SEPTEMBER 2017 CHF 7.50 A PriL 2017 CHF 7.50 M a i 2017 CHF 7.50 GESCHICHTE <strong>Cruiser</strong> erscheint seit über 30 Jahren <strong>und</strong> ist bis heute die Zeitung der Schweizer Gay-Community. Geschichte verpflichtet: keine andere Zeitung kann eine derart starke Leserbindung aufweisen. Als einzige Gay-Publikation ist <strong>Cruiser</strong> WEMF Zwischenbeglaubigt <strong>und</strong> kann eine gestreute Aufl age von 12 000 Exemplaren nachweisen. Die Leserzahl der handlichen Tabloid-Zeitung wird auf 35 000 Leser geschätzt. Diese Reichweite wird durch das starke Online-Angebot auf www.cruisermagazin.ch mit tagesaktuellen Meldungen <strong>und</strong> Geschichten noch ergänzt. Unabhängig <strong>und</strong> meinungsbildend bietet <strong>Cruiser</strong> gut recherchierte <strong>und</strong> sorgfältig aufbereitete Artikel, ergänzt durch Kolumnen von etablierten Autorinnen <strong>und</strong> Autoren. <strong>Cruiser</strong> erscheint 10 Mal pro Jahr, im Sommer <strong>und</strong> Winter jeweils als Doppelnummer. <strong>Cruiser</strong> bietet Journalismus auf hohem Niveau <strong>und</strong> Artikel, die aufwühlen, ansprechen <strong>und</strong> zum Nach denken anregen. Deshalb schreiben für <strong>Cruiser</strong> unabhängige Top-Journalisten, die unbequem <strong>und</strong> kritisch sein wollen; Journalisten, die hinterfragen <strong>und</strong> die Beliebtheit nicht als Massstab nehmen. cruiser DAS GRÖSSTE SCHWEIZER GAY-MAGAZIN 1 cruiser DAS gRÖSSTE SCHWEiZER gAY-MAgAZin cruiser DAS GrÖSSTE SChWEizEr GAY-MAGAziN AiDS-HiLFe SCHweiz WiE AllES bEgAnn SCHWUL… UND KIND? Klar doch! der geknechtete Mann WENN MäNNLiChkEiT zur BürDE WirD DAVID HASSELHOFF LGBT*-FLÜCHTLINGE GENE SEI DANK Song ConteSt AngeLS-PArtyS Die beSten FiLme Martin Jascur urs Blaser Florian Burkhardt Warum er cool ist Keine Chance auf eine Zukunft Kommt jetzt die Superdiät? Wer mit wem am ESC (Fast) alles neu Pink Apple Festival Neues Verständnis für Mode Ein Leben fürs Theater Das Comeback C R U I S E R M E D I A D AT E N 2 017 / 2 018 2
26 FingerFertig Nihat kocht VON Nihat eine kulinarische Lieblingskombination: scharf <strong>und</strong> sauer. Auch die Peruaner teilen diese Vorliebe. So bin ich schon bei meinem ersten Mal der Ceviche-Versuchung erlegen. Ein leichtes Essen, das unterschiedlichste Geschmacksknospen anregt. Und wenn wir schon beim Anregen sind: Mit dem Limettensaft sollte nicht gespart werden. Der Saft, der die verschiedenen Essenzen der Zutaten in sich vereint, weckt den Tiger im Mann. Ja dann: Wohl bekomm’s. Und vor allem: Viel Spass. Zutaten 400 g Dorsch, geschnitten 1×1 cm ½ rote Zwiebel, fein geschnitten 125 ml Limettensaft C R U I S E R j U n I 2017 ½ Stange Sellerie, sehr fein geschnitten 5 g Ingwer, gepresst 1 Knoblauchzehe, gepresst 3 Stängelchen Koriander, zerzupft ½ scharfe Chilischote (aji limo oder havanero), fein gehackt Zubereitung Frischen Limettensaft pressen. Fischstücke <strong>und</strong> Zwiebeln in Limettensaft geben <strong>und</strong> immer wieder wenden. Knoblauch, Ingwer, Chilischote, Stangensellerie <strong>und</strong> Koriander dazugeben <strong>und</strong> Masse gut mischen. Mit Salz <strong>und</strong> Pfeffer abschmecken. Mindestens 15 Minuten ziehen lassen <strong>und</strong> innerhalb von 30 Minuten geniessen. Nihat organisiert seit gut vier Jahren Kochkurse für einen guten Zweck, u.a. für Schulkinder in der türkei. Und er ist als Störkoch oder als Caterer an