kaum verändert. Klar, am<br />
Wochenende bei Sonne ist hier viel los. Aber schauen Sie jetzt<br />
auf die Uferstraße. Gelegentlich fliegt ein Vogel vorbei, der<br />
See plätschert, das ist alles. Traumhaft.<br />
Der richtige Ort, um Bücher zu schreiben. Mit über 50 Jahren<br />
sind Sie Schriftsteller geworden und haben seitdem vier Bücher<br />
veröffentlicht. Woran arbeiten Sie aktuell?<br />
An einer Biographie über Hans Fallada, eine sehr interessante<br />
Figur und eine geniale, verrückte Erscheinung. Er war seinerzeit<br />
als Psychopath diagnostiziert, unternahm<br />
Suizidversuche, hatte keinen Erfolg.<br />
Plötzlich, im Alter von 40 Jahren, wurde er<br />
dieser weltberühmte Autor. Er schrieb in einer<br />
rasenden Geschwindigkeit, teilweise<br />
ein Buch in 14 Tagen. Die Literaturszene im<br />
Deutschland der Nazizeit ist so interessant.<br />
Die Exilliteratur ist rauf und unter dekliniert<br />
und bewundert worden: Thomas<br />
Mann, Lion Feuchtwanger, Bertold Brecht,<br />
Stefan Zweig. Aber man weiß wenig über die<br />
Schriftsteller, die geblieben sind, die nicht das<br />
Geld oder den Mut hatten zu emigrieren. Diese<br />
Schriftsteller mussten sich positionieren,<br />
sich mit ihrer Zeit auseinandersetzen. Fast<br />
alle haben ihr Hierbleiben mit ihrem künstlerischen<br />
Tod bezahlt, außer einer Handvoll von<br />
Leuten wie Gottfried Benn, Ernst Jünger oder<br />
eben Hans Fallada. Die haben auch ihre gewaltigen<br />
Kompromisse gemacht, haben sich teilweise<br />
an die Nazis geradezu rangeworfen,<br />
aus Geldnot oder Opportunismus. Es war<br />
so gut wie unmöglich, in der Nazizeit gute Literatur<br />
zu schreiben. Übrigens lebten viele<br />
damals bekannte Literaten in Starnberg;<br />
hier waren Ina Seidel, Heinrich Zillich und<br />
andere. Hanns Johst, in der Jugend expressionistischer<br />
Dichter, dann Präsident der<br />
„Reichsschrifttumskammer“ und auf Hitlers<br />
„Gottbegnadetenliste“, wohnte, glaube ich,<br />
in Aufkirchen. Und Waldemar Bonsels bekanntermaßen<br />
in Ambach.<br />
Vor einigen Jahren haben Sie eine Biografie<br />
über Ihren Großvater veröffentlicht: „Frank Wedekind – eine<br />
Männertragödie“. Wie sehen Sie Wedekind heute?<br />
Ich habe immer mehr Bewunderung für ihn. Während der Recherche<br />
zum Buch habe ich mich in seine Texte mehr und mehr<br />
eingelesen. Das muss man auch, denn es ist sehr schwer, sie auf<br />
der Bühne rüberzubringen. Die meisten Regisseure verstehen<br />
sie nicht wirklich, deswegen versuchen sie, Klamauk aus ihnen<br />
zu machen. Wedekind wird nach 150 Jahren immer noch gespielt.<br />
Wer aus seiner Generation ist so präsent? Mein Großvater<br />
war oft unsympathisch, auch mir. Er konnte kleinlich sein, humorlos,<br />
verspießert. Aber ich denke, wenn man den Künstler<br />
von dem Menschen trennt, dann kann man ihn anders sehen.<br />
Wedekind war als Persönlichkeit mächtig und kontrovers, aber<br />
auch verletzlich, schutzlos und naiv. Er wurde so bekämpft und<br />
bewundert, dass man das Werk darüber manchmal vergisst. Ich<br />
finde ihn immer mehr einen tollen Mann. #