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atw 2017-09

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<strong>atw</strong> Vol. 62 (<strong>2017</strong>) | Issue 8/9 ı August/September<br />

EDITORIAL 504<br />

Strom: Mehr als Kilowatt und<br />

Kilowattstunden ...<br />

Liebe Leserin, lieber Leser, vor geraumer Zeit hielt ich mich in einer entlegenen Region im Süden Mittelamerikas<br />

auf. Aufgrund ihrer geografischen Lage war die Region hinsichtlich ihrer gesamten Infrastruktur autark vom ­übrigen Teil<br />

des Landes. Dies betraf auch die Stromversorgung. Das örtliche Kraftwerk umfasste zwei umgebaute Schiffs­diesel. Mit ihnen<br />

wurde sorgfältig und sparsam bzw. schonend umgegangen: Strom geliefert wurde nur nach Einbruch der Dunkelheit<br />

– für die Beleuchtung von Straßen und Gebäuden sowie die vielen Kühlschränke. Letztere mussten dann ­währende der<br />

Strom-Lieferzeit innerhalb von wenigen Stunden auf Temperaturen nahe des Gefrier­punktes kühlen, um für die Folgezeit,<br />

bis zum nächsten Strom-Fenster, ausreichend abgekühlt zu sein. Was an ­Kommunikationsgeräten genutzt wurde, war<br />

meist Batterie oder Akku versorgt, um 24 Stunden nutzbar zu sein. Strom war auch im Bewusstsein der ­Menschen dort ein<br />

wertvolles Gut.<br />

Anders stellt sich die Situation bei uns, in den infra­strukturell<br />

weit entwickelten Regionen dar. Eine gesicherte und damit<br />

quasi Rund-um-die-Uhr Versorgung und Verfügbarkeit mit<br />

Elektrizität ist eine Selbstverständlichkeit. Ein Stromausfall,<br />

sei er auch noch so kurz, wird daher als besonders störend<br />

empfunden, auch wenn von diesem noch kaum dramatische<br />

Folgen ausgehen. Wir sind hier sehr verwöhnt, nicht nur von<br />

einer guten Versorgung mit Strom, sondern auch von einer<br />

hohen Versorgungssicherheit beim Strom.<br />

Anders stellen sich inzwischen Realitäten und Wahrnehmung<br />

in andern Teilen der gut versorgten Welt dar: So<br />

in Süd-West-Australien, wo es seit Anfang 2016 größere<br />

Netzzusammenbrüche gibt. Nach ersten eingehenden<br />

Analysen liegen die Ursachen bei einem auf über 40 %<br />

­gestiegenen Anteil volatiler Einspeisung und gleichzeitiger<br />

Abschaltung und Stilllegung klassischer Erzeugungskapazitäten.<br />

Im Mai 2016 wurden dort die letzten beiden<br />

Kohlekraftwerke stillgelegt. Für <strong>2017</strong> und 2018 rechnen die<br />

Behörden mit 125 „Stromknappheits-Situationen“, vor<br />

­allem im jetzt anstehenden australischen Sommer. Handeln<br />

ist erforderlich, auch aktuell, und mit einem außergewöhnlichen<br />

Notfallplan sollen jetzt Gaskraftwerke gebaut<br />

werden, um Notfallkapazitäten bereit zu stellen. Das grundlegende<br />

Problem eines zu hohen Anteils volatiler Erzeugung<br />

und eines fehlenden ausgeglichenen Erzeugungsparks wird<br />

damit aber nicht behoben. Auch Taiwan spürte jetzt die<br />

­Folgen unzureichender verfügbarer Erzeugungskapazitäten.<br />

Infolge eines Ausfalls im größten Gaskraftwerk des<br />

Landes kam es zu einem großflächigen längeren Blackout,<br />

von dem fast 7 Millionen der 8,5 Millionen Haushalte des<br />

Landes betroffen waren. Für Analysten war dieser Blackout<br />

absehbar. Schon eine Woche früher wurde vor unzureichenden<br />

Erzeugungskapazitäten gewarnt. Vor allem der<br />

teilweise aus juristischen Gründen bestehende Stillstand<br />

von Kernkraftwerken hat mit zum Engpass beigetragen. Der<br />

Blackout in Taiwan stellt jetzt die grundsätzliche Stromversorgungsstrategie<br />

