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Glaubet oder leidet

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Zum Aufführungsrecht<br />

• Das Recht zur Aufführung erteilt der<br />

teaterverlag elgg, CH-3123 Belp<br />

Tel. + 41 (0)31 819 42 09<br />

www.theaterverlage.ch / information@theaterverlage.ch<br />

Montag - Freitag von 09.00 bis 11.30 Uhr & 13.30 bis 17.00 Uhr<br />

• Der Bezug der nötigen Texthefte - Anzahl Rollen plus 1 - berechtigt<br />

nicht zur Aufführung.<br />

• Es sind darüber hinaus angemessene Tantièmen zu bezahlen.<br />

• Mit dem Verlag ist vor den Aufführungen ein Aufführungsvertrag<br />

abzuschliessen, der festhält, wo, wann, wie oft und zu welchen<br />

Bedingungen dieses Stück gespielt werden darf.<br />

• Auch die Aufführung einzelner Teile aus diesem Textheft ist<br />

tantièmenpflichtig und bedarf einer Bewilligung durch den Verlag.<br />

• Bei eventuellen Gastspielen mit diesem Stück, hat die aufführende<br />

Spielgruppe die Tantième zu bezahlen.<br />

• Das Abschreiben <strong>oder</strong> Kopieren dieses Spieltextes - auch<br />

auszugsweise - ist nicht gestattet (dies gilt auch für<br />

Computerdateien).<br />

• Übertragungen in andere Mundarten <strong>oder</strong> von der Schriftsprache in<br />

die Mundart sind nur mit der Erlaubnis von Verlag und Verfasser<br />

gestattet.<br />

• Dieser Text ist nach dem Urheberrechtsgesetz vom 1. Juli 1993<br />

geschützt. Widerhandlungen gegen die urheberrechtlichen<br />

Bestimmungen sind strafbar.<br />

• Für Schulen gelten besondere Bestimmungen.<br />

"Es gibt Leute, die ein Theaterstück als etwas "Gegebenes"<br />

hinnehmen, ohne zu bedenken, dass es erst in einem Hirn erdacht,<br />

von einer Hand geschrieben werden musste.“<br />

Rudolf Joho


Isabelle Jacobi<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Etappen einer Zersetzung<br />

Besetzung 3 Frauen, 2 Variabel<br />

Bilder Hybrias Räume<br />

«Unser Problem ist, dass ich mich nicht selbst beschlafen<br />

kann»,<br />

sagt Hybria und bestellt 200’000 Gummipuppen, geschaffen<br />

nach ihrem Bild. Von da an geht es nur noch abwärts mit der<br />

Aufklärerin und Herrscherin Hybriens, die mit zärtlichem<br />

Diktat ein von moralischem Irrglauben gereinigtes Zeitalter<br />

gestiftet hat. Zunächst wird ein unter die Fanpost geratenes<br />

Spottgedicht laut verlesen, dann macht ihr die Entsorgung der<br />

unproduktiven Körper im Staat zu schaffen, und schliesslich<br />

beantwortet Hybrias Volk – immer noch im Glauben, beseelt<br />

zu sein – die neuen Selbstliquidationsgesetze mit einer<br />

Revolte. Als von Hybria nur ein Haufen übelriechender<br />

Glieder zurückbleibt, begreifen auch ihre Gespielinnen, dass<br />

es nichts in uns gibt, was wesentlich wäre.<br />

«Seid fröhlich und befriedigt euch.»<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

elgger schaulust 6


Figuren<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Statische/r 1<br />

Statische/r 2<br />

Die erste, wesentlich kürzere Fassung von «<strong>Glaubet</strong><br />

<strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!» wurde 1993 in Bern unter der Regie von<br />

Gisela Hochuli uraufgeführt.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 2 -


Hybria<br />

Selbstliquidation<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Sehr geehrte Anwesende. Ich bin Selbstliquidationskandidatin<br />

Nummer 1. Ich bin der Prototyp. Die Prozedur,<br />

die wir vorschlagen, beinhaltet vier Punkte.<br />

Punkt eins: Selbstidentifizierung. Punkt zwei: Begründung<br />

der Selbstliquidation mit Herbeizug der in Kraft<br />

tretenden Paragraphen. Punkt drei: Schlusswort. Punkt<br />

vier: Selbstliquidation.<br />

Zu Punkt eins: Ich bin Hybria. Alleinig Hybria: Das ist<br />

mein Privileg. 35 Jahre alt, weiblich und ledig. Hybria.<br />

Zu Punkt zwei: Ich erfülle die gesetzesmässig vorgeschriebenen<br />

Grundbedingungen für die Zulassung zur<br />

Selbstliquidation, Artikel 85 der hybrischen Gesetzgebung,<br />

Absatz 1: Unproduktivität mit Absatz 2:<br />

Keiner voraussichtlichen Änderung des Zustandes.<br />

Punkt drei, das Schlusswort: Ich gebe mich zur Kopie<br />

frei. Ich verlange, als Kopie freigegeben zu werden.<br />

Das ist ein Befehl. Das ist mein Vermächtnis.<br />

Punkt vier: Selbstliquidation.<br />

Hybria erschiesst sich.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 3 -


Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Totenwache<br />

Es ist zwei Uhr morgens. Unsere Herrscherin ist tot.<br />

Wir bewachen ihre Überreste.<br />

frischt ihr Make-up auf. Ich muss mich auffrischen.<br />

Für Speis und Trank, fürs täglich Brot, wir danken Dir,<br />

o Gott.<br />

Der ist nicht kussecht. Fettig. Billig.<br />

Kennst du ein Gebet?<br />

Wie seh' ich aus?<br />

Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht, mit<br />

Nelken besteckt, schlupf unter die Deck. Morgen früh,<br />

so Gott will, wirst du wieder geweckt.<br />

Ist mein Teint in Ordnung?<br />

Morgen früh, so Gott will, wirst du wieder geweckt.<br />

Findest du mich schön?<br />

Piff, paff, puff, und sie war weg. Ob sie uns bald holen<br />

werden?<br />

Lass mich mal an dich ran. Schnurrbart nachziehen.<br />

Kopf nach hinten. Macht sich an Altra 1 zu schaffen.<br />

Was sie mit uns machen werden?<br />

Mund auf. Ein gepflegtes Äusseres ist der erste Schritt<br />

in die richtige Richtung.<br />

Jetzt, da sie, nun ja – da liegt – da wird man uns zur<br />

Rechenschaft ziehen wollen.<br />

So. Auch Männlichkeit will bisweilen retouchiert werden.<br />

Man wird uns wohl an unseren Zungen durch die<br />

Palasträumlichkeiten schleifen, zum Gespött der ganzen<br />

Nation.<br />

Siehst du? Jetzt bist du wieder ganz dich, Ken. Ich<br />

mich, Barbie. Wir uns. Du Ken, ich Barbie.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 4 -


Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Vielleicht werden sie wollen, dass wir Hybria folgen.<br />

Und dann werden wir genauso daliegen. Wir mit uns.<br />

Öffne deine Beine, Barbie. Nimm mich in die Arme,<br />

Barbie. Nun gib dich zur Kopulation frei.<br />

Glaubst du, man sieht schon was?<br />

Guck doch mal nach.<br />

Die Nase ist etwas spitzer. Ich möchte ihre Augen<br />

sehen.<br />

Dann guck doch nach.<br />

Sie ist kalt. Sie riecht noch nach sich.<br />

Wie roch sie denn?<br />

Nach Glanz und Gloria.<br />

Sie war laut und gierig. Jetzt sag doch mal was. Sag<br />

doch jetzt mal was! Los! Sag was!<br />

Sie kann sich nicht wehren. Sie ist völlig wehrlos.<br />

imitiert Hybria. «Ich werde eure Gesellschaft so lange<br />

pervertieren, bis ihr sie nicht mehr wiedererkennt!»<br />

«Es gibt noch viel zu zerstören, packen wir's an.»<br />

«Was ich habe, braucht ihr auch.»<br />

«Seid fröhlich und befriedigt euch.»<br />

Das hättest du nicht tun sollen. Jetzt ist sie bleich.<br />

Da kommt gar nichts mehr raus.<br />

Ich markiere die Stellen ihres Seins. Hier hat sie<br />

gedacht. Hier hat sie gelacht. Hier klopfte ihr Herrscherinnenherz.<br />

Hier war sie geil.<br />

Da tut sich gar nichts mehr. Wir haben hier: einen<br />

Körper. Den Körper. Der Körper ist der Abfall des<br />

Seins. Abfall ist das einzig Wahre. Er ist ganz. Er ist<br />

kompakt. Er ist steif. Er ist stumm. Er ist da. Keine<br />

Fiktion.<br />

Mit diesen Händen berührte sie – Dinge.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 5 -


Statische/r 1<br />

Statische/r 2<br />

Statische/r 1<br />

Statische/r 2<br />

Glanz und Gloria<br />

Der Tag, an welchem Hybria die beschwerlichen<br />

Stufen zum Throne hinauftrippelte, sollte als Moment<br />

des Triumphes in unsere Zivilisationsgeschichte eingehen.<br />

Grosser Jubel – wogende Massen – erhitzte<br />

Gesichter. Gesäubert von der dogmatischen Engstirnigkeit<br />

der vergangenen Jahrhunderte würde die<br />

Menschheit in neuem Glanze erstrahlen und von nun<br />

an verständig den Erdenball bevölkern immerfort. Zeitalter<br />

der Klarheit – freie Entscheidung – auf zu Neuem<br />

– Lügen ausmerzen.<br />

So sprach Hybria zu den Wohl- und Schlimmberechtigten:<br />

«Seid fröhlich und befriedigt euch».<br />

Zwangloses Leben – das treffende Argument – weg mit<br />

der Last der Volkssouveränität – weg damit! Bald, so<br />

erklärte Hybria, würden jede und jeder sowieso sein<br />

eigener Herr <strong>oder</strong> seine eigene Herrin sein, ohne nach<br />

Gütern anderer zu schielen, weil selber – glücklich und<br />

zum Frieden.<br />

Jedenfalls ergab sich Hybria bescheiden dem Wunsche<br />

des Volkes und ergriff mit sanften Händen zärtlich das<br />

Diktat. Vieles anders – alles viel schöner. Sie wusste,<br />

dass alte Muster hartnäckig sind und dass der Weg zur<br />

psychoindividuellen Ungebundenheit oft ein beschwerlicher<br />

ist und oftmals eben nicht so gerade, sondern<br />

von eigentümlich verschlungener Art. Gutes Vorbild –<br />

gesunde Autorität – der richtige Pfad.<br />

An dem heutigen Tage aber feiert unsere Nation das<br />

halbjährige stabile Bestehen der – die neue Ordnung!<br />

Lobet und preiset Hybria, die Befreierin unserer selbst.<br />

Ihre Wege sind oft unergründlich, doch sind sie immer<br />

gut.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 6 -


Altra 1<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 1 und 2<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Morgenroutine<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

In Hybrias Schlafgemach: Altra 1 tritt zum Bett der<br />

Herrscherin.<br />

Es ist vortags, sieben Uhr morgens. Unsere Herrscherin<br />

schläft. Wir wecken sie.<br />

Schöne Tagwacht.<br />

Altra 2 steigt aus Hybrias Bett.<br />

Ihre königliche Geilheit hat sich wieder einmal unsäglich<br />

gelangweilt mit mir.<br />

Schsch...<br />

unisono. Guten Morgen Hybria, unsere Befreierin und<br />

Herrscherin über alle Hybrier und Hybrierinnen!<br />

zu Altra 1. Ich habe mich wieder einmal unsäglich<br />

gelangweilt mit dir.<br />

Mir wäre nicht präsent...<br />

Nicht präsent, ja, das ist das treffende Wort, nicht<br />

präsent war der Ritt. Niemand schafft es, mir dieses<br />

Gefühl zu geben, dieses Gefühl – der Einmaligkeit. Bin<br />

ich ein Opfer meiner eigenen Strukturen?<br />

Nein!<br />

Ein Kuss, eine Brust, ein Schuss – nach hinten und<br />

immer in derselben Reihenfolge. Langweilig. Brot,<br />

Wasser und sieben Peitschenhiebe.<br />

Nicht mich, sondern sie hast du – nun – in Begattung<br />

genommen.<br />

Meine Begattung, deine Begattung, seine Begattung,<br />

ihre Begattung, unsere Begattung.<br />

Welche Rolle spielt denn das nur wieder? Meint ihr<br />

wirklich, diese Augen sehen euch nur einen Moment<br />

lang an? Meint ihr, ich denke nur eine Sekunde: Du?<br />

Meine Nerven! Meine Hormone, mein Hypophyse.<br />

Denkst du wirklich, deine Hüfte sei da an deiner<br />

Hüfte? Hier ist sie, in meinem Kopf!<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 7 -


Altra 2<br />

Hybria<br />

Altra 1 und 2<br />

Hybria<br />

Altra 1 und 2<br />

Hybria<br />

Altra 1 und 2<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Demgemäss langweilst du dich also selbst?<br />

