E_1936_Zeitung_Nr.053
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Der Menschenschlag<br />
im Urner fteussial<br />
Wer die Innerschweiz durchwandert, der<br />
wird, so er das Urner Reusstal betritt, ob<br />
dem freien und trotz konservativer Einstellung<br />
geistig beweglichen Menschenschlag erstaunt<br />
sein. Die Urner sind Gebirgsleute, die<br />
alle harten Forderungen der wilden Hochgebirgsnatur<br />
erleben und erleiden, aber auch<br />
siegreich ertragen, und daneben nicht an<br />
weltmännischer Gewandtheit Mangel leiden.<br />
Dieser Charakterzug ist angeboren und fusst<br />
auf der geschichtlichen Entwicklung des<br />
[Volkes. Nur ein Volk, das heimatstark veriwurzelt<br />
ist, kann auch gegen aussen stark<br />
tond selbständig auftreten und in allem Sicheinpassen<br />
in neue Umweltsforderungen heimattreu<br />
bleiben.<br />
Jahrhundertelang war Uri wirtschaftlich<br />
and politisch ein abgeschlossener Allmendstaat<br />
einer einheitlichen Markgenossenschaft,<br />
für die Land- und Alpwirtschaft mit ausgeprägter<br />
Viehzucht wichtigster Erwerbszweig<br />
blieben. Der Verkehr erfolgte weitgehend<br />
südwärts über die Alpenpässe des Gotthardgebietes,<br />
sei es über die Passroute des Gotthards<br />
selbst, die seit dem 13. Jahrhundert<br />
als Saumpfad bestand und in den Jahren<br />
E1823—1828 zur heutigen Alpenstrasse ausgebaut<br />
wurde, sei es aber auch über den<br />
Krüzli-Lukmanierweg, der schon im 9. Jahrhundert<br />
erwähnt ist und die kürzeste Verbindung<br />
über die Gotthard-Alpenscheide war.<br />
Wenn wir heute im Gebiet des Maderanerfcales<br />
den « Bündnertyp» treffen, so ist dies<br />
auf diesen Verkehrsweg durch das Bündnefrische<br />
zurückzuführen, auf die über den<br />
Brunni und Krüzli eingewanderten Bündner<br />
iCdie Furger zu Bristen sollen noch solche<br />
Bündnernachkommen sein). Das Meiental<br />
birgt den ausgeorägt hellblonden Berglertyp,<br />
•während im Urner-Reusstal vielfach der<br />
[Menschenschlag zu treffen ist, der ganz an<br />
die südlichen Schweizer erinnert, an die<br />
Leventiner: dunkeläugig und schwarzes<br />
Kopfhaar. Wer die Urner bei Tanz und Spiel<br />
getroffen hat, der wird sich ob der Lebhaftigkeit<br />
und Leidenschaft, die da zum Ausdruck<br />
gelangen, gefreut haben. Wenn Trachtenmaidschi<br />
und Bueben das Stägerlied oder<br />
das «Zoge-n-am Bogä, dr Landamme tanzet»<br />
singen, dann erkennt man am deutlichsten,<br />
wie die Zeit des ennetbirgischen Besitzes<br />
noch bis in die heutigen Tage herüberspielt:<br />
Leventinerinnen wurden als währschafte<br />
Frauen mit nach Hause gebracht, strammes<br />
Urner Jungvolk ward drüben vorübergehend<br />
sässhaft; es ergab sich im Verlauf der Jahrhunderte<br />
die natürliche Zusammengehörigkeit<br />
längs eines Passweges, endet wirtschaftlich<br />
ein Gebiet doch nie auf der Wasserscheide<br />
des Passes, weil die beiden Passbergseiten<br />
immer zusammengehören.<br />
Schrieb vor rund hundert Jahren der Urner<br />
Talarzt Karl Franz Lusser noch, dass<br />
der Urner «im Durchschnitt von mittlerer<br />
Grosse, eher klein als gross, aber gemeiniglich<br />
von kräftigem Körperbau » sei, so treffen<br />
wir heute landauf und landab gar viele<br />
grosse, stramme Männer. Wer die frühern<br />
Landsgemeinden besuchte, und heute am<br />
zweiten Maisonntag der auf dem Lehnplatz<br />
zu Altdorf, dem frühern Gerichtsplatz, tagenden<br />