privaten <strong>und</strong> geschäftlichen anlässen unterwegs. «Daneben» drückt er als angehender Gymnasiallehrer wieder die Schulbank. die nächsten Kochkurse Die nächsten Kochkurse werden bald auf www.fingerfertig.ch ausgeschrieben. www.fingerfertig.ch VON HAYMO EMPL ls Musikproduzent ist Frank Farian der einzige im deutschsprachigen Raum, welcher auch international in der ersten Reihe mitspielt. Mittlerweile ist er 75; er selbst war <strong>und</strong> ist alles andere als eine «Gay-Icon», seine Kompositionen sind es aber geworden <strong>und</strong> im Falle von seinen für Boney. M. sogar sehr. In den späten 1970er Jahren wäre es nämlich <strong>und</strong>enkbar gewesen, wenn nicht mindestens einmal in einem Schwulenclub irgendwas von Boney M. gespielt worden wäre. Oder in den 1980er Jahren was von Milli Vanilli – im T& M waren die beiden ein sicherer Garant für eine volle Tanzfläche. VoN YVoNNE BECK eine erste ESC Erinnerung ist das Bild von Nicole, wie sie mit ihrer weissen Gitarre auf einem Hocker sitzend «Ein bisschen Frieden» singt. Wochenlang lief nach ihrem Sieg das Lied im Radio, so dass wir es bald fröhlich mitträllern konnten. Den Inhalt des Liedes bzw. das in ihm versteckte politische Statement verstand ich damals noch nicht. Aber im Nachhinein macht es deutlich, dass der Eurovision Song Contest – der früher noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hiess – schon immer auch politisch war. 1982 war die Zeit des Wettrüstens, die Nato wollte Raketen mit Atomsprengköpfen in Westeuropa stationieren. Und Deutschland präsentierte sich mit dem Lied als pazifistisches Land, das sich vom Nationalsozialismus distanzierte. Seitdem hatten viele Lieder oder Auftritte eine politische oder soziale Botschaft. Bereits acht Jahre vor Nicole schickte Portugal Paulo de Carvallo mit einem Lied ins Rennen, das die Diktatur der Salazaristen kritisierte <strong>und</strong> später zum Symbol der Nelkenrevolution wurde. So ist der ESC viel mehr als eine blosse musikalische Veranstaltung, er ist ein Spiegelbild Europas <strong>und</strong> politischer Gradmesser. Europas Stimmungsbarometer Das offizielle Motto <strong>und</strong> Logo des diesjährigen ESC lautet: «Celebrate Diversity». Frei übersetzt «Feiert die Vielfalt». Und damit setzt die Ukraine als Veranstalterland ihren Anspruch an den ESC als europäischer Wertebotschafter weiter fort. Beim ESC 2017 sollen also die Länder Europas zusammenkommen, um ihre Gemeinsamkeiten sowie ihre einzigartigen Unterschiede zu feiern. Alles Weitere ist Interpretationssache, doch bereits die Claims der letzten Jahre gingen in eine ähnliche Richtung: «Come Together» (2016 in Stockholm) oder «Building Bridges» (2015 in Wien). Der ESC steht für ein tolerantes Miteinander <strong>und</strong> wer da aus der Reihe tanzt wird abgestraft. Genau so ist auch das letztjährige Ergebnis zu werten. 2016 hatte Russland keine Kosten <strong>und</strong> Mühen gescheut, um einen bombastischen Auftritt hinzulegen. Bereits im Vorfeld galt es als haushoher Favorit. Nie gab es beim eSC 2017 TRASH TRiFFT AuF PoliTik ESC eine teurere Bühnenshow. Dem russischen Teilnehmer Sergey Lazarev wuchsen auf den LED-Wänden Flügel, welche ihn jedoch nicht zum Sieg flogen. Als Siegerin ging nämlich, recht unerwartet, die Ukrainerin Jamala hervor. Und das mit dem politischen Lied «1944», welches vom Schicksal der Krimtataren im selben Jahr handelte. Ja, der ESC war schon immer ein Stimmungsbarometer über