Leo Juni 2016
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Szene 04<br />
INTERSEXUELLE<br />
MÜNCHEN WIRD INTER-AKTIV<br />
FOTO: BERND MÜLLER<br />
„München ist bunt“, heißt es ja gern in<br />
dieser Stadt – und das zu Recht, nicht<br />
nur, wenn es um die gleichnamige<br />
Bürgerbewegung geht. „Nicht bunt<br />
genug!“ schallt es da plötzlich zurück.<br />
Wie kann das denn sein? Und wer ruft<br />
da überhaupt?<br />
Seit einiger Zeit macht neben Lesben,<br />
Schwulen oder Trans* eine weitere Gruppe<br />
auf sich aufmerksam, die nicht in das<br />
klassische Mann-Frau-Schema unserer<br />
Gesellschaft passt: die Intersexuellen.<br />
Das sind Menschen, die nicht mit einem<br />
eindeutigen Geschlecht geboren wurden.<br />
Menschen, bei denen es nicht klar war<br />
(oder ist), ob sie dem männlichen oder<br />
dem weiblichen Geschlecht zugehören<br />
beziehungsweise sich zugehörig fühlen.<br />
Vielleicht möchten sie das aber auch gar<br />
nicht so genau definieren. Und obwohl sie<br />
weder eindeutig Mann oder Frau sind, sind<br />
sie da. Und sie erwarten zu Recht, dass<br />
man sie zunächst wahr- und anschließend<br />
mit ihren Problemen ernst nimmt. Früher<br />
hießen sie „Zwitter“ oder „Hermaphroditen“<br />
– beide Ausdrücke gelten mittlerweile<br />
nicht nur als überholt, sondern in der Szene<br />
als diskriminierend. – Wie es dazu kommt?<br />
„Intersexualität entsteht, weil die Natur<br />
eben gern experimentiert“, so Prof. Ursula<br />
Kuhnle-Krahl gegenüber dem Münchner<br />
Merkur. Schätzungen, was die Zahl angeht,<br />
sind schwierig. Die einen gehen davon<br />
aus, dass in Deutschland etwa 100.000<br />
Intersexuelle leben, andere deuten darauf<br />
hin, dass es sogar bis zu zwei Prozent der<br />
Bevölkerung betreffen könnte. Gründe für<br />
die statistische Unsicherheit gibt es einige.<br />
Intersexualität ist ein Oberbegriff, der<br />
sehr viele Erscheinungsformen umfasst.<br />
Zudem herrscht Uneinigkeit darüber,<br />
was denn bezüglich äußerer oder innerer<br />
Geschlechtsmerkmale „noch normal“ oder<br />
„schon anders“ ist. Nicht zuletzt: In einer<br />
Gesellschaft, die wenig über dieses Thema<br />
weiß und es gewohnt ist, Menschen in die<br />
Kategorien „Frau“ und „Mann“ einzuordnen,<br />
bleiben sie oftmals schlicht unsichtbar<br />
– auch zum eigenen Schutz.<br />
Viele Menschen, die zwischengeschlechtlich<br />
leben, haben schmerzhafte Erfahrungen<br />
gemacht. Noch heute werden Kinder,<br />
die bei der Geburt keinem Geschlecht<br />
eindeutig zugeordnet werden können, von<br />
Eltern und Ärzten operiert und „auf Linie<br />
gebracht“. In vielen Fällen stellt sich in der<br />
Pubertät heraus, dass sie dem falschen<br />
Geschlecht zugeordnet wurden. Interessenvertretungen<br />
formulieren mehrere<br />
Forderungen an Staat und Gesellschaft:<br />
keine operativen Eingriffe ohne Einwilligung<br />
der Betroffenen, voller Zugang zu Bürgerund<br />
Menschenrechten, Aufnahme von<br />
Intersexualität in Lehr- und Ausbildungsmaterialien,<br />
Entschädigung und Rehabilitation<br />
geschädigter Betroffener und vor allem das<br />
Recht auf ein höchstmögliches Maß an<br />
Gesundheit, Information und Hilfe. Das hat<br />
auch der Gesetzgeber erkannt und im Jahre<br />
2013 immerhin das Personenstandsgesetz<br />
dahingehend geändert, dass im Geburtenregister<br />
kein Geschlecht eingetragen<br />
werden muss.<br />
Die Inter*-Bewegung könnte hierzulande<br />
etwas Schwung vertragen. Dazu gehört<br />
zunächst, Betroffene zu mobilisieren. Dazu<br />
gehört aber auch, Verbündete zu finden,<br />
denn eine Lobby haben Intersexuelle<br />
derzeit nicht. Immerhin ist in der queeren<br />
Szene Unterstützung in Sicht. Zum zehnten<br />
Jubiläum der Münchner Trans*Tagung<br />
wurde Anfang Mai erstmals intersexuellen<br />
Personen und deren Themen ein großes<br />
Forum geboten, die Münchner CSD-Veranstalter<br />
haben in den letzten Jahren auf der<br />
großen Bühne Öffentlichkeit für Intersexuelle<br />
geschaffen und auch den Weg in den<br />
Bayerischen Landtag hat das Thema schon<br />
gefunden. Dort lud die Fraktion Bündnis 90/<br />
Die Grünen vor einem halben Jahr zu einem<br />
Hearing und stellte eine schriftliche Anfrage<br />
zum Thema Intersexualität in Bayern. Gute<br />
Ansätze, zweifellos. Dennoch: Wenn schon<br />
das „I“ mittlerweile ebenso gutwillig wie<br />
oftmals übereilt dem Kürzel LGBT* angehängt<br />
wird, dann muss das der Szene und<br />
der Politik als Verpflichtung gelten. Derzeit<br />
gibt es weder eine Selbsthilfegruppe noch<br />
eine offizielle Anlaufstelle, die meisten kennen<br />
gar keine Intersexuellen und wissen<br />
nicht viel über deren Bedarfe. Bis das „I“<br />
ein akzeptierter Bestandteil unserer Szene<br />
ist, wird wohl noch ein wenig Zeit ins Land<br />
gehen.<br />
Vielleicht wollen Intersexuelle aber auch gar<br />
nicht so fest von der LGBT*-Szene umarmt<br />
werden, wie sich das so manche in gutem<br />
Glauben wünschen? Wir wissen es nicht –<br />
noch nicht. Was wir aber wissen: Zuhören,<br />
kennenlernen und den anderen ernst<br />
nehmen – das hat noch immer Menschen<br />
zusammengebracht und den Grundstein<br />
zu einem erfolgreichen Miteinander gelegt.<br />
Denn machen wir uns nichts vor, gerade<br />
der schwule Mann ist häufig nicht sehr<br />
empfänglich oder gar sensibel gegenüber<br />
anderen Lebensstilen, ob sie lesbisch,<br />
trans* oder eben inter* sind. Nichtsdestotrotz:<br />
In München ist viel guter Wille, jetzt<br />
wird es Zeit, Taten folgen zu lassen. •bm<br />
www.intersexuelle-menschen.net,<br />
www.vimoe.at, www.im-ev.de