lass fallen anker - Blätter der Deutschen Seemannsmission
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Flucht übers Mittelmeer | Hintergrund<br />
Flucht übers Mittelmeer<br />
Bil<strong>der</strong>, die sich den Seeleuten in die Herzen brennen<br />
Starke Belastung durch die Flüchtlingskrise/<strong>Seemannsmission</strong> steht Seeleuten zur Seite<br />
Alexandria. Die Deutsche <strong>Seemannsmission</strong><br />
(DSM) betreibt am Mittelmeer drei Stationen:<br />
in Genua (Italien), Piräus (Griechenland) und<br />
Alexandria (Ägypten). In den letzten Jahren<br />
haben sich in <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong> Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter <strong>der</strong> DSM neue Schwerpunkte<br />
ergeben, unter an<strong>der</strong>em aufgrund <strong>der</strong> Flüchtlingssituation.<br />
Alexandria ist ein Hauptausgangspunkt <strong>der</strong><br />
Flüchtlingsströme rund um das Mittelmeer.<br />
Durch die machtpolitischen Verän<strong>der</strong>ungen<br />
in Libyen, verbunden mit einer starken Islamisierung,<br />
ist es für viele Menschen – beson<strong>der</strong>s<br />
für Christen – nicht mehr möglich, den Weg<br />
durch das zerrüttete Land zu wählen. Deswegen<br />
gehen nahezu täglich östlich von Alexandria<br />
Schiffe ab, die Menschen nach Europa<br />
bringen sollen.<br />
Bis Ende des letzten Jahres und über den<br />
Winter fuhren sie noch direkt nach Italien.<br />
Mittlerweile werden meist kleinere Boote eingesetzt,<br />
die die Menschen zur Überfahrt nur<br />
vor die Libysche Küste bringen und dort in<br />
größere Schiffe umladen. Dieses „Umladen“<br />
ist laut Aussagen von Betroffenen vergleichbar<br />
mit Viehtransporten: Menschen werden von<br />
einem Schiff zum an<strong>der</strong>en geworfen. Dass einige<br />
dabei ins Meer <strong>fallen</strong> und sogar ertrinken,<br />
wird als „Kollateralschaden“ hingenommen.<br />
Beson<strong>der</strong>s gefährlich wird es, wenn Menschen<br />
zu den Schlepperbooten durchs Wasser<br />
waten o<strong>der</strong> schwimmen und plötzlich die<br />
ägyptische Polizei auftaucht. Die Boote fahren<br />
bei Polizeikontakt sofort ab und achten nicht<br />
darauf, dass Familien zusammen bleiben.<br />
Schließlich auf einem größeren Schiff angekommen,<br />
beginnt die Überfahrt auf dem Mittelmeer.<br />
Dies häufig in Booten, die diese Bezeichnung<br />
kaum verdienen, geschweige denn,<br />
dass sie hochseetauglich o<strong>der</strong> schlechtwettertauglich<br />
sind. Nahezu täglich werden am ägyptischen<br />
Mittelmeerstrand Schiffswracks und<br />
Holzteile von Schiffen, aber auch Kleidungsstücke<br />
und an<strong>der</strong>e, ertrunkenen Menschen zuzuordnende<br />
Utensilien gefunden.<br />
Seeleue müssen oft<br />
hilflos zusehen<br />
Beson<strong>der</strong>s schrecklich ist es für die Seeleute<br />
<strong>der</strong> Handels- und Frachtschiffe, wenn Ertrunkene<br />
auf dem Meer treiben. Und das in einer<br />
so großen Anzahl, dass Seeleute immer wie<strong>der</strong><br />
davon berichten – Bil<strong>der</strong>, die ihnen nicht mehr<br />
aus dem Kopf gehen. Die Eindrücke belasten<br />
sie so sehr, dass manche das Gefühl haben,<br />
nicht mehr in diesem Beruf arbeiten zu können<br />
Im Jahr 2014 wurden durch die Handelsschifffahrt<br />
mehr als 40.000 Flüchtlinge gerettet. Die<br />