die Lage in Europa, sei es anhand der Punktevergabe (wer stimmt für wen), des endgültigen Siegers oder der Auswahl der Lieder. Aber so offensichtlich politisch wie im letzten Jahr ging es seit langem nicht mehr zu. Bunt, laut, schrill, schwul Jeder ESC hat seine Nonkonformisten <strong>und</strong> kreativen Freaks: Spassmacher wie Guildo Horn <strong>und</strong> Stefan Raab, schrille Typen wie Lordi, die Jedward Zwillinge <strong>und</strong> die serbische Sängerin Bojana Stamenov oder Paradiesvögel wie Conchita Wurst. Bereits 1998 sorgte die Teilnahme der transsexuellen Dana International für Furore. In ihrem Heimatland Israel kam es zu heftigem Widerstand <strong>und</strong> religiöse Kreise forderten, einen konservativeren Beitrag an den Wettbewerb zu entsenden. Aber sowohl Dana International als auch Conchita Wurst konnten für ihr Land den Sieg mit nach Hause nehmen <strong>und</strong> diese Erfolge bewirkten einiges. Vor Conchitas Sieg hatte Österreich ein eher konservatives, rechtspopulistisches, leicht verstaubtes Image. Seit dem Sieg zeigt sich vor allem Wien als weltoffene <strong>und</strong> tolerante Metropole. An r<strong>und</strong> 50 Standorten wurden Verkehrsampeln umgestaltet <strong>und</strong> zeigen anstatt einer männlichen Figur Pärchen, <strong>und</strong> zwar schwule, lesbische <strong>und</strong> gemischte. Der Wurst-Sieg war somit nicht nur ein musikalischer Erfolg, sondern ein Sieg für mehr Toleranz <strong>und</strong> ein Signal gegen die Diskriminierung Homosexueller. Und schon damals eine deutliche Botschaft in Richtung Putin. Die Beleidigungen <strong>und</strong> Anfeindungen, denen sie sich im Vorfeld des Song Contest aus homophoben Kreisen – gerade aus Russland, Weissrussland <strong>und</strong> Armenien – gegenübersah, dürften ihr letztlich sogar zum Sieg verholfen haben. Ihr Sieg wurde somit als Zeichen eines liberalen <strong>und</strong> freien Europas gewertet, ein Europa, in dem Toleranz <strong>und</strong> Menschenrechte oberste Priorität haben. In diesem Jahr wird Slavko Kalezić aus Montenegro den ESC ein bisschen bunter machen, denn die selbsternannte Drag-Queen <strong>und</strong> Kunst-Bestie liebt es, sich in engen Netzoberteilen, mit Engelsflügeln <strong>und</strong> High Heels auf der Bühne zu zeigen. Als echter Hin-➔ C R U I S E R A p R I l 2017 serie wAS mACHT EigEnTliCH … Alles begann in einem Kuhstall (karrieretechnisch, nicht geburtstechnisch). Mit einem Tonbandgerät <strong>und</strong> einem einzigen Mikrofon nahmen Frankie Boy (er selbst bezeichnet sich in Interviews auch heute noch gerne so) <strong>und</strong> seine Band «Die Schatten» 1963 ihre erste Schallplatte auf. «Es hat schrecklich geklungen, aber es war unsere erste Schallplatte, <strong>und</strong> da waren wir doch stolz drauf», erinnerte sich Frank Farian unlängst in einem Interview. Mittlerweile hat er gut 800 Millionen Tonträger verkauft: Farian ist der mit Abstand erfolgreichste deutsche Musikproduzent, <strong>und</strong> nicht nur der Mann hinter Boney M., Milli Vanilli. Als Franz Reuther wurde er in Kirn an der Nahe geboren. In Saarbrücken wuchs er auf, der Vater fiel im Jahr seiner Geburt in Russland. Die Mutter brachte mit einer Rente von 180 Mark drei Kinder über die R<strong>und</strong>en <strong>und</strong> sparte sich dennoch eine Gitarre für ihn vom M<strong>und</strong>e ab. Er lernte Koch, weil ihm die Mutter sagte, dann könne er sich jeden Tag sattessen. Seit