TSCHERNOBYL FOREVER / ALLEMAND
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Anna lebte in diesem Haus in der Leninstraße in Tschernobyl mit Anatoli, ihrem Ehemann, als<br />
der Reaktor explodiert ist.<br />
Sie erinnert sich an alles, sagt sie mir. An das blaue Licht in der Nacht. Und an die phosphoreszierende<br />
Farbflecken am Boden und auf den Bäumen früh am Morgen. An die Verwunderung. An die<br />
Stille. An die Besorgnis. Schließlich an die Angst. An die Heimatlosigkeit... Es war der Beginn eines<br />
lebenslangen Alptraums. Sie erinnere sich an alles, wiederholt sie. Als die Welt zusammenbrach.<br />
„ Karina, unser erstes Kind, ist 1988 geboren, zwei Jahre nach der Katastrophe. Sie ist normal,<br />
haben uns die Ärzte gesagt. Gott sei Dank. Einige Monate hat sich der Glaube daran gehalten.<br />
Aber leider sind die Dinge schnell komplizierter geworden. Zunächst ist Anatoli erkrankt. Seit seiner<br />
Rückkehr aus der Zone, wo er als Liquiditor gearbeitet hat, ging es ihm nicht sehr gut. Mit 28<br />
Jahren wirkte er wie 40. Man musste ihm ein Bein amputieren, obwohl er schon Schwierigkeiten<br />
gehabt hatte, mit beiden zu gehen...also können Sie es sich vorstellen! Dann ist er gestorben. Das<br />
war für alle eine Erleichterung. Vor allem für ihn. Was mich betrifft, so musste ich drei Mal operiert<br />
werden, einmal die Schilddrüse und dann die Lymphknoten. Das ist nichts sehr schlimm. Ich<br />
konnte mich um meine Tochter sorgen.“<br />
(...)<br />
Anna erinnert sich an ihre Irrwege durch die korrumpierten Arkanen der ukrainischen Verwaltung,<br />
des Wettlaufs um Verpflegung, um Medikamente. An ihre Irrungen durch die Stadt, wo die Anhaltspunkte<br />
nicht die selben sind, als am Land. An ihre zerstreute Familie nach der Evakuierung des<br />
Dorfes. An den Ausschluss durch die Bevölkerung, die sie behandeln, wie Pestkranke...“<br />
„ Karina ist im Sommer vor ihrem 8. Geburtstag erkrankt. Es war Leukämie. Sie lag 6 Jahre lang im<br />
Sterbebett. Ich habe alles gemacht, was ich konnte, um sie zu retten. Aber noch bevor ein Problem<br />
überwunden war, entstand schon das nächste und was man gelöst glaubte, begann aufs Neue.“<br />
(...)<br />
Anna fragt sich, wie sie noch am Leben zu sein vermag. Wie ihr Körper und Ihr Kopf das alles<br />
überwinden konnten? „Karina war es, die mir Kraft gegeben hat“... Von Spitälern hin zu medizinischen<br />
Anstalten hat sie dutzende kranke Kinder kennengelernt, oft Waisenkinder oder Ausgesetze,<br />
mit unbekannten Krankheiten, völlig unvorstellbar, unfassbar, ungeheuerlich... Also hat sie<br />
sich mehr und mehr um sie gekümmert. Sie hat mir gesagt, dass sie sie liebt, wie ihr eigenes. Und<br />
außerdem brauchen sie uns so sehr.