Die wilden Berge der Ardèche (Auszug, Blick ins Buch)
Reise- und Wanderführer rund um das Massif du Tanargue in den Cevennen
Reise- und Wanderführer rund um das Massif du Tanargue in den Cevennen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Das Leben in den <strong>Berge</strong>n <strong>der</strong> <strong>Ardèche</strong> vor fast<br />
100 Jahren, Germain Derocles aus Valousset<br />
G<br />
ermain Derocles ( 1992) hat in den<br />
„<br />
1970er Jahren im Alter von 65 Jahren<br />
<strong>der</strong> Tochter seiner Nachbarn vom Dorf -<br />
leben in Valousset erzählt. <strong>Die</strong>se hat seine Er -<br />
zählung für die Schule aufgeschrieben:<br />
Oh, <strong>der</strong> Berg hat sich völlig verän<strong>der</strong>t.<br />
Als wir jung waren, war das Dorf noch<br />
nicht so tot wie jetzt. <strong>Die</strong> Holzschuhe klapperten<br />
auf dem Kopfsteinpflaster und hallten von<br />
den hölzernen Fußböden; man hörte überall<br />
die Stimmen von Menschen und von Tieren, ja<br />
wirklich, das Dorf lebte noch... Jetzt gibt es<br />
nur noch 17 Menschen, wo es doch früher un -<br />
gefähr hun<strong>der</strong>t wa -<br />
ren. Je<strong>der</strong> lebte von<br />
den Produkten seines<br />
Landes und diejenigen,<br />
die kein<br />
Land hatten, waren<br />
sehr arm und lebten<br />
als arme Schlucker.<br />
Sie arbeiteten für<br />
an<strong>der</strong>e und wenn<br />
sie dazu nicht mehr<br />
in <strong>der</strong> Lage waren,<br />
lebten sie von <strong>der</strong><br />
Barmherzigkeit<br />
an<strong>der</strong>er – falls sie<br />
keine Kin<strong>der</strong> hatten,<br />
die sich um sie<br />
kümmerten.<br />
Wir haben Familien<br />
gekannt, höher in<br />
den <strong>Berge</strong>n, die so<br />
arm waren, dass sie<br />
nicht einmal Betten<br />
hatten, um darin zu<br />
schlafen. Sie schliefen<br />
auf Gras o<strong>der</strong><br />
auf Farnstreu. Das war wirklich elende Armut.<br />
Zum Glück hatten die meisten Menschen<br />
irgendetwas, wovon sie karg, aber anständig<br />
leben konnten.<br />
Der Berg war in dieser Zeit noch gut versorgt;<br />
man muss sich vorstellen, dass je<strong>der</strong> Grashalm<br />
seinen Platz hatte; kein einziger Brom beer -<br />
strauch hatte Zeit o<strong>der</strong> Platz zu wachsen. Auf<br />
den Hügeln des Bergs waren Äcker angelegt,<br />
Terrassen (Faïsses), die durch Steinmauern ge -<br />
44<br />
<strong>Blick</strong> von Valousset auf den<br />
Cham du Cros, am Hang die<br />
heute verwil<strong>der</strong>ten<br />
Esskastanienplantagen.<br />
stützt wurden – Steine, die unsere Vorfahren<br />
aus den großen Felsen zu brechen wussten. Sie<br />
bauten wahre Meisterwerke, völlig ohne Ze -<br />
ment. Jede Terrasse wurde mit <strong>der</strong> nächsten<br />
durch kleine Treppen von höchstens 30 o<strong>der</strong><br />
40 Zentimetern Breite – um Platz zu sparen –<br />
verbunden. Zu dicke Menschen mussten sie<br />
seit lich herauf- o<strong>der</strong> heruntergehen, aber zu<br />
dicke Menschen gab es zu dieser Zeit auch<br />
nicht viele.<br />
Jedes Stückchen Boden hatte seine Be stim -<br />
mung, nichts lag brach, wenn es nicht zwing -<br />
ende Gründe dafür gab. Je<strong>der</strong> Baum wurde<br />
auf eine Stelle gepflanzt, über die man lange<br />
nachgedacht hatte:<br />
mit Vorliebe an den<br />
Rand <strong>der</strong> Faïsses,<br />
um den Ackerbau<br />
nicht zu behin<strong>der</strong>n.<br />
Dass das Pflüc ken<br />
<strong>der</strong> Früchte da -<br />
durch nicht einfacher<br />
wurde, nahm<br />
man in Kauf.<br />
In den Fel<strong>der</strong>n war<br />
damals kein G<strong>ins</strong>ter<br />
und kein Farn zu<br />
sehen, während er<br />
heute alles erstickt<br />
und die Wege überwuchert,<br />
so dass<br />
man ohne Baum -<br />
messer gar nicht<br />
mehr durchkommt.<br />
Früher holte man<br />
diese Pflanzen hoch<br />
oben von den Berg weiden und musste sogar<br />
dafür bezahlen. Aus Farn wurden Ma tratzen<br />
gemacht, G<strong>ins</strong>ter brauchte man, um Feuer<br />
anzumachen, Licht zu geben o<strong>der</strong> Besen herzustellen.<br />
Bei uns zu Hause steckte meine<br />
Mutter einen G<strong>ins</strong>terzweig an, wenn sie des<br />
Abends die Suppe auftrug. Wir mussten un -<br />
sere vollen Teller leer essen, bevor <strong>der</strong> G<strong>ins</strong>ter -<br />
zweig heruntergebrannt war – ansonsten<br />
musste man alleine im Dunkeln beim Schein<br />
des Feuers weiteressen o<strong>der</strong> aber den Rest <strong>der</strong><br />
Suppe bis zum folgenden Morgen stehenlassen.<br />
Das heißt Sparen! G<strong>ins</strong>ter war für die<br />
Beleuchtung nicht zu teuer, Öl aber wohl!