er Teenies Mitte der 1970er Jahre mit seinem traurigen Hit «Rocky» zum Weinen brachte, trat er selbst kaum noch auf. Erst als Mann im Hintergr<strong>und</strong>, als Produzent, begann sein Mega-Erfolg. ➔ C R U I S E R j U n I 2017 13 27 10 kolumne MicHi RÜeGG VoN MICHI RüEGG ch werde häufig auf Sex angesprochen. Weil ich oft darüber geschrieben habe. Über Sex zu schreiben, ist seltsamerweise noch immer ein Tabu. Selbst unter uns Homos. Das ist umso erstaunlicher, als dass es unter uns an sich kein mehrheitsfähigeres Thema gibt als die Kopulation. Nun mag man einwerfen, Sex sei halt so etwas, das man lieber tue als darüber zu reden. Ich persönlich finde, man kann beides. Ich kann sowohl essen, als auch Kochbücher anschauen. Das eine schliesst das andere nicht aus. Mir ist allerdings aufgefallen, dass ich bei allem Sex praktisch nie über Liebe geschrieben habe. Vielleicht ist Liebe so etwas, das ich lieber selber erlebe als darüber zu schreiben. Vielleicht traue ich der Liebe auch nicht, weil sie mich häufiger im Stich gelassen hat als der Sex. In den ersten Jahren meines jüngeren Lebens habe ich die Liebe als eine erhöhte Form der sexuellen Anziehung erlebt. Letztere bildete die Basis, doch es war, wie wenn sie ein Romantik-Plugin in sich getragen hätte. Es war nicht nur die körperliche Anziehung, es war das Gesamtpaket. Das Wissen darum, dass man künftig nur noch in Gegenwart dieser einen Person vollkommenes Glück verspüren kann. Ein einzelnes Lächeln konnte Beton zum Schmelzen bringen. Nicht von ungefähr ist das Herz Sinnbild der Liebe. Tatsächlich merkte ich, wie der Motor meines Körpers in den Overdrive ging, wenn der Geliebte mich berührte. Natürlich habe ich nach einiger Zeit gemerkt, dass dieses Gefühl der Liebe eine Täuschung sein kann. Häufiger noch denn C R U I S E R M Ä R Z 2017 als Täuschung entpuppte sich die Liebe jedoch als Ent-Täuschung. In jungen Jahren bedient sich die Liebe einer Art Brandbombe. Sie entfacht immer wieder aufs neue blendende Feuer, die alles fressen, was sich ihnen in den Weg stellt. Mit den Jahren werden die Feuer weniger. Die Liebe wird zur Glut, die zwar nicht die faszinierende Kraft der Flammen hat, dafür aber für ihre Beständigkeit geschätzt wird. Vor einigen Jahren traf ich an meiner Arbeitsstelle einen Heteromann gleichen Alters. Wir hegten fre<strong>und</strong>schaftliche Gefühle für einander. Zumindest meinte er das. In Tat <strong>und</strong> Wahrheit war ich unglaublich verknallt in ihn. Wahrheit war ich unglaublich verknallt in ihn. Während Monaten träumte ich nachts von – nennen wir ihn – Robert. Diese Träume trugen übrigens alledas Label «FSK ab 18 Jahren». Nacht für Nacht hatte ich Sex mit Robert. So guten Sex, wie ich ihn in der Realität noch nie mit jemandem gehabt hatte. Einmal traf ich Robert im Traum auf dem Basketball-Court. Wir warfen ein paar Bälle, dann fielen wir über einander her. Mit einer Leidenschaft, die Glühbirnen zum Bersten gebracht hätte. Ich hatte bereits in HD geträumt, bevor die TV-Hersteller mit der Entwicklung so weit waren. Die Träume machten mich fertig, denn jeden Morgen traf ich an meiner Arbeitsstelle Robert, der fre<strong>und</strong>lich grüsste.Einmal, während eines Betriebsausflugs, teilten wir ein Hotelzimmer. Ich war wie üblich etwas betrunken, im Bett neben mir schlief – nur in Unterhose – Robert. Seit jener Nacht verstehe ich das erste Buch Moses. Robert war die verbotene Frucht, die vom Baume hing. Würde ich nach ihr