Unser Problem ist, dass ich mich nicht selbst<br />

beschlafen kann.<br />

alternierend. Wir wissen, dass Gefühle konstruiert<br />

sind. Wir wissen, dass Liebe konstruiert ist. Wir<br />

wissen, dass Gott konstruiert ist. Wir wissen, dass Gott<br />

in uns konstruiert ist. Wir wissen, dass wir selbst konstruiert<br />

sind.<br />

Stellt euch doch mal vor, ich gehe um die Ecke, und<br />

wen treffe ich? Mich selbst! Ich sehe mir in die Augen,<br />

ich lächle, ich gehe an mir selbst vorbei.<br />

alternierend. Warum immer allem Bedeutung geben<br />

wollen, wenn alles nichts bedeutet? Warum ein<br />

Gewissen haben, wenn die Materie das einzige ist, das<br />

existiert, und diese gewissenlos ist? Warum nicht die<br />

Narrenfreiheit eines Konstruktes voll nutzen?<br />

Nach ein paar Schritten wende ich mich um. Mein<br />

Lächeln zieht sich in die Breite. Dann tausche ich<br />

meine eigenen Körpersäfte aus. Ich werde eins mit mir<br />

selbst.<br />

alternierend. Nieder mit den sittlichen Zwängen!<br />

Nieder mit der Gefühlsduselei! Nieder mit der religiösen<br />

Stimmungsmache! Nieder mit der Geschlechtsspezifik!<br />

Nieder mit den kleinfamiliären Zwangsstrukturen!<br />

Nieder mit allen alten Denkmustern!<br />

Die Einheit. Das geschlossene Ich. Das perfekte Wesen.<br />

Es lebe die Ratio und die Physis!<br />

zieht eine Gummipuppe unter der Decke hervor. Also,<br />

irgendwie regt sich da ein Bedürfnis in mir, also:<br />

dunkler Teint, braune Augen, kürzeres Haar.<br />

Befriedigen wir den Körper und den Geist – frei!<br />

Das Bedürfnis nach mehr Ähnlichkeit, mehr wie ich,<br />

<strong>oder</strong> genauso wie ich; das wäre doch etwas ganz<br />

anderes, mein Gesicht hier, genau hier.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 8 -


Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Alle<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Verbinden wir das Lustprinzip mit dem Nützlichkeitsprinzip!<br />

200'000 Ausgaben von mir. Das ganze Volk könnte<br />

mich beschlafen. Und ich mich endlich.<br />

Es lebe der wohlfunktionierende Organismus!<br />

Ich bestelle! 200'000 Stück!<br />

Alle mit allen und jeder für sich!<br />

Hybria Heute ist ein grosser Tag. Vor einem halben Jahr eroberte<br />

ich das Herz der Masse. Zum Dank verfüttere<br />

ich heute Schlagzeilen, die knallen, wenn sie fallen. Es<br />

gibt noch viel zu zerstören, packen wir's an!<br />

Altra 1 Die Korrespondenz.<br />

Hybria Fanpost.<br />

Altra 1 Kategorie A <strong>oder</strong> B?<br />

Hybria A.<br />

Altra 2 Sehr geehrte Hybria. Wir gratulieren Ihnen herzlich<br />

zum Jubiläum. Gestern haben wir ein Lied gelernt, das<br />

heisst «Hybria, Hybria über alles». Es ist ein sehr<br />

schönes Lied. Klasse 3d der Erziehungsanstalt Unterhybrien.<br />

Hybria Wie schön, so junge und spontane Loyalitäten.<br />

Altra 2 Staatskunde ist Pflichtfach.<br />

Altra 1 Kategorie A <strong>oder</strong> B?<br />

Hybria Immer A.<br />

Altra 2 Verehrte Herrscherin. Unsere Not sitzt tief, weil uns<br />

die harten Zeiten getroffen haben. Wir wurden aus der<br />

Produktion ausgesteuert, und unsere kleinen Mädchen<br />

können wir kaum noch durchbringen. Ihre Unterstützung<br />

ist das letzte, auf das wir hoffen dürfen. Wir bitten<br />

Sie auf Knien untertänigst um Hilfe. Hochachtungsvoll,<br />

etc.<br />

Hybria Innovativ sein ist das Stichwort. Vor allem kein<br />

Selbstmitleid. Ja, lassen Sie nicht den Kopf hängen, tun<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 9 -


Sie etwas! Auch Mädchen kann man ausschlachten.<br />

Schicken Sie sie in die Exportbranche. Das stärkt Ihr<br />

Selbstwertgefühl und saniert unsere Wirtschaft. Voran<br />

in die Zukunft.<br />

Altra 1 Etwas Lyrisches.<br />

Altra 2 Hybria, oh Hybria,<br />

hörst du zu, bist du da?<br />

Deine Schönheit ist kein Tand,<br />

jeder Untertan im Land<br />

badet froh in ihrem Licht,<br />

helles Leuchten im Gesicht.<br />

Wenn du in den Spiegel schaust,<br />

von der Masse hehr umbraust,<br />

und du siehst ein Knäuel Ratten,<br />

bebe nicht, es sind nur Schatten<br />

Deines eignen Angesichts.<br />

Hin ist hin. Und nichts ist nichts.<br />

Hybria Was heisst da nichts? Ist das Kategorie A?<br />

Altra 2 Sicher, Hybria.<br />

Hybria Ein schönes Gedicht. Ich hatte schon immer einen<br />

Zugang zu Lyrik. Der Absender?<br />

Altra 2 Anonym.<br />

Hybria Habe ich etwa Augenschatten? Zeigt sich der hohe<br />

Rhythmus?<br />

Altra 2 Aber, nein, niemals.<br />

Hybria Die Schatten meines Angesichts – Ratten? Wie ist das<br />

zu verstehen?<br />

Altra 2 Es ist ein Wiegenlied.<br />

Altra 1 Nun, vielleicht ist uns ein kleiner Fehler unterlaufen.<br />

Vielleicht ist dieses Gedicht doch eher der Kategorie B<br />

zuzurechnen.<br />

Hybria Es gibt keine Kategorie B! Ich habe sie gestrichen!<br />

Altra 1 Aber, es ist doch wichtig zu wissen, welche Stimmung...<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 10 -


<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Hybria<br />

Die Kategorie B ist nicht repräsentativ! Mein Volk<br />

liebt mich! Und jetzt raus hier! Alle beide! Alleine. Hin<br />

ist hin. Und nichts ist nichts.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 11 -