der amtierenden Regierung und ihres<br />

protegierenden Präsidenten infrage und damit den Ausstieg<br />

aus der Kernenergie, die Verringerung der Kohleverstromung<br />

bei gleichzeitiger Steigerung des Erdgasanteils<br />

und Zubau von Erneuerbaren.<br />

Beide Ereignisse zeigen zumindest eines: Bei allen<br />

­politi­schen oder von Interessengruppen getragenen Vor­stellungen,<br />

Zielen und Visionen gilt ... die Physik auch ­weiterhin.<br />

Denn denn bei der Stromversorgung gibt es keine natürlichen<br />

Speicher, Verbrauch und Angebot, also Stromerzeugung,<br />

müssen sich an jedem Knotenpunkt exakt die Waage<br />

halten. Dies ist eine Konsequenz aus den „Kirchhoffschen<br />

Regeln“, die im Jahr 1845 von Gustav Robert Kirchhoff<br />

­formuliert wurden. Diese Regeln oder Gesetze sind übrigens<br />

Ergebnis von Analysen der Physik des Stroms und lassen sich<br />

durch keinen noch so eloquent formulierten politischen<br />

„­Gesetzesbeschluss“ außer Kraft setzen oder verändern!<br />

In Konsequenz bedeutet dies, dass jegliche Art von<br />

Schwankung im Netz sofort ausgeglichen werden muss und<br />

dies natürlich ggf. auch für längere Perioden, wenn eine<br />

­volatile Erzeugungsform doch nicht wie geplant verfügbar<br />

ist. Kurzzeitige Puffer, und die Ereignisse in Australien<br />

­belegen dies, in den Stromnetzen sind bislang einzig die<br />

­rotierenden Massen der Turbinen und Generatoren der Kraftwerke,<br />

die selbstverständlich auch über längere Zeiträume<br />

Strom liefern können, um Engpässe auszu­gleichen. Hier hat<br />

in manchen Ländern ein weiterer ver­baler Paradigmenwechsel<br />

stattgefunden, denn, was bislang Grund­lage der<br />

sicheren Stromversorgung darstellte, wird mehr und mehr<br />

als „Lückenfüller“ tituliert. Doch bei einer schon nur oberflächlichen<br />

fachlichen Analyse zeigt sich, dass die konventionelle<br />

Stromerzeugung jetzt und weiterhin eine unverzichtbare<br />

Komponente einer versorgungssicheren Stromerzeugung<br />

ist. Denn die konventionelle Stromer­zeugung ist<br />

viel mehr als ein „Lückenfüller“. Sie leistet ­Regel-, Blind- und<br />

Kurzschlussleistung für die ­Frequenz- bzw. Spannungserhaltung.<br />

Sie liefert Redispatch für die ­Betriebsführung der<br />

Stromnetze. Sie ist Schwarzstart- und Inselnetzfähig und<br />

­Basis des Netzwiederaufbaus nach einem – großflächigen –<br />

Blackout. Und last, but not least ermög­licht die konventionelle<br />

Erzeugung mit ihren hohen Leistungsgradienten<br />

die Integration einer stark fluktuierenden erneuerbaren<br />

­Erzeugung. Vor allem deutsche und franzö­sische Anlagen<br />

­nehmen eine weltweite Vorreiterrolle ein und leisten einen<br />

erheblichen Beitrag zur Flexibilität in den Netzen mit einem<br />

fortgeschrittenen, sicheren und verlässlichen Lastwechselbetrieb<br />

in der konventionellen Erzeugung. Weltweit ist das<br />

Interesse an den Erfahrungen hoch und entsprechend<br />

den Anforderungen von Markt und Technik erfolgen die<br />

­technisch umsetzbaren Anpassungen der Anlagen.<br />

Die Umstrukturierung der Stromversorgung plakativ<br />

und lauthals mit immer neuen Erfolgszahlen – ausgedrückt<br />

in Kilowatt oder Kilowattstunden – zu charakterisieren ist<br />

die eine Seite der Medaille. Die Gewährleistung einer<br />

sicheren und versorgungssicheren Stromversorgung die<br />

­andere. Und hier sind die komplexen und immer sichtbarer<br />

werdenden Herausforderungen der Netzstabilität auf allen<br />

Spannungs- und Versorgungsebenen offensichtlich deutlich<br />

unterschätzt worden und – warum auch immer – noch bei<br />

Weitem nicht in ausreichendem Umfang wissenschaftlich-­<br />

technisch untersucht worden. Die Realität überholt dabei<br />

inzwischen mancherorts die Visionen.<br />

Christopher Weßelmann<br />

– Chefredakteur –<br />

Editorial<br />

Power: More than Kilowatt and Kilowatt-hours ...

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