greifen, wäre das Paradies für mich zu Ende. Ich hatte monatelang vermieden, die Frucht zu pflücken. Und dann, in jener Nacht, war da diese Schlange zwischen meinen Beinen. Sie sprach zu mir: «Nimm sie dir, die Frucht, du willst sie doch.» Vielleicht sagte die Schlange auch nichts <strong>und</strong> ragte bloss empor. Die Botschaft war dennoch deutlich. Ich widerstand der Versuchung, die Hand nach der Frucht auszustrecken. Stattdessen wollte ich die niederträchtige Schlange zum Schweigen bringen. Leider blieb mein Kampf mit der Schlange auch dem vermeintlich schlafenden Robert nicht verborgen. Er missdeutete mein Tun <strong>und</strong> hielt es für profane Onanie. Entsprechend war er wenig erfreut <strong>und</strong> schickte mich ins Bad. Als ich die Schlange soweit hatte <strong>und</strong> sie ihren Speichel herauswürgte, wusste ich, dass auch meine Fre<strong>und</strong>schaft mit Robert zu Ende war. Ich hatte die Schlange besiegt, doch gewonnen hatte sie trotzdem. Die verbotene Frucht verdarb kurz darauf am Ast. Seit jener Nacht begegne ich dem Gefühl der Liebe mit einer gewissen Skepsis. Mit den Schlangen hingegen habe ich mich wieder versöhnt. hartmann ist während seiner tournee durch die schweiz ganz sich selbst. ob das nun gut oder schlecht ist? Selten schafft es ein absolut «durch <strong>und</strong> durch» Hetero bei uns in den <strong>Cruiser</strong>. Letztes Mal war dies Mark Wahlberg. Hartmann hat – abgesehen von seinem Namen – für Gays wirklich nichts zu bieten. Und dennoch finden ihn (fast) alle «irgendwie toll» (Zitat <strong>Cruiser</strong>-Redaktion). <strong>Cruiser</strong> guckte sich also das Bühnenprogramm vom für Gays unerreichbaren Hetero an: «Nik Hartmann live». Der Name ist in diesem Fall tatsächlich Programm – der passionierte Wanderer steht in seiner Show auf der Bühne <strong>und</strong> erzählt. Geschichten vom Wandern, Anek- doten über andere Wandervögel, die ihn vom TV kennen (oder eben nicht), <strong>und</strong> Storys über seine Kindheit. Dies tut Nik Hartmann treffend <strong>und</strong> zielsicher, er schafft es mit wenigen Mitteln, eine Geschichte gross darzustellen, mit einem guten Gespür für VoN MARTIN MüHLHEIM oming-out-Filme gibt es mittlerweile viele, <strong>und</strong> entsprechend unterschiedlich kommen sie daher: leichtfüssigkomisch wie der britische Klassiker Beautiful Thing (1996), eher nachdenklich wie das brasilianische Kleinod Seashore (2015), bisweilen auch zutiefst tragisch – so im israelischen Drama Du sollst nicht lieben (2009), das in der ultraorthodoxen Gemeinde in Jerusalem spielt. Angesichts solcher Unterschiede erstaunt es umso mehr, mit welcher Regelmässigkeit uns Coming-out-Filme Jungs oder Männer zeigen, die – alleine, zu zweit oder in Gruppen – schwimmen gehen. Nun könnte man das natürlich als Zufall oder Nebensächlichkeit abtun. Bei genauerem Nachdenken zeigt sich allerdings, dass sich gleich mehrere Gründe für diese erstaunliche Häufigkeit finden lassen. Nackte Haut ohne allzu viel Sex Eine erste, nur scheinbar oberflächliche Erklärung ist, dass (halb)entblösste Körper sich nicht bloss auf der Leinwand, sondern auch auf Filmpostern <strong>und</strong> DVD-Covern äusserst gut machen. Schwimmszenen bieten ein perfektes Alibi für das Zeigen von nack- ter Haut: Sex sells, wie es so schön heisst. Warum «Alibi»? Weil man – gerade bei Filmen mit jungen Protagonisten – aufpassen muss: «Sex sells» mag zwar zutreffen, aber allzu explizite