Hybria<br />

Divertimento<br />

Es gibt nichts Schöneres, Beglückenderes, Befriedigenderes<br />

und Erfüllenderes, als produktiv zu sein. Arbeit!<br />

Arbeit – den ganzen lieben Tag lang mit schorfigen<br />

Händen krüppeln <strong>oder</strong> mit aufgeweichten Hirnwindungen<br />

schlauchen, am Fliessband, am Pult, in den<br />

Lüften, in der Erde wühlen, dienen und putzen, bauen<br />

und zerstören – jedem das seine und jedem, was er<br />

kann.<br />

Nach wohlgetaner Werktätigkeit am Abend dann – die<br />

gute Familie fressen, saufen, glotzen, vögeln, den<br />

Nachwuchs tätscheln <strong>oder</strong> ohrfeigen, danach in<br />

schlafender Paralyse verweilen, um am nächsten Tage<br />

rüstig wieder die Repetition des Gestrigen zu unternehmen<br />

– die Arbeit ist es, was den Menschen ausmacht.<br />

Das ist der Kern der Sache. Was gibt's noch?<br />

Körperliche Ertüchtigung, Saufgelage und die Götter:<br />

Sinngebung und Kanalisierung. Was noch? Geistige<br />

Weiterbildung – gebt ihnen Klatschbilder der Freiheit,<br />

und sie werden sie anbeten. Und drückt es sie<br />

irgendwo, so sind das persönliche Niederlagen, und wir<br />

schicken sie in die Psychiatrie.<br />

Ich bin Hybria, ich bin aalglatt und schwerlich fassbar.<br />

Ich bin das lebende Paradoxon, ich ergebe keinen Sinn.<br />

Ich verfremde die Sachen, welchen ich falsche Namen<br />

gebe und bringe so Unordnung, wo Ordnung mein Ziel<br />

ist. Was ich sage ist <strong>oder</strong> ist nicht, kann sein, aber auch<br />

nicht.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 12 -


Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Das Gesetz<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Es ist Arbeitszeit. Wir geben den neusten Paragraphen<br />

den letzten Schliff. Hybria – denkt.<br />

Der Mensch ist, ist. Ich bin – aus Fleisch und Blut. Bin<br />

ich das?<br />

Wie kommst du voran?<br />

Artikel 85, Absatz 2. Besteht eine erwägbare Aussicht<br />

auf Produktivitätssteigerung, tritt Absatz 2 in Kraft, der<br />

da heisst: Eine Frist von einem Jahr wird gewährt.<br />

Schön. Und dann?<br />

Dann tritt wieder Absatz 1 in Kraft: Unproduktive<br />

Subjekte liquidieren sich selbst. Infrastruktur und<br />

Folgekosten fallen in den staatlichen Kompetenzbereich.<br />

Ob sich irgendwer freiwillig melden wird?<br />

Wer sich staatlich subventionieren lässt, gerät automatisch<br />

in das Selbstliquidationsverfahren. Zusätzlich<br />

motivieren wir die Angehörigen, indem wir ihnen eine<br />

Entschädigungssumme zukommen lassen.<br />

40'000 harte Währung pro Körper. Und die Fürsorge<br />

als Fleischwolf.<br />

Lass mich das durchrechnen.<br />

Man bildet sich ein, beseelt zu sein. Wir müssen die<br />

Seele abschaffen.<br />

Wir erwarten von der Bevölkerung, dass sie die<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

Revitalisierungsmassnahmen in konstruktivem Geist<br />

und geschlossen unterstützt. Die flaue Wirtschaftslage<br />

zwingt uns zu einem intensiven Impulsprogramm,<br />

dessen Ziel es ist, das Volk gesundzuschrumpfen.<br />

Während der Hochkonjunktur hat unser Unternehmen<br />

zuviel Material produziert. Jetzt kaufen wir das Material<br />

zurück und entsorgen es gratis.<br />

Bravo, mein Täubchen! Sehr glaubhaft!<br />

- 13 -


Altra 1 Das Resultat ist überzeugend. Binnen kurzer Zeit<br />

werden sich die Staatsfinanzen erholen. Wir werden<br />

sogar in der Lage sein, finanzielle Zugeständnisse<br />

machen zu können. Die Überlebenden treten in ein<br />

vergoldetes Zeitalter ein.<br />

Hybria Frieden. Eintracht. Wohlstand. Nationale Zufriedenheit.<br />

Fruchtbarer Boden. Üppige Getreidefelder, die im<br />

Winde sich wiegen.<br />

Altra 2 Wir kaufen einen Haufen Körper. Ich hätte gern 2000<br />

Arbeitslose, 500 Behinderte und 7000 Rentner. Aber<br />

sicher, Madame, in Folie <strong>oder</strong> Krepp? Berge von<br />

Körpern. Gestapelte Körperlandschaften. Soweit das<br />

Auge blicken kann! Was machen wir mit den Körpern?<br />

Altra 1 Wir verscharren sie.<br />

Altra 2 Das gibt Platzprobleme.<br />

Altra 1 Bereits nach zwei Jahren Schichtwechsel.<br />

Altra 2 Es werden zuviele sein.<br />

Altra 1 Wir verringern die Bestattungspflichtgrösse. Von 2<br />

Meter 50 auf 2 Meter.<br />

Altra 2 Und wenn jemand nicht hineinpasst?<br />

Altra 1 Wird gekürzt.<br />

Altra 2 Es ist bestimmt viel einfacher, einen Kopf abzutrennen<br />

als die Beine.<br />

Altra 1 Wir setzen an den Knien an. Wir zerstückeln überhaupt<br />

das ganze Teil. Schichten alles aufeinander. Machen<br />

Pflichtgrösse 50 auf 50.<br />

Altra 2 Nehmen wir mal dein Beispiel. Wir schneiden hier,<br />

und hier, und hier und hier beidseitig; und hier. Dann<br />

bleibt aber immer noch die Mitte übrig. Die ist länger<br />

als 50.<br />

Altra 1 Das kann man auch verkürzen.<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

Ich möchte die Weichteile dran lassen!<br />

Sei nicht zimperlich.<br />

- 14 -


Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Ich will, dass die Weichteile dranbleiben!<br />

Was spielt denn das für eine Rolle?<br />

Die Weichteile bleiben dran.<br />

Hybria klopft energisch auf den Boden.<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Artikel 85, Absatz 3: Nach der abgelaufenen Frist wird<br />

der – Strich – die Kandidat – Strich – In neu eingestuft.<br />

Wir werden eine Revision des Bestattungsgesetzes vornehmen<br />

müssen.<br />

Das Selbst ist eine ausgehöhlte Einheit. Wir brauchen<br />

neue Masse für das Selbst. Horizontal: Nützlichkeitsstufen.<br />

Vertikal: Flexibilität. Die Bereitschaft, das<br />

Selbst zu brechen, wenn es sein muss. Das Selbst ist<br />

das Mass aller Dinge; doch ist das Selbst selbst nichts<br />

ohne Mass. Wir nehmen 1m auf 50.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 15 -


