E_1929_Zeitung_Nr.057
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2*<br />
AUTOMOBIL-REVUE<br />
Vierwaldstätter - See<br />
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Wer möchte es vermuten, dass rechts droben im<br />
Weiler Acclotta ein weltberühmtes Madonnenbild<br />
ein prächtiges Kirchlein schmückt? Wer, dass links<br />
drüben in der alten, einsamen Agathakirche an den.<br />
fünfhundertjährigen Mauern wunderbar zarte go-<br />
Malereien zum Sinnen und Staunen zwinderholtem<br />
Befahren «gefunden» und ge-tischschätzt<br />
werden. Je öfter man sie einschlägt,<br />
desto grösser ist die Fülle landschaftlicher<br />
Reize, welche ihrer Gegend abgewonnen<br />
werden. Zu ihnen zählt auch die Fahrt an<br />
die herrlichen Gestade des Vierwaldstättersees.<br />
, ,<br />
Von Zürich als Ausgangspunkt durch das<br />
Sihltal nach Baar und Zug führt die meistbegangene<br />
Automobilstrasse. Schon nach<br />
einer guten Stunde schwelgen Herz und<br />
Sinne an den unvergleichlich schönen Ufern<br />
des Zugersees. Im Nu ist die kleine Steigung<br />
über das Höhenplateau von Arth-Goldau<br />
überwunden und hinab geht's dem stillen<br />
Lowerzer Seelein entlang nach Schwyz und<br />
Brunnen. Hier ruht der Blick auf den gegenüberliegenden<br />
blumigen Hängen, der eigentlichen<br />
Wiege der Eidgenossenschaft. Im Hintergrunde<br />
ragt der Urirotstock als gewaltiger<br />
Fels- und Eiskegel über die andern Höhenzüge<br />
hinaus.<br />
Die Fahrt dem rechten Ufer des Vierwaldstättersees<br />
entlang darf nie im Eiltempo genommen<br />
werden. Die Fülle landschaftlicher<br />
Reize ist zu gross, als dass sie vom Auge nur<br />
so im Fluge bewältigt werden könnte. Der<br />
Ruf der Fremdenplätze Gersau, Vitznau und<br />
Lützelau am Fusse der imposanten Rigi-<br />
Flühe, welche nach Brunnen passiert werden,<br />
geht weit über die Grenzen unserer<br />
Gaue hinaus. Die Landzunge von Hertenstein<br />
wird zwischen Weggis und Greppen<br />
durchschnitten und schon nähert sich der<br />
Wagen Küssnacht. Von hier geht es in geruhsamem<br />
Tempo den .buntbelebten Quais<br />
von Luzern entgegen.<br />
Zur Rückfahrt wird am vorteilhaftesten die<br />
bedeutend kürzere und abwechslungsreiche<br />
Strecke über Bbikon nach Rothkreuz gewählt.<br />
Wem das Glück beschieden ist, Cham<br />
und Zug an einem klaren Sommerabend zu<br />
durchfahren, wird gebannt vom Reiz der Beleuchtung,<br />
der sich mit der vorschreitenden<br />
Stunde erhöht. In Zug verlässt man den<br />
See mit noch einmal zurückgewandtem Blick<br />
und steuert mit einer FüHe von frischen Eindrücken<br />
wieder dem Sihltal und Zürich zu,<br />
während die Dämmerung immer tiefere<br />
Schattentöne annimmt.<br />
Wer empfänglich ist für reiche Abwechslung<br />
des Landschaftsbildes und Sinn hat für<br />
neue Stimmungen, wird die Route zur Wiege<br />
der Eidgenossenschaft immer wieder mit<br />
neuer Begeisterung einschlagen. -ry.<br />
Isabella Kaiser, die heimgegangene Dichtcnn,<br />
hat zweimal einige Sommerwochen, an herzlicher<br />
Gastfreundschaft sich erholend, in Disentis zugebracht.<br />
Nur die dunklen, glänzenden Augen, nicht<br />
dio müden WandeTfüsse, konnte sie zu den Bergen<br />
erheben. Vom Hügel, wo ein Kirchlein steht, vom<br />
Feldpfad, auf dem die Wandererin immer wieder<br />
neue Landschaftsbilder schaute und anstaunte,<br />
lernte sie das Land am jungen Rhein kennen und<br />
lieben.<br />
Bücher und Büchlein, Zeitschriften und <strong>Zeitung</strong>en<br />
