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Vertrauen

Credit Suisse bulletin, 2000/04

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VERTRAUEN<br />

Fotos: Pia Zanetti<br />

sollen›. Ich will Schuldgefühle wegnehmen.<br />

Die Menschen suchen Verständnis bei mir<br />

und bekommen es auch, selbst wenn ich es<br />

manchmal nicht habe, aber das darf der Ratsuchende<br />

natürlich nicht merken. Ich werte<br />

nicht, ich ergreife nicht Partei, ich gebe keine<br />

absoluten Antworten. Ich sage nicht<br />

‹du musst›, sondern ‹ich sehe es so und so›<br />

oder ‹ich würde in eine Beratung gehen›.<br />

Wie sag ichs meinem Kinde ? Der Ton,<br />

in dem ich etwas sage, ist mindestens so<br />

wichtig wie der Inhalt. Wenn ich meine Kolumne<br />

schrieb, wenn ich auf eine Zuschrift<br />

antwortete, wenn ich am Telefon war mit<br />

Ratsuchenden: Immer versuchte ich, etwas<br />

so zu formulieren, dass die Leute die Antwort<br />

annehmen konnten. Das konnte ich<br />

von Anfang an intuitiv. Manchmal dachte<br />

ich dann, hoppla, früher bin ich auch<br />

schön dreingefahren. Auch meine Kinder<br />

bestätigen mir, dass ich eigentlich ziemlich<br />

autoritär war, ich hätte immer gewusst, was<br />

schwarz und was weiss sei.<br />

Bei meiner Arbeit habe ich mindestens<br />

so viel gelernt wie die Ratsuchenden.<br />

Menschlich, und ich habe gelernt, mich<br />

und meine Tätigkeit zu überdenken. Wirklich,<br />

meine Arbeit als ‹liebe Marta› war der<br />

grösste Glücksfall in meinem Leben. Ich<br />

hätte nie gedacht, dass ich das dem ‹Blick›<br />

zu verdanken hätte.»<br />

Meili Dschen<br />

Doris Erbacher, Hebamme: «Ich stehe neben der<br />

Gebärenden und sage: ‹Du schaffst es›.»<br />

Doris<br />

Erbacher, Hebamme. In<br />

aussergewöhnlichen Momenten<br />

leisten Menschen Aussergewöhnliches.<br />

Hebamme Doris Erbacher weiss<br />

dazu einiges zu erzählen.<br />

«Vor der ersten Geburt hat eine Frau<br />

Angst, weil sie nicht weiss, was auf sie zukommt.<br />

Vor der zweiten hat sie Angst, weil<br />

sie es weiss. Bei der Geburt ist sie den<br />

Schmerzen und den Anstrengungen völlig<br />

ausgeliefert. Dann braucht sie eine Person,<br />

der sie absolut vertrauen kann, die sie<br />

körperlich und seelisch unterstützt. Das<br />

bin ich, die Hebamme. Ich stehe neben<br />

der Gebärenden, mache ihr Mut, helfe<br />

beim Atmen, sage ‹du schaffst es›.<br />

Die Psyche spielt eine unglaubliche<br />

Rolle. Ich erinnere mich an eine Frau, bei<br />

der die Geburt harzig verlief. An dem Tag<br />

hatte ich frei, sie fragte nach mir. Als man<br />

ihr sagte, die Doris komme gleich, da ging<br />

es mit der Geburt wie der Blitz. Als ich eintraf,<br />

war das Kind schon da.<br />

Besonders viel Hilfe braucht die Gebärende<br />

gegen den Schluss. Jede Frau<br />

sagt irgendwann einmal ‹jetzt kann ich<br />

nicht mehr›. Dann weiss ich, dass sie kurz<br />

vor dem Ziel ist. So teile ich es ihr aber<br />

nicht mit, denn eine Stunde ist für sie eine<br />

Ewigkeit. Nein, ich sage ‹jetzt braucht es<br />

nur noch zwei Handvoll Wehen›, und bis<br />

sie ausgerechnet hat, wie viele das sind,<br />

ist es schon fast vorüber. Auch nach der<br />

Geburt bleibe ich bei der Mutter. Ich höre<br />

ihr einfach zu, berate sie beim Stillen und<br />

beantworte all die Fragen, die jetzt auftauchen.<br />

Wenn das Kleine schreit und die<br />

Mutter unsicher ist, gebe ich ihr Selbstvertrauen,<br />

sage ihr, dass sie es richtig<br />

macht. Vielleicht nehme ich ihr auch einmal<br />

das Kleine ab, denn die Mutter<br />

hat jetzt keine einfache Zeit – Hormone<br />

und die Psyche machen ihr zu schaffen.<br />

Was zeichnet eine Hebamme aus ?<br />

Sicher die Geduld. Das Durchsetzungsvermögen.<br />

Die Intuition. Sie kann nicht<br />

alles wissen, sie muss auch ihrem Gefühl<br />

vertrauen. Vor allem aber hat sie Engagement.<br />

Wir sind immer für die Gebärenden<br />

da. Wir leben die ganze Geburt<br />

mit. Deshalb haben unsere Hebammen<br />

hier im Storchenäscht keinen ‹nine-tofive›-Job.<br />

Vor 17 Jahren gründete ich das Geburtshaus<br />

Storchenäscht in Lenzburg, weil<br />

mich am Spitalbetrieb störte, dass die<br />

Frauen keine konstante Betreuung haben.<br />

Bei uns gibt es keinen Schichtwechsel,<br />

da sagt keine Hebamme mitten in der<br />

Geburt ‹adieu, machen Sies gut, jetzt<br />

kommt meine Ablösung›. Eine Frau soll<br />

frei von Zeitdruck gebären können, mit der<br />

Familie an der Seite. Die Geburt ist das<br />

nachhaltigste, das wichtigste Erlebnis im<br />

Leben einer Frau. Dass sie sie in einer<br />

ruhigen, sicheren Atmosphäre erfahren<br />

kann, ist man ihr schuldig.<br />

3500 Kinder sind inzwischen im Storchenäscht<br />

auf die Welt gekommen. Viele<br />

Frauen kommen immer wieder, um hier zu<br />

gebären. Eine Wöchnerin ist sogar aus<br />

Dänemark angereist, weil sie ihre drei ersten<br />

Kinder hier geboren hat. Wenn eine<br />

Hebamme richtig arbeitet, wird die Frau<br />

sie nie vergessen. Wenn sie schlecht<br />

arbeitet, auch nicht, aber so etwas möchte<br />

ich nicht erleben. Es gibt nichts Kostbareres,<br />

als wenn eine Frau mit mir<br />

gebären möchte. Das <strong>Vertrauen</strong>, das ist<br />

das Schönste.»<br />

Meili Dschen<br />

21<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |00

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