Korporationsgemeinde beiwohnt, der<br />
wird neben vielen markanten Typen mittlerer<br />
Grosse recht viele grossgewachsene<br />
Bauern und Handwerker treffen, die breitschultrig<br />
und fast hünenhaft gebaut sind. Die<br />
Schächentaler sind im allgemeinen schlanker<br />
und hellhäutiger als die Reusstaler, deren<br />
Frauen dafür vielfach grösser sind, als ihre<br />
Schwestern zu Spiringen und Unterschächen.<br />
Auch die Bartmänner sind längs dem Klausen<br />
häufiger als im Gotthardtal, wo der sonngebräunte,<br />
gewandte Bergler zuhause ist<br />
Wo immer wir uns mit Urnern ins Gespräch<br />
einlassen, treffen wir auf einen lebhaften<br />
Geist, der, so der Part ihm behagt, vertrau-<br />
ÄÜTOMOBTC-TrevUE<br />
wir, dass die gegenwärtige Jugend dieses<br />
Erbe der Väter hochhält und bewahrt, ist<br />
doch ein Volk, das seine Geschichte kennt<br />
und achtet, gut beraten und trägt den Stolz<br />
in sich, der es vor falschen Wegen bewahrt<br />
Von Haus aus religiös, im Grossteil der katholischen<br />
Konfession verschrieben, anerkennt<br />
der Urner jeden Andersgläubigen, so<br />
dieser ehrlich und redlich zu seiner Sache<br />
steht, denn Lauheit ist ihm eine böse Sache.<br />
So duldet er neben sich selbst scharfen geistigen<br />
Gegner, solange dieser sich in die Gesamtheit<br />
einordnet. Und wer seine Pflicht in<br />
der Arbeit und in der ihm allfällig liberbundenen<br />
öffentlichen Würde erfüllt, der gilt<br />
zeitlebens als senkrechter Bürger. Beachtenswert<br />
ist, wie viele Urner trotz sehr<br />
kurzbemessener und einfacher Schulbildung<br />
über sehr tiefgehende Kenntnisse verfügen,<br />
zumal da, wo es sich um Landesgesetzeskunde<br />
handelt. Der gesunde Menschenverstand<br />
ist für ihn wegleitend, seit altersher,<br />
was schon die Tatsache beweist, dass im<br />
«Landbuch von Uri», der kantonalen und<br />
korporativen Gesetzessammlung, Erlasse und<br />
Verordnungen enthalten sind, die vor fünf<br />
vollen Jahrhunderten beschlossen wurden<br />
und noch heute zu Recht bestehen, ohne heutigen<br />
Forderungen des Rechts und der Wirtschaft<br />
zuwiderzulaufen. Solches ist nur da<br />
möglich, wo der demokratische Geist einer<br />
Volksgemeinschaft während Jahrhunderten<br />
diejenige Schulung erlebte, die von Mund zu<br />
Mund ging, vom Vater zum Sohne sich vererbte,<br />
und wo der Uebergriff immer wieder<br />
durch die anerkannte Mehrheit in die Schranken<br />
der Gemeinschaft zurückgewiesen wurde.<br />
Der Berg erzieht den Menschen egoistisch.<br />
Der Kampf gegen Steinschlag und<br />
Rüfenen, gegen Wildwasser und Lawinen<br />
lässt den einzelnen Bewohner sich auf sich<br />
selbst besinnen. Und doch erzieht dieser<br />
stete Kampf die Bewohner eines Weilers,<br />
einer Kilchhöri (Kirchgemeinschaft, Dorf) und<br />
einer gesamten Talschaft doch wieder zum<br />
Zusammenstehen in Tagen der Not und in<br />
Tagen der Freude. So treffen wir durch die<br />
ganze Schweizergeschichte die Urner immer<br />
als gemeinsamen Harst<br />
Der Bau der Gotthardbahn brachte vor<br />
fünf Jahrzehnten weitgehend wirtschaftliche<br />
Umstellungen. Der früher fast ausschliesslich<br />
nach Süden gewendete Verkehr löste sich<br />
innerschweizerisch und schweizerisch auf.<br />
lich und weise zu erzählen weiss. Es ge-Dihörte zur Tradition, die Landesgeschichte zu Klausen und der Seeweg durch den Axen,<br />