Sexszenen können schnell mal zu hohen Altersfreigaben führen. Dies wiederum möchten Filmemacher in der Regel vermeiden: Filme, die erst ab 18 ANZEIGE Wilhelm Nietzsche das Timing der Pointen. Und natürlich hatte beinahe jedes Erlebnis eine solche. Dennoch wird schnell klar, dass Hartmann kein Stand-up-Comedy-Programm im eigentlichen Sinne inszeniert, sondern eher einen humoristischen Vortrag mit grossem Unterhaltungspotenzial zum Besten gibt. Hartmann zeigt auf der Bühnen-Projektionswand Fotos von realen Personen, die er auf seinen Touren in den letzten zehn Jahren kennengelernt hat. Was nun genau Hartmanns Anspruch an sein Programm ist, wurde dem <strong>Cruiser</strong> an der Premiere nicht ganz klar, für das Hetero-Publikum war dies scheinbar auch irrelevant, denn letztendlich bot <strong>und</strong> bietet der Entertainer gute <strong>und</strong> solide Unterhaltung. Hartmann, die personifizierte Biederkeit, absolut skandalfrei <strong>und</strong> quasi amtlich freigegeben sind, lassen sich nämlich weniger einfach vermarkten. Auf Amazon.de zum Beispiel werden Filme mit Altersfreigabe 18 nur an nachweislich volljährige Personen verkauft – <strong>und</strong> gerade für Comingout-Filme, die sich auch an ein junges Publikum richten, ist dies sicher kein wünschenswerter Effekt. Schwimmszenen bieten hier eine perfekte Kompromisslösung: Man kann nackte Haut filmisch ansprechend inszenieren, dabei aber allzu heisse Techtelmechtel tugendhaft vermeiden (beispielsweise, indem der Wasserspiegel immer über der Gürtellinie bleibt, wie im niederländischen Film Jongens, 2014). Um das Rezept knapp zusammenzufassen: Man nehme eine grosszügige Portion feuchter Erotik, eine vorsichtige Prise Sex – <strong>und</strong> um Himmels Willen kein Körnchen Porno. Stampfenbachstr. 7, 8001 Zürich, Tel. 044 252 44 20, Fax 044 252 44 21 leonhards-apotheke@bluewin.ch, www.leonhards.apotheke.ch kultuR nik HARTMAnn Auf TouR beglaubigt massentauglich, schaffte es über die Jahre, dass die halbe Nation verfolgte, wie er <strong>und</strong> seine Entourage über Stock <strong>und</strong> Stein wanderte. Ergo gibt er sich auch in seinem Programm ohne Ecken <strong>und</strong> Kanten <strong>und</strong> politisch absolut korrekt. Und dennoch – oder gerade deshalb – liebt ihn das Publikum für seine Show. <strong>Cruiser</strong> findet, man kann sich das Programm durchaus mit der Schwiegermutti oder der besten Fre<strong>und</strong>in anschauen. Nik Hartmann gastiert mit seinem Programm in der ganzen Deutschschweiz. (Haymo Empl) Nika Hartmann live: Freitag 10. März 2017 20.00 Uhr, Winterthur, Casinotheater weitere Tourdaten auf: wwwnickhartmannlive.ch C R U I S E R M Ä R Z 2017 sliPPery SubjeCtS Eingetaucht ins Triebleben Man täte den lesBischwulen FilmemacherInnen aber unrecht, wenn man ihre erzählerischen Entscheidungen allein auf finanzielles Kalkül reduzieren wollte. Es gibt nämlich auch ästhetisch-symbolische Gründe, die Schwimmszenen für das Genre interessant machen. Da wäre zunächst die Funktion des Wassers als Symbol für das Unbewusste. Dieses Unbewusste, so weiss man spätestens seit Sigm<strong>und</strong> Freud, hat viel mit der Triebnatur des Menschen zu tun – <strong>und</strong> so erstaunt es nicht, dass Hauptfiguren auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität sozusagen symbolisch in die Tiefen des Unbewussten eintauchen müssen, um ihr gleichgeschlechtliches Begehren zu entdecken. Figuren in der Schwebe Darüber