in Menge haben dio Landschaft am jungen<br />
Rhein nach allen Richtungen hin behandelt.<br />
Ein schmuckes Heftchen vom verstorbenen P.<br />
Dr. Karl Hager mll ein «Führer für Disentis und<br />
Umgebung> sein; Dr. Hardegger und P. Notker<br />
Curti geben Aufschluss über die cKunstschätzc<br />
von Disentis»; der geniale Disentiser Conventuale<br />
Placidus a Spescha hat vor einem Jahrhundert die<br />
Gebixgswelt, Land und Leute, Geschichte und Sprache<br />
erforscht und in seinen vielen Schriften geschildert.<br />
Doch -wozu diese wenigen Namen, wenn man<br />
hundert andere anführen sollte und wollte?<br />
Wo vor nicht so vielen Jahren Isabella Kaiser<br />
bald sass. bald dahin, dorthin einige Schritte tat,<br />
um sich das ihr eo liebgewordene «obere Graubiindner<br />
Oberland» anzuschauen, dort will ich alle<br />
Namen vergessen, nur das Land mir besehen.<br />
Zwar kenn' ich es seit einem halben Jahrhundert,<br />
aber es ist immer schön!<br />
Schön ist's im Mai, hellgrün auf Wiesen und<br />
Weiden, dunkelgrün durch die rauschenden Bündnertannen.<br />
Anfangs Juni wird's noch schöner! Diese Hochlandsblumen,<br />
fast auf jedem Steine eine, o wie<br />
farbenkräftig, dass des Niederländers Rubens'<br />
Farben vor ihnen verblassen!<br />
Ich sitze also im Tannenpark und blicke gegen<br />
Abend. Hinauf bis zum majestätischen, dunkelmajestätischen<br />
Badus — das rätoromanische Volk<br />
nennt ihn Six-Madun. Dort hat der Rhein seine<br />
feLsenharte WKege, zu der so viele, viele ohne<br />
Mühe hinaufsteigen.<br />
Dort drüben fliessen der Vorderrhein und Mittelrhein<br />
zusammen, wir haben schon hier ein Coblenz<br />
oder wie der Rötoromane den von Felsen und<br />
Tannen umrahmten und mit einem Seelein geschmückten<br />
Ort nennt: Cuflons! Dort führt eine<br />
Bergstrasse südwärts, durch die Lukmanierschlucht.<br />
Noch wird der Römerweg gezeigt; noch sind der<br />
Kaiserstrasse Spuren sichtbar, wo Otto der Grosse<br />
und Barbarossa zogen; noch wird ein Stein gezeigt,<br />
wo der hl. Cardinal von Mailand, Carl Borromeus,<br />
als Pilger rastete.<br />
Welche Geheimnisse so ein Alpental beigen<br />
kann! Geheimniese der Natur, aber auch der Menschengeschichte!<br />
N'ach Westen! Die Oberalp-Furka-Bergbahn windet<br />
sich doithin, an Weilern vorbei, von wo, wie<br />
weisse Tauben, die schmucken Kirchlem zutal<br />
schauen.<br />
gen?<br />
Doch wozu in dio Ferne schweifen? Der Dichterin<br />
Lsabolla Augen ruhten am liebsten auf dem<br />
Dorfe Disentis, wenn sie im tannenumrauschtcni<br />
Park des Disentiserhofes, wo sio jeweilen wohnte,<br />
ruhte und dies und jenes aus der alten Geschichte<br />
erfahren wollte. Da ist freilich vieles zu erzählen.<br />
Schon dio majestätischen Mauern der Abtei, dia<br />
über dem Dorfe und über mehr als dreizehn Jahrhunderten<br />
thront, haben viel zu berichten. Der<br />
erste, wirklich gute Fremde, der fernher nach dieser<br />
Gegend pilgerte, der irische oder schottische<br />
Mönch Sigisbert oder Sitgbert, ums Jahr 614, muss<br />
dio Landschaft auch «schön und lieb» gefunden<br />
haben. Er gründet, kurz entschlossen, Kloster und<br />
Dorf! Diese grosse Tat hat der edlo französische<br />
Graf Montalembert mit den Worten verewigt:<br />
«So ward an seiner Quelle erobert und gesegnet<br />
jener Rhoinstrom, dessen Wasser nach und nach<br />
die Mauern so vieler berühmter Heiligtümer bespülten»<br />
Aber die Fremden kommen nach Disentis, nicht<br />
um im vergitterten Archiv oder im Halbdunkel der<br />