Menschen, die die Seeleute dabei haben ertrinken<br />
sehen, sind in dieser Statistik natürlich<br />
nicht berücksichtigt. Wie<strong>der</strong>holt berichten<br />
Seeleute den Mitarbeitenden <strong>der</strong> <strong>Seemannsmission</strong><br />
von Vorfällen, bei denen sie Menschen<br />
aus Seenot retten wollten, das Flüchtlingsboot<br />
aber kenterte, weil je<strong>der</strong> es sofort ver<strong>lass</strong>en<br />
wollte und alle auf eine Seite stürzten. Hilflos<br />
müssen die Seeleute zusehen, wie Flüchtlingsboote<br />
Schlagseite bekommen und untergehen.<br />
Das sind Bil<strong>der</strong>, die sich den Seeleuten in die<br />
Herzen brennen.<br />
Im Gegensatz zu den professionellen Rettern<br />
bleiben die Seeleute mit ihren Eindrücken<br />
allein. Außer den Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeitern <strong>der</strong> <strong>Seemannsmission</strong> haben sie<br />
keinerlei psychologische Betreuung. Das Elend<br />
ist so groß, dass die Seeleute immer häufiger<br />
per Telefon o<strong>der</strong> Internet zu uns Kontakt aufnehmen.<br />
Foto: Markus Schildhauer/DSM Alexandria<br />
In Europa hat sich die Wahrnehmung <strong>der</strong><br />
Flüchtlingswege in den zurückliegenden Monaten<br />
verschoben. Gesehen werden die vielen<br />
Menschen auf <strong>der</strong> so genannten „Balkanroute“;<br />
diejenigen, die nach wie vor im Mittelmeer<br />
ertrinken, sind nicht mehr im Blick <strong>der</strong> Öffentlichkeit.<br />
Dabei hat die Zahl <strong>der</strong> Flüchtlinge aus<br />
Eritrea, Süd-Sudan und Somalia, die über Alexandria<br />
reisen, 2015 um mehr als 800 Prozent<br />
zugenommen. In Italien und in Griechenland<br />
kommt kein Schiff weniger an. Die Belastung<br />
für die Handelsschifffahrt, die immer wie<strong>der</strong><br />
zur Hilfe gerufen wird, ist weiterhin hoch,<br />
ebenso <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong> Ree<strong>der</strong>eien, die wegen<br />
<strong>der</strong> Flüchtlinge keine Zeitverzögerung in Kauf<br />
nehmen wollen. Und immer noch fehlen Antworten,<br />
wo die aus dem Meer Geborgenen<br />
aufgenommen und versorgt werden können.<br />
Die Weihnachtszeit 2015 bedeutet für die<br />
Flüchtlingsüberfahrten, die auch vom Winter<br />
und von den Stürmen nicht gestoppt werden,<br />
keine Pause. Und deshalb wird es auch keine<br />
Schonzeit für die Seeleute geben: In den<br />
Winterwochen auf hoher See wird sehr wahrscheinlich<br />
die Zahl <strong>der</strong> in Not geratenen Menschen<br />
noch einmal steigen.<br />
Neben den Gesprächen an Bord und in Seemannsheimen<br />
bietet in dieser Zeit die <strong>Seemannsmission</strong><br />
einen ganz beson<strong>der</strong>en Service.<br />
Sie verteilt an die Seeleute durch Spenden finanzierte<br />
Weihnachtstüten, die neben kleinen<br />
Geschenken auch Telefonkarten für die<br />
wichtige Kommunikation nach Hause enthalten.<br />
Beim Überreichen sehen die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter <strong>der</strong> <strong>Seemannsmission</strong><br />
strahlende Gesichter. Ein kurzer Moment des<br />
Glücks und <strong>der</strong> Zuversicht! •<br />
Markus Schildhauer,<br />
Deutsche <strong>Seemannsmission</strong> Alexandria<br />
1/2016 <strong>lass</strong> <strong>fallen</strong> <strong>anker</strong> • 13