Altra 1<br />

Intermezzo scherzando<br />

Ich habe euch ein Lieblingsrezept mitgebracht. Es<br />

heisst: Ein Huhn kommt selten allein. Das ist ein<br />

Rezept für acht Personen, es sind also mehrere Hühner<br />

an dem Schmaus beteiligt, je nach Grösse, Appetit und<br />

Auswahl der Seitengänge zwei <strong>oder</strong> drei, darum: Ein<br />

Huhn kommt selten allein.<br />

Zuerst zerstückelt man also diese Tierchen in acht,<br />

sechszehn, respektive vierundzwanzig Teile. Dann erhitze<br />

man ein hälftiges Gemisch von Olivenöl und Butter<br />

und brate die besagten Hühnerteile goldbraun an.<br />

Danach das Fleisch beiseite stellen und das Fett<br />

wegschütten. Dies ist sehr wichtig, da doch viele von<br />

uns linienbewusst denken und – ja, auch ich bin<br />

bewusst! Man darf diesen Vegetaristen keinen Glauben<br />

schenken, die da behaupten, Fleischessen sei an und für<br />

sich etwas Barbarisches. Natürlich, wer würde denn<br />

heute schon ein ganzes Schwein auf den Tisch stellen,<br />

aber das Problem ist nicht das Schwein, sondern das<br />

Ganze. Das Ganze ist ein widerliches Konzept. Es geht<br />

hier um die Zerteilung, die Zerstückelung bis zur Unkenntlichkeit,<br />

das ist das Appetitliche, das ist: mein<br />

Kampf.<br />

Dann das Fleisch wieder in den Topf geben, mitsamt<br />

den gehackten Zwiebeln, in Streifen geschnittenen<br />

Karrotten sowie einem Bouquet Garni. Dann je zur<br />

Hälfte mit Weisswein und Hühnerfond ablöschen, eine<br />

Stunde köcheln lassen, voilà, bon appetit!<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 16 -


Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Kostümierung<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Es ist Mittag. Noch drei Stunden bis zum Auftritt. Wir<br />

modellieren die geeignete Herrscherin für diesen Tag.<br />

100'000 klaffende Mäuler, sobald Hybria die Tribüne<br />

betritt. Ein Raunen der Anerkennung. Sie strahlt eine<br />

solche Unerschütterlichkeit aus, dass die Panzer- und<br />

Fliegerschwadronen daneben wie lebensmüde Fliegen<br />

wirken.<br />

Ich schlage vor, wir setzen massive Schulterpolster ein.<br />

Das geht auf Kosten der Eleganz, aber tut seine<br />

Wirkung.<br />

Wenn sie zum ersten Satz anhebt, ist die Menge bereits<br />

betäubt. Wie ein kollektives Kaninchen. Was Hybria<br />

auch immer sagen wird, die Erwartungen sind bereits<br />

erfüllt. Es ist der erste Eindruck, der gilt.<br />

Hier und hier füllen wir auch auf. Wegen der Proportionen,<br />

und weil das Volk in harten Zeiten einen<br />

weichen Regierungsbusen wünscht. Darüber einen<br />

Anzug, eine blonde Perücke. Kompetent – weiblich.<br />

Sonnenbrille. Kann dramaturgisch eingesetzt werden.<br />

Sie ist wirklich beeindruckend.<br />

Sie ist unser Werk.<br />

Unsere Schöpfung. Oh Hybria, ich küsse die Füsse<br />

deiner Herrlichkeit. Nimm mich zu dir und lass mich<br />

nicht mehr los!<br />

Hybria tritt auf.<br />

Das ist dein Modell, Hybria.<br />

Was soll das sein?<br />

Die perfekte Mischung.<br />

Es sind nur kleine operative Eingriffe. Wir nehmen<br />

hier und hier etwas weg und setzen hier und hier etwas<br />

ein.<br />

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Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 17 -


Hybria<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Aber das bin nicht ich. Ich bin nicht – korpulent. Ich<br />

will ich sein. Das hier – nein. Bin ich etwa nichts?<br />

Nicht genug? Ich bin ich, versteht ihr? Ich bin mein<br />

eigenes Markenzeichen. Sonst könnte ja jeder <strong>oder</strong><br />

jede hinstehen. An meinen Platz. Und meine Reden<br />

halten. Ich sein. Mich ersetzen... Mich mir wegnehmen.<br />

Aber, Hybria, ich weiss doch wer du bist. Darunter.<br />

Hier, das wird dir gut tun...<br />

Nimm deine Pfoten weg. Ich bin, was ich bin.<br />

Ja, dann...<br />

Liebe Hybrier, liebe Hybrierinnen... Wein und Weiber,<br />

<strong>oder</strong> nichts, das ist hier die Frage und vor allem wie,<br />

nicht! Doch müssen wir auf dem Boden der Realität<br />

bleiben. In diesen harten Zeiten der Rezession – ihr<br />

seid schuldlos und ich sowieso – müssen wir die Gürtel<br />

halt enger schnallen.<br />

Ja, der Wein ist sauer geworden, die Weiber anorektisch!<br />

Jetzt gilt es, schnell zu handeln. Füttert ihr die<br />

Weiber, süsst den Wein, ich meinerseits präsentiere<br />

euch nun das neue Gesetzeswerk.<br />

Altra 1 und Altra 2 wollen Hybria einkleiden.<br />

Ich würde vorschlagen, wir machen etwas Gelbschwarzes.<br />

Wespengift.<br />

Vielleicht: Liebe Hybrierinnen, liebe Hybrier... Wir<br />

alle sitzen im gleichen Boot und rudern notgedrungenermassen<br />

zusammen in eine etwas, doch nicht allzu<br />

sehr ungewisse Zukunft.<br />

Welches Register aus deinem Repertoire gedenkst du<br />

denn zu ziehen? Hybria, die Rächerin, <strong>oder</strong> Hybria, die<br />

Gebeutelte?<br />

Hybria, die Volksnahe, <strong>oder</strong> Hybria, die Göttliche?<br />

Es ist eine heikle Sache, den Volksgeschmack zu<br />

frustrieren.<br />

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Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 18 -


Altra 2<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Es ist eine heikle Sache, Geschmack überhaupt zu<br />

frustrieren.<br />

Hauptsache, ich hinterlasse einen unvergesslichen<br />

Eindruck.<br />

Das hier ist ein schönes Stück.<br />

Wie wär's mit diesem Fetzen, Hybria?<br />

Ja, ja. Vielleicht so: Liebe Hybrier, liebe Hybrierinnen...<br />

Leider, leider, ich alleine trage die schwere<br />

Last der Verantwortung, während ihr euch vergnügt,<br />

und so muss ich euch mitteilen..<br />

Voilà! Ans Tier! Schlicht und souverän!<br />

Bravo! Dem Ernst der Situation entsprechend, aber<br />

dennoch über alles erhaben.<br />

Etwas bieder. Aber das Geistvolle meiner Rede wird in<br />

angenehmem Kontrast dazu stehen. Bürsten!<br />

Liebe Hybrier, liebe Hybrierinnen, das vollkommene<br />

Glück gibt es nicht. Unglücklich sind wir aber seit<br />

Jahrhunderten. Warum, frage ich euch, warum? Ich<br />

sage es euch: Weil wir uns zu hohe Ideale gesteckt<br />

haben. Die moralischen Anforderungen sind einfach<br />

erdrückend. Sagt mir, wem ist es denn schon möglich,<br />

ein guter Christenmensch zu sein? Wer kann schon<br />

ausschliesslich und immer treu lieben? Gut und<br />

schlecht, was ist das? Sittlich und unsittlich? Lügen,<br />

Lügen, die erstellt worden sind, um uns zu<br />

autoritätsgläubigen und unmündigen, aber leistungsfähigen<br />

Produktionsfaktoren zu modellieren. Und wir<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