Paßstrassen über Oberalp, Furka und<br />
kennen und über Wirtschaft und Politik der die alle innert der 4 letzten Jahrzehnte des<br />
engern Heimat Bescheid zu wissen. Hoffen verflossenen Jahrhunderts gebaut wurden,<br />
DIENSTAG, 36. <strong>1936</strong> — N° 53<br />
Der<br />
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ligkeit, der Staub waren nicht gerne gesehen.<br />
Psychologisch ist das verständlich; denn wer<br />
schneller fährt als ich, der weckt meinen<br />
Neid, eine seelische Regung, die sich als<br />
Widerwillen, ja als Hass äussern kann, vielleicht<br />
auch im Empfinden, übervorteilt zu<br />
werden. Mit dem ersten Auto kam auch der<br />
erste Schlötterling gegen den Automobilisten<br />
auf! Das Auto hatte sich abseits der Berge zu<br />
dem entwickelt, was es geworden war. Darum<br />
bildete auch die Neuartigkeit des selbstbeweglichen<br />
Fahrzeuges mit seinen vermummten<br />
Insassen, mit seinem Rasseln und Tuten, für<br />
die Land- und Bergbevölkerung eine Angelegenheit<br />
unnützer Aufregung. Dazu kam noch<br />
ein weiterer Umstand. Wer Auto fährt, muss<br />
Geld haben, sagte man sich. Und flugs wurden<br />
Pläne ausgeheckt, um die Automobilisten<br />
für ihren Wagemut zu strafen. Es ist nicht<br />
mehr in jedermanns Erinnerung, mit welchen<br />
Methoden das Befahren einer schweizerischen<br />
sAIpenstrasse für den Automobilisten versauert<br />
wurde. Wir nennen ihren Namen nicht; denn<br />
die Strasse kann ja nichts dafür, und von den<br />
behördlichen Persönlichkeiten, die ihrer Abneigung<br />
gegen das neue Fahrzeug in merkwürdigen<br />
Verordnungen Ausdruck gaben,<br />
dürften die meisten das Zeitliche gesegnet<br />
haben. Die Sache war nämlich so organisiert,<br />
dass das Befahren des obersten Teilstückes<br />
des Passes verboten war; das Verbot wurde<br />
dem Automobilisten aber erst im Augenblick<br />
bekanntgegeben, wo ihm nichts anderes übrig<br />
blieb, als die verbotene Strecke zu durchfahren<br />
oder den langen Rückzug anzutreten. Bussen<br />
von 50 bis 100 Franken und darüber wurden<br />
da gefällt. Dazu kamen noch Geschwindigkeitsvorschriften,<br />
über die der Fahrer<br />
meist auch nicht orientiert war, geheime Kontrollen<br />
wurden da und dort eingeschoben, die<br />
Resultate telephonisch voraus gemeldet, und<br />
wenn der arme Automobilist sich vor dem<br />
letzten Stich zur Ueberwindung der Passhöhe<br />
glaubte, wurde ihm die Rechnung präsentiert<br />
Ausländische <strong>Zeitung</strong>en wetterten gegen die<br />
rückständigen Schweizer, aber es dauerte<br />
noch etliche Jahre, bis man zur Vernunft kam.<br />
Lebhaft erinnert man sich noch daran, dass<br />
es eine Zeit gab, wo im Kanton Graubünden<br />
der Verkehr mit Automobilen verboten war.<br />
Man hat es sicher nicht bereut, dass dieses<br />
Verbot durch Volksabstimmung aufgehoben<br />
wurde, und mit der Offenhaltung des Julierpasses<br />
im Winter haben die Graubündner<br />
keinen Zweifel mehr darüber gelassen, dass<br />
sie autofreundlichen Grundsätzen, huldigen.<br />
Heute ist jeder Bergpass, der technisch strengung einer Bergtour enthoben zu sein<br />
dafür geeignet ist, dem Auto offen; die ein-unzige Macht, die den Automobilverkehr hin-<br />
in der Hand in die Eis- und Felswüsten der<br />
mit dem Lenkrad statt mit dem Pickel<br />
dern kann, ist die Natur selbst, wenn sie im Dreitausender hineinzusteuern.<br />