Klosterbüchcroi sich in die Klostergeschichte zu<br />
stürzen. Nein, sie wollen Luft und Landschaft<br />
gemessen! Oder vielleicht doch in ein Museum hineinzuschauen?<br />
Wenn ja. dann finden sie ein solches,<br />
für alle zugänglich, in der Abtei.<br />
Die nun in ihrer Vollendung dastehende Abteikirche!<br />
Sie gilt als eine der schönsten Kirchen des<br />
ganzen Schweizerlandes. Von der Grundsteinlegung<br />
durch Abt Adalbert II, de Medell i. J. 1683 bis<br />
zum geringsten Pinselstrich des Kunstmalers Fritz<br />
Kunz in unseren Tagen haben Gotik. Frührenaissance,<br />
Barock, Klassizismus einen Tempel geschaffen,<br />
an dem besonders Wanderer aus deutschem<br />
Gauen sich erfreuen müssen. Am Gewölbe kann<br />
jeder an den herrlichen Fresken die Geschichte des<br />
Klosters ablesen, die auch nicht zum geringsten;<br />
Teil die Geschichte des Landes ist. Dann kann es<br />
in der neuen Wallfahrtskirche, die wie eine Mutter<br />
altehrwürdige Erbstücke aus alter Zeit schützt,<br />
seine Hand an die Mauern dreier uralten Absiden,<br />
legen und die, wie ein herrliches Zelt, durch Meister<br />
Hardegger erbaute Wallfahrtskirche bewundern.<br />
Die Benediktiner sorgen überall, dass der Gottesdienst<br />
Tag für Tag durch die Choralmelodien:<br />
das Menschenherz erfreut. Und erst wenn die<br />
Schar der Scholaren mitsingt! Etwa am Hauptfest,<br />
am 11. Juli, wo eino gewaltige Volksmenge<br />
den grossen Tempel füllt und wo dann der weit»<br />
Weg für den feierlichen Flurgang fast zu kurz ist.<br />
Viele behaupten, es gebe weit und breit kein so<br />
eigenartiges, kein so buntes, kein so frohes undl<br />
doch so feierliches Volksfest. Bei diesem Festzug<br />
wird rätoromanisch gebetet.<br />
Zu Ehren der beiden Sogensbringrer Plazidu»<br />
und Sigisbert hat die raetoromanischo Muse, in unserem<br />
Falle eine wirklich liederreiche Enkelin<br />
Gottes, ein Loblied von «nur» 60 Stroplica gesungen.<br />
Die ersten Strophen lauten:<br />
Igl ei in liug da vcgl enneu<br />
Enten la Ligia sura,<br />
Muster u Disentis numnau.<br />
Che stat aunc questa ura.<br />
To legra pia, o Disentis,<br />
Per in ton niebel seazi:<br />
H quäl tei moina sin Parvis,<br />
Soing Sigisbert, soing Placi.<br />
Seit alten Zeilen steht ein Ort<br />
Im oborn Bund der Grauen,<br />
Heisst Disentis, ist immerfort<br />
In Blüte noch zu schauen.<br />
Drum freue dich, o Discnlis,<br />
Ein Kleinod ist dein eigen;<br />
Dir wird den Weg zum Paradies<br />
Sigbort und Placi zeigen.<br />
Aber nun rasten wir unter den schattigen Tannen<br />
im Park um den «Disentiserhof» und trinken<br />
vom Radiumwasser. Droben im Tal sogn Placi wird<br />
dio Quelle gefasst und horabgeloitet. Die Disentiser<br />
Radiumqnello ist die weitaus stärkste im Schweizergebiet<br />
und nimmt unter allen weltbekannten<br />
Quellen dieser seltenen Art den vierten Rang eitu<br />
Hier stand einst das Schloss der von Gastelberg,<br />
auf einem herrlichen Punkt; ostwärts schweifen<br />
die Augen durchs Rheintal abwärts bis zu<br />
den Bergen, die in zartem Dunst im Rücken der<br />
alten Römerstadt Curia 'Raetorum und der jetzigen<br />
Landeshaupt- und Bischofsstadt stehen. Von Ilanz<br />
herauf zog zur Zeit der Glaubenskämpfe ein Castelberg<br />
und baute 1571 das Schloss, das aber,<br />
durch Alter, Brand und eine neue Zeit bewogen,<br />
dem Disentiserhof Platz gemacht hat.<br />
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Prospekte. Trinkkuren. F. Kottmann.