haben diese Lügen so verinnerlicht, dass wir am<br />

Schluss an uns selbst scheitern mussten. Miese Identitätskrisen,<br />

kriecherisches Volk! Nein! Und nochmals<br />

nein! Jetzt sind wir hier und haben Schluss gemacht<br />

mit diesem Quatsch. Wir wollen keine Affen mehr<br />

sein, wir können selbst entscheiden, wer wir sind und<br />

was wir wollen! Wir brauchen keinen Gott, wir<br />

brauchen keine Moral, um zusammenleben zu können,<br />

wir brauchen lediglich Gesetze, Regeln brauchen wir,<br />

- 19 -


doch diese erheben keinen absoluten Anspruch, hört ihr<br />

mich, keinen absoluten Anspruch, doch, und das<br />

betone ich, doch sie müssen befolgt werden, strikte.<br />

Na, wie findet ihr das?<br />

Altra 1 Grossartig, Hybria. Bieder und leidenschaftlich<br />

zugleich.<br />

Altra 2 Für jeden und jede etwas. Glaubwürdig und massenkompatibel.<br />

Hybria Bieder ist gut für die Biederen. Eine Prise Gefühl für<br />

die Gefühlsvollen, ein wenig Intellekt für die Gescheiteren<br />

undsoweiter, undsofort. Das Rezept: Man muss<br />

allen gefallen, um Ungefälliges unauffallend einzufädeln.<br />

Es leben die Profilierungsängste! Hoch soll<br />

Hybria leben!<br />

Altra 1 Hoch die Arme. Hoch der Kopf. Einmal drehen. Hoch<br />

das Bein.<br />

Altra 2 Wunderschön.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 20 -


Statische/r 1<br />

Statische/r 2<br />

Statische/r 1<br />

Statische/r 2<br />

Statische/r 1<br />

Schimpf und Schande<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Erhebend war der Anblick Hybrias, als sie am halbjährigen<br />

Jubiläum ihrers Diktates durch die applaudierende<br />

Masse würdevoll schritt. Ein Jauchzen – ein<br />

Jubeln. Da ging sie, die Edle, die Glückbringende,<br />

schüttelte Hände hier und dort, strich über dünnes<br />

Kinderhaar, und es herrschte allüberall Freude –<br />

Entzücken – solche Güte.<br />

Wie brünstige Rotkehlchen flogen Hybria die Herzen<br />

der Erwartungsvollen und Festgeschwängerten zu, als<br />

sie mit weitausholenden Gesten sowie brillianter<br />

Rhetorik und weich-penetrierender Stimme zu ihrer<br />

Volksansprache anhob und bald darauf die neuen<br />

Gesetze auf die staunende Masse hinabdonnerte.<br />

Fähnchen flatterten – bunt, bunt – fröhlicher Wind –<br />

der blaue Himmel, und die kleinen Vögelein<br />

zwitscherten.<br />

Doch, siehe, siehe, da in den hinteren Reihen subversive<br />

Elemente mit geschmacklosen Zwischenrufen!<br />

Sie buhen und pfeifen, werfen mit Eiern – daneben –<br />

um sich und – völlig daneben – schlicht und einfach<br />

daneben. Herrlichkeit und Harmonie verpestet. Keine<br />

Ehrfurcht – Pest.<br />

Da ging es wie eine Welle durch das ganze versammelte<br />

Volk. Die Gesichter, die vorher noch wohlgesinnt<br />

gelächelt hatten, verzogen sich nun zu hässlichen<br />

Fratzen, und die freundlich winkenden Hände ballten<br />

sich zu wütenden Fäusten. Ein Schrei – ein Schlag –<br />

ein Schuss. Zuvorderst: Reaktionäre Feministinnen:<br />

«Gebt uns unsere Weiblichkeit zurück!» Dahinter:<br />

grunzende Maskulinisten – fanatische Individualisten –<br />

Egoisten – Evangelisten, die klatschten, rhythmisch<br />

klatschten und sangen «Jesus lebt».<br />

Hybria aber war gröblichstens erstaunt über dieses<br />

plötzliche Sinken ihrer Popularität, und ihr eben noch<br />

kühn erhobener Zeigefinger tauchte zögernd unter das<br />

Rednerpult. Wäre es etwa klüger, sich in die trocken-<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 21 -


eren Palastverhältnisse zurückzuziehen? Hybria war<br />

beschmiert und gefallen.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 22 -


Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Das neue Selbst<br />

Es ist sechs Uhr abends. Ich packe.<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Die Jubiläumsansprache war ein Volltreffer. Das Volk<br />

ist ausser sich; es feiert; es tobt; es amüsiert sich –<br />

prächtig. Da war ein Moment der Stille. Nur die<br />

Fähnchen flatterten noch im Wind. Flapflapflapflapflap.<br />

Ein milder Frühsommertag. Ein Tag für Frischverliebte.<br />

Ein Tag für die Glücklichen unter uns. Ein<br />

Tag für die sonnigen Gemüter. Ein guter Tag. Hybria<br />

öffnet ihren Rachen zum Schlusswort. Zurück kommt<br />

ein rauer Schrei aus 100'000 Kehlen. Ein Freudenschrei?<br />

Wir sind erledigt.<br />

Ist da jemand? Bist du das? Was tust du?<br />

Unsereins wird wohl nicht mehr so populär sein in<br />

Zukunft.<br />

Wohin willst du denn?<br />

Unsereins wird sich wohl ein bisschen rar machen<br />

müssen in Zukunft.<br />

Wo ist Hybria?<br />

Unsereins wird wohl ein bisschen umdenken müssen in<br />

Zukunft.<br />

Ist da vielleicht irgendjemand, der mir sagen kann, was<br />

zu tun ist?<br />

Sei jetzt doch gut, ich bitte dich. Wir haben gespielt,<br />

wir haben verloren, jetzt müssen wir fortschrittlich<br />

denken, einfach mit der Zeit gehen. Was soll die Aufregung?<br />

Ich will raus!<br />

Wohin willst du denn? Das Gebäude ist umzingelt. Die<br />

Meute wartet. Sie werden uns in der Luft zerfetzen!<br />

Schimpf und Schande!<br />

Ich gehe einfach raus, Luft schnappen, die Beine<br />

vertreten. Ich will den Quai entlang schlendern.<br />

Mädchen schauen. Es ist ein schöner Abend draussen.<br />

Ich will raus hier, verstehst du!<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 23 -


Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

Nein, nein, nein. Du gehst nicht. Du bleibst hier. Wir<br />

werden kämpfen, bis aufs Blut. Wir werden zusammen<br />

– zusammen mit Hybria – untergehen. Wir werden die<br />

Sache sauber zu Ende bringen. Wir stellen uns hier ans<br />

Fenster und lassen uns zerfetzen. Wir können immer<br />

noch Geschichte machen. Genau. Wir lassen uns<br />

zerfetzen in Ehre.<br />

Was, du willst immer noch den Kniefall machen, vor<br />

diesem aufgeblasenen Männerschreck mit ihren<br />

Horror-Gesetzesszenarien? Dein Leben geben? Hätte<br />

sie sich so verhalten, wie wir es vorgeschlagen haben,<br />

wäre das alles gar nicht geschehen. Aber von nichts<br />

kommt nichts.<br />

Schau! Sie haben schweres Geschütz aufgefahren.<br />

Sie wollen uns an den Kragen.<br />

Aus diesem goldenen Käfig gibt es keinen Ausweg.<br />

Es ist aussichtslos. Ich sehe es... nun genau... vor mir.<br />

Lass uns zusammen... vergehen. Lass uns träumen vom<br />

milden Sommerabend, dem Spaziergang am Quai, der<br />

Liebe und der langen schwarzen Nacht.<br />

Hybria tritt auf.<br />

Wohin geht denn die Reise, Kinder? Süd – Nord – Ost<br />

– West? Im Süden sind die Nächte kürzer; aber das ist<br />

ja auch wieder nur Geschmackssache.<br />

Wir reisen in die Nacht. Komm mit uns, Hybria.<br />

Ich bin nicht Hybria. Ich bin die Susanne.<br />

Die Sache ist gelaufen. Wir müssen aufgeben. Da gibt<br />

es keinen Ausweg nicht mehr, Hybria.<br />

Mein Name ist Susanne.<br />

Hybria!<br />

Susanne, bitte.<br />

Wer bist du, Susanne?<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 24 -


Hybria<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

Altra 2<br />

Hybria<br />

Altra 1<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Tja, wart' mal. Ich bin die Susanne, ich bin total durchschnittlich,<br />

ich bin nicht besonders klug <strong>oder</strong> so, ich<br />

arbeite als Aushilfe bei einer Face-Stylistin, und das<br />

finde ich obergut, denn so komme ich den ganzen Tag<br />

mit Leuten zusammen. Dann habe ich noch eine<br />

Kollegin – Doris heisst sie…<br />

Das bist du.<br />

Und mit der Doris kann ich ganz super über jenste<br />

Sachen tratschen. Ich trage Intimschmuck, und an den<br />

Wochenenden besaufe ich mich meistens. Manchmal<br />

habe ich einfach keine Energie. Im Moment bin ich<br />

noch Single, aber ich träume von einem richtigen<br />

Mann, der immer kann. Dem gebäre ich ein Kind nach<br />

dem anderen. Ich bin Asthmatikerin. Die Anfälle sind<br />

in der Nacht am schlimmsten. Das wichtigste ist, dass<br />

man das Leben positiv sieht.<br />

Ich kann da nicht mitmachen.<br />

Oft habe ich das Gefühl, dass es nicht mehr weitergeht.<br />

Aber dann, wenn ich mir das genau überlege, bin ich ja<br />

die Susanne, und das ist schon viel. In meinem Beruf<br />

muss man halt sehr kreativ sein. Man muss auf die<br />

Leute eingehen. Mein Ziel ist es, aus Männern wieder<br />

Männer zu machen und aus Frauen Frauen. Dann wird<br />

die Welt wieder am rechten Fleck sein. Das ist unsere<br />

Rettung. Hinsetzen!<br />

Ein gepflegtes Äusseres ist der erste Schritt in die<br />

richtige Richtung. Schönheit kommt von innen, da aber<br />

das Innere hinfällig geworden ist, greifen wir halt tief<br />

in den Farbtopf. Frauen müssen Lippenstift tragen, rot,<br />

denn rote Lippen zeigen sexuelle Bereitschaft, was<br />

wiederum dem Wesen der Frau entspricht. Signal: Ich<br />

will. Männer tragen Schnurrbärte, weil – weil Männer<br />

eben Schnurrbärte tragen. Frauen haben schliesslich<br />

keine Schamhaare im Gesicht. Signal: Ich will auch.<br />

So, Ken und Barbie. Seid fröhlich und befriedigt euch.<br />

O Barbie, warum bist du Barbie?<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 25 -


Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Hybria<br />

O Ken, warum nur bist du Ken?<br />

O Barbie, warum bist du nur Barbie?<br />

O Ken!<br />

O Barbie!<br />

Komm, Nacht! Komm, Ken! Du wirst ruhn auf<br />

Fittichen der Nacht, wie fauler Schnee auf eines<br />

Knaben Rücken. Komm, düstre, liebevolle Nacht!<br />

Komm und gib mir meinen Ken! Und stirbt er einst,<br />

nimm ihn, zerhack in kleine Stücke ihn.<br />

Die Lerche ist's, nicht die Nachtigall.<br />

Die Lerche? Die Nachtigall!<br />

Die Lerche ist's.<br />

Nein, die Nachtigall ist's.<br />

Die Lerche ist's, nicht die Nachtigall. Die Nacht hat<br />

ihre Schmerzen vergällt.<br />

Die Nachtigall!<br />

Die Lerche!<br />

Glaubt mir, lieber Ken, es ist die Nachtigall.<br />

Es ist die Lerche. Lass dich noch einmal küssen.<br />

Ist der Mensch, <strong>oder</strong> ist er nicht? Und wenn – dann<br />

was? Was dann? Der Tod – <strong>oder</strong> auch nur der Schlaf.<br />

Sterben – schlafen – nicht's weiter. Sterben – schlafen<br />

– schlafen. Was in dem Schlaf für Träume kommen<br />

mögen? Kinder?<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 26 -


Statische/r 1<br />

Statische/r 2<br />

Statische/r 1<br />

Statische/r 2<br />

Statische/r 1<br />

Statische/r 2<br />

Das Ende der Geschichte<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Wir werden die Statischen genannt. Wir haben den<br />

höchsten Seinszustand erreicht. Wir gehen mit der Zeit,<br />

ohne in der Zeit zu weilen. Wir beobachten lediglich<br />

und reflektieren nie. Wir besingen diejenigen, die oben<br />

sind und schweigen über diejenigen, die unten sind.<br />

Die Umgebung verändert sich, wir jedoch nicht. Unser<br />

Gesang bleibt immer der gleiche.<br />

Wir sind die Statischen und haben kein Gemüt, was<br />

von Vorteil ist. Wer sich bewegt, sieht die Welt<br />

verschwommen. Wir aber bewahren unsere Distanz in<br />

jedem Falle und bleiben deshalb wertfrei. Es gehen alle<br />

einmal unter, das ist unsere Stärke. Du bist dran.<br />

Ich weiss nicht mehr weiter.<br />

Wir sind die Statischen und wissen nicht mehr weiter.<br />

Zu banal. Fatal.<br />

Wir sind die Statischen und wissen nicht mehr weiter,<br />

denn sie haben uns den Stoff weggenommen. Sie haben<br />

sich geweigert, mit Grösse unterzugehen. Sie haben<br />

nicht gehandelt, wie es geplant war. Sie haben ihre<br />

Aufgabe nicht erfüllt. Sie haben uns den Stoff<br />

weggenommen. Wir wissen nicht mehr weiter.<br />

Wir sind die Statischen, und wir protestieren energisch<br />

gegen ein solches Fehlverhalten. Wir verlangen sofort<br />

neuen Stoff, sonst geht die Chronik hier zu Ende. Euer<br />

Benehmen entbehrt jedes Sinnes für Verantwortung.<br />

Erhabenheit und Grösse, sonst schweigen wir. Das ist<br />

das Ende der Geschichte.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 27 -