Frühling neue Schneemassen auf die Höhen An den schweizerischen Alpenstrassen liegt<br />
wirft. Aber da sind Hunderte von Schaufeln die Schönheit des Landes ausgebreitet. Alte<br />
tätig, um den Weg freizulegen und demjenigen<br />
die Bahn zu bereiten, der den Berg ein der jahrhundertealten Anziehungskraft der<br />
Städtchen, Flecken und Dörfer zeugen von<br />
für allemal bezwungen und erobert hat: dem Bergpässe, und je höher hinauf man sich<br />
Automobil.<br />
schraubt, um so mehr weitet sich die Welt.<br />
Wir haben oben von der Vergangenheit des Städte und Dörfer versinken in den Tälern,<br />
Autotourismus in der Schweiz gesprochen der Alltag liegt vergessen irgendwo im Dunst<br />
und mit einigen Hinweisen zu schildern versucht,<br />
wie das Auto den Berg erobert hat.<br />
Diese Entwicklung steht nicht still, sondern<br />
sie ist heute vielschichtiger als je. Das Auto<br />
will fahren, es will dahin und dorthin fahren,<br />
es verlangt Strassen, Tunnels, Sensationen.<br />
Man weiss um den Plan, auf die Rigi eine<br />
Automobilstrasse zu bauen. Der Gedanke ist<br />
nicht übel, und die Bergbahnen würden kaum<br />
wesentlich darunter leiden, dagegen ist es<br />
absolut sicher, dass die Automobilisten eine<br />
Strasse auf einen Berg nicht verachten würden.<br />
Ob die Kosten sich lohnen? Das müssen<br />
diejenigen entscheiden, die zu bezahlen hätten!<br />
Dagegen scheinen die Tunnelprojekte im<br />
Durchschnitt recht phantastisch zu sein. Zu<br />
einer Zeit, wo die Offenhaltung von Bergpässen<br />
im Winter möglich ist, wo die technische<br />
Entwicklung des Automobils sich so<br />
hoch gebracht hat, dass Steigungspannen zu<br />
den Seltenheiten gehören — und wo der weitaus<br />
grösste Teil des alpinen Autotourismus<br />
der Erholung und dem Vergnügen dient, will<br />
es dem Mann aus dem Volk nicht recht einleuchten,<br />
warum das Auto sich nun plötzlich<br />
in Tunnels verkriechen soll.<br />
I<br />
Ein Projekt, von dem man noch nicht viel<br />
gehört hat, das auch schon den Widerspruch<br />
der Naturschutzkreise herausfordert mag immerhin<br />
in unserer Plauderei über die Eroberung<br />
des Berges durch das Auto noch erwähnt<br />
werden: die Rhonegletscherstrasse.<br />
Wir wissen nicht, ob das Problem der<br />
Strasse, die über einen Gletscher führt, technisch<br />
einwandfrei zu lösen ist und ob nicht<br />
auch hier die Kosten in keinem Verhältnis<br />
zum Resultat stehen. Eines ist sicher: diese<br />
Strasse wäre eine Sensation, wie sie in Europa<br />
nirgends zu sehen wäre. Und doch widerstrebt<br />
es dem Freund der Berge innerlich,<br />
dass das Gletschereis auch vor dem Pneu<br />
nicht mehr sicher sein soll. Die Automobilister.,<br />
die gleichzeitig Bergsteiger sind, wünschen<br />
auch gar nicht, der körperlichen An-<br />
der Tiefen zurück, im Mittelpunkt des ganzen<br />
Erlebens steht die Bergwelt mit ihrer schweigenden<br />
Einsamkeit In dieser Einsamkeit<br />
schöpft der Mensch, der sich in der Hast des<br />
Alltags verbraucht, die Zwiesprache mit der<br />
Natur, die der eine Erholung nennt, der andere<br />
Vertiefung, der dritte inneres Bedürfnis<br />
— und alle finden in dem Felsenbezirk der<br />
Passhöhe, wo nur die Dohle schreit und um<br />
die Felsen flattert, zu den Gefilden der Seele<br />
zurück, die der Alltag mit seinen kleinen,<br />
nichtigen Sorgen verwölkt. H. R. S.<br />
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