hinaus hat die Filmwissenschaftlerin Franziska Heller in ihrem Buch über die Filmästhetik des Fluiden (2010) gezeigt, dass schwimmende Figuren immer wieder als «schwebende Körper» inszeniert werden: oft in Zeitlupe <strong>und</strong> seltsam herausgelöst aus dem sonst zielstrebig voranschreitenden Erzählprozess. Dieser Schwebezustand wiederum ist eine w<strong>und</strong>erbare visuelle Metapher für die Phase kurz vor dem Coming-out: Man ist nicht mehr der oder die Alte, aber auch noch nicht ganz in der neuen Identität angekommen. Ein Film macht das Schweben sogar explizit zum Thema: In Kinder Gottes aus dem Jahr 2010 zeigt Romeo dem neurotisch-verklemmten Johnny, wie befreiend das «Floating» im Meer sein kann. Neben der Inszenierung von Schwebezuständen <strong>und</strong> dem Wasser als Symbol für das Unbewusste ist drittens das Motiv von ➔ 11 5 ZIELPUBLIKUM Für die geschätzte Zahl von 4,5 Millionen Homosexuellen im deutschsprachigen Europa gibt es nur wenige mediale Angebote, obschon diese Zielgruppe über einen überdurchschnittlichen Bildungsstand <strong>und</strong> entsprechend hohes Einkommen verfügt. <strong>Cruiser</strong> deckt das Bedürfnis nach seriös recherchierter Information breit, umfassend <strong>und</strong> kompetent ab. Die besonders sensibilisierte <strong>und</strong> kaufkräftige Zielgruppe weiss dies zu schätzen. Durch die gezielte Ansprache der entsprechenden Leserschaft entstehen keine Streuverluste. <strong>Cruiser</strong> wird dennoch weit über die schwullesbische Szene hinweg als wegweisend <strong>und</strong> von Entscheiderinnen <strong>und</strong> Machern als Impulsgeber wahrgenommen. 12 eSC 2017 TRASH TRiFFT AuF PoliTik THANK YoU FoR tHe mUSiC «Europa erlebt dunkle Zeiten. Heute Abend aber spielen alle Unterschiede, die es womöglich gibt, keine Rolle. Uns vereint die Musik.», mit diesen Worten begann der Eurovision Song Contest im letzten Jahre in Stockholm. Doch der ESC ist längst keine reine musikalische Abendveranstaltung mehr. «wir SinD niCHt zU StoPPen» (ConCHitA wUrSt 2014) M Der eSC SteHt Für ein toLerAnteS miteinAnDer UnD wer DA AUS Der reiHe tAnzt wirD AbgeStrAFt. ICH, DIE LIEBE unD Genesis I Michi Rüegg spricht erstmals über Gefühle. «ich wiDeRstanD DeR VeRsuchunG, Die hanD nach DeR FRucht ausZustRecken.» kultuR DEr HArtmAnn mAcHt Auf HArtEr mAnn 4 sliPPery SubjeCtS Der Saft, der scharF macht Die leche te tigre verleiht dem Latino seit jeher unbändige Kraft. eine art natürliches Viagra. anbei das rezept für den Mitteleuropäer, um auch davon zu schlürfen. IKONEN VON damals In unserer losen Serie stellen wir Ikonen aus vergangenen Dekaden vor, berichten über gefallene Helden <strong>und</strong> hoffnungsvolle Skandalsternchen aus längst vergangenen (Gay-)Tagen. Frank Farian fand nie jemand wirklich super, seine «Produkte» Boney M. <strong>und</strong> Milli Vanilli aber schon. WARUM KINo-CoMING-oUTS öFTERS baden GeHen Eine Untersuchung von über 160 Coming-out- Filmen bringt Erstaunliches zu Tage: In jedem dritten Film gibt es mindestens eine Szene, in deren Verlauf eine oder mehrere der Hauptfiguren schwimmen gehen. Warum eigentlich? C Filme, die ersT ab 18 FreiGeGeben sind, lassen sicH nämlicH WeniGer einFacH VermarKTen. M info A «Was geht mich meine Ges<strong>und</strong>heit an!» Wir sind die erste Adresse für diskrete Beratung in allen Ges<strong>und</strong>heitsfragen. Ihr Ges<strong>und</strong>heits-Coach. C R U I S E R M E D I A D AT E N 2 017 / 2 018 3