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ERSTAUNEN Sprung ins kalte Wasser TONALi an der Uni Witten/Herdecke Jule Baxmann Eine Gruppe junger TONALi-Musiker sitzt verteilt inmitten von Patienten des Herdecker Krankenhauses. Sehr alte und sehr junge Zuhörer sind gekommen – sogar ein Mann, der im Koma liegt, wurde auf einer Liege dazu geholt. In der Hoffnung, er möge etwas von der Musik mitbekommen, hat seine Frau ihn mit in das geräumige Krankenhaus-Café gebracht, wo gleich elf faszinierende Geigerinnen und ein Geiger auftreten werden. In freudig-gelassener Erwartung steht Ziling als erste auf und beginnt, eine malerische, zarte Sonate auf ihrer Geige zu spielen. Keine Worte im Anschluss, kein Klatschen. Der ganz besondere Moment nach dem Spiel bleibt erhalten. Die nächste Musikerin steht auf und spielt. Es entsteht eine sehr schöne, intime Atmosphäre, die das gesamte Konzert hindurch anhält und es überdauert. So wurden am Anfang des TONALi-Jahres alle diesjährigen Geiger gleich ein Teil des Geistes von TONALi: Sich mitten in der Gesellschaft sozial zu engagieren – insbesondere dort, wo Menschen der Zugang zu klassischer Musik erschwert wird. Dieser Abend ist ein wichtiger Teil des alljährlichen Workshops in an der privaten Uni Witten/Herdecke, bei dem sich alle 12 TONALi-Teilnehmer das erste Mal kennenlernen. Eine besondere Stimmung begleitete dieses sehr lange Wochenende, denn wir versammelten uns nicht als Ausrichter und Teilnehmer eines Wettbewerbes, sondern als Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel. Jeder bereitete einen simulierten Konzertauftritt vor und wurde anschließend von allen anderen beraten. Die Konzepte der 10-Minuten-Auftritte wurden im Vorhinein von uns thematisch beeinflusst: Die „12 Regeln zum erfolgreichen Widerstand“ von Harald Welzer begleiten TONALi schon lange. Dieses Jahr war jede einzelne davon bereits Wochen vor dem Workshop von je einem Teilnehmer ausgewählt worden. Nach langer Gedankenspielerei und freier Beschäftigung mit der individuellen Regel sollte das Simulationskonzert nun das Resultat der Überlegungen darstellen. Aber warum der Aufwand? Warum den Musikern nicht komplett freie Hand lassen? Um den Ansatz von TONALi zu verinnerlichen und weiterzutragen, ist es wichtig, alles, vom eigenen Denken über den Sinn hinter der Programmauswahl bis zur Stuhl-Anordnung im Konzert hinterfragen zu lernen und sich ehrliche Antworten geben zu können. Sich bewusst zu machen, was es eigentlich ist, dass das eigene Konzert rechtfertigt. Sich nicht zufrieden zu geben mit einem „Ja, passt schon“, sondern sich ernsthaft mit seinem Dasein, seiner Funktion und seinem Einfluss als Künstler auseinanderzusetzen und sich darüber im Klaren zu sein, welche besondere Verantwortung man als fähiger Musiker für die Entwicklung der Gesellschaft trägt. Genau deswegen wurden ihnen während des Workshops viele Fragen ans Herz gelegt, wie z.B.: „Warum ist nur künstlerisch exzellent, wer sich gesellschaftlich engagiert?“ und „Wie können künstlerische Werte zu gesellschaftlichen Werten werden?“, über die sich Zweierpaare jeweils lange unterhielten. So wurde die Kreativität der Musiker angeregt, und sie fingen an, eigeninitiativ Konzertideen auszugestalten. Sie setzten sich anhand der Fragen mit der aktuellen Situation im klassischen Konzertwesen und dem Kulturleben auseinander und kamen zu neuen, spannenden Erkenntnissen. Neben allen tiefgreifenden Überlegungen bestand aber auch ein wichtiger Teil unserer gemeinsamen Zeit daraus, sich ganz einfach kennenzulernen. Und so saßen wir noch an den Abenden beisammen, nach dem Filmgucken auf einem Kissenlager, im Anschluss an das Krankenhaus-Konzert beim gemeinsamen Essen und natürlich am letzten Abend, um in den Geburtstag von Maria hineinzufeiern, die während unserer Zeit in Witten siebzehn wurde. Ein größerer Schritt noch im Prozess des Kennenlernens war, dass wir am letzten Tag ausnahmslos alle in die Welt des 5RhythmsDance eintauchten. Der Tänzer Tom R. Schulz sprach hochinteressant darüber, wie wichtig es – insbesondere als Musiker – ist, auf seinen Körper zu hören und ein differenziertes Bewusstsein für ihn zu entwickeln. In diesem Sinne folgten wir Tom, ließen unseren Füßen, Knien, Hüften, Händen, Ellenbogen und dem Kopf freie Fahrt und tanzten eine sogenannte Wave, in der völlig losgelöst und doch ganz bewusst sich bewegt wurde. Während dieses mehrtägigen Workshops wurde aus Wettbewerbskonkurrenten eine Gemeinschaft. Alle Teilnehmer lernten sich nicht nur als Musiker, sondern vor allem als Menschen kennen. 81 JOURNAL TONALi 17