Hybria<br />

Selbstliquidation<br />

mit Gummipuppe. Es ist alles da: Beinchen, Ärmchen,<br />

ein rundes Bäuchlein, die prallen Brüstelein, das<br />

Köpfelein mit dem Saugmäulchen und dem faserigen<br />

Haarimitat, wenn man ihr eine klebt, dann kreischt sie<br />

sogar; nur: Sie lebt nicht. Doch das macht nichts,<br />

schliesslich haben wir ja gelernt zu projizieren. Ich<br />

meine, seht sie euch an: Sie ist doch die ideale<br />

Projektionsfläche; sie bewegt sich nicht, eignet sich<br />

also für genaue Kopien. Sie nörgelt nicht, sie grinst<br />

nicht dumm, sie ist waschmaschinenbeständig,<br />

schmatzt nicht beim Essen und ist immer da, wenn man<br />

sie braucht. Kurz: Die m<strong>oder</strong>ne Partnerin für eine<br />

harmonische Zweierbeziehung. Garantiert schlagfest<br />

und stossicher. Vibriert überall und jederzeit und kriegt<br />

niemals den Schluckauf.<br />

Ich gebe mich zur Kopie frei. Ich verlange, als Kopie<br />

freigegeben zu werden. Das ist ein Befehl. Das ist mein<br />

Vermächtnis.<br />

Hybria erschiesst sich.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 28 -


Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Totenwache etc.<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Es ist vier Uhr morgens. Unsere Herrscherin ist tot.<br />

Wir bewachen ihre Überreste.<br />

Guten Abend, gute Nacht, mit Rasen bedeckt. Mit<br />

Nägeln besteckt. Schlupf – husch, husch – unter die<br />

Deck. Wirst nie mehr geweckt.<br />

Niemand ist gekommen. Niemand hat uns geholt.<br />

Niemand interessiert sich für uns. Uns will niemand.<br />

Nie mehr geweckt.<br />

Wir können nicht mehr raus. Unser Lebensraum beträgt<br />

eins, zwei, drei, vier, fünf; eins zwei, drei, vier,<br />

fünf. Fünf mal fünf. Exakt.<br />

Draussen Morgenluft, drinnen Leichenduft.<br />

Warum nicht fünf mal fünf. Schönheit lässt sich nicht<br />

einkerkern. Und ich bin schön. Ich bin Barbie. Alle<br />

Mädchen wollen so sein wie ich. So schön. Sag mir,<br />

dass ich schön bin, Ken.<br />

Du bist schön.<br />

Ich bin die Schönste.<br />

Du bist die Schönste.<br />

Meine Schönheit ist fünf mal fünf.<br />

Deine Schönheit ist unser Grab.<br />

Nimm mich, Ken. Sonst tut's doch niemand. Berühre<br />

mich! Zeig mir, dass du mich lieb hast! Ich bin es,<br />

deine Barbie!<br />

Du langweilst mich unsäglich.<br />

Ich verlasse dich, Ken. Ich gehe. Ich gehe jetzt. Fort<br />

bin ich! Ab.<br />

Es ist die Langeweile, die an uns nagt, Hybria. Das<br />

Wissen, dass ausserhalb von uns nichts ist. Das<br />

Wissen, dass in uns nichts ist, das wesentlich wäre. Du<br />

dachtest, du wärest wesentlich. Aber jetzt bist du nur<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 29 -


Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

wieder nichts. Ein Stück stinkender Abfall; ein Haufen<br />

übelriechender Glieder, das ist alles, was aus dir<br />

geworden ist, o edle Hybria. Man wird dich ersetzen.<br />

Eine andere wird an deine Stelle treten, und dann<br />

wieder ein anderer. Du bist nichts. In dir ist nicht<br />

einmal mehr ein Atemzug. Kein Hauch.<br />

kommt mit einer Gummipuppe zurück. Alles ist<br />

verbarrikadiert. Es riecht nach frischem Zement. Kein<br />

Ton, Totenstille. Dafür gähnt mich dies an. Tausendfach.<br />

Was erzählst du?<br />

Sieh nur! Hybria ist wieder da! Und unten hat es noch<br />

ganz viele! Wollen wir zusammen spielen?<br />

Altra 2 tanzt mit der Gummipuppe. Altra 1 ab.<br />

Hybria ist wieder da. Sie ist glatt und weich und kühl<br />

und gehört ganz mir. Sie hat den Rhythmus im Blut.<br />

Eine begnadete Tänzerin. Eins, zwei, drei, eins, zwei,<br />

drei, eins, zwei, drei. Hybria tanzt mit mir! Eins, zwei,<br />

drei. Meine Totentänzerin!<br />

Altra 1 kommt mit mehreren Gummipuppen zurück.<br />

Hier. Der Nachschub.<br />

Es gehört sich einer Königin nicht, am Boden zu<br />

liegen. Rauf auf den Sessel, der dir gebührt! Rauf auf<br />

den einsamen Thron! Mach es dir bequem.<br />

O Hybria, ich werde dir Gesellschaft leisten. Hybria,<br />

spiel mit mir. Ich bin es, deine Barbie. Findest du mich<br />

schön?<br />

Wir sind es, Ken und Barbie, dein liebstes Liebespaar.<br />

Herrsche über uns. Los, mach schon. Beherrsche uns.<br />

Die Königin ist tot!<br />

Altra 1 reisst die Gummipuppe vom Thron, während<br />

Altra 2 eine neue an ihren Platz setzt.<br />

Es lebe die Königin!<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 30 -


Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Altra 2<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

O Hybria, ich gratuliere dir zu deinem Amtsantritt und<br />

möchte dich meiner Untertänigkeit versichern. Meine<br />

Loyalität ist eine Festung, die nicht gestürmt werden<br />

kann.<br />

Ich bin dein Geschöpf, Hybria. Meine Zuneigung übertrifft<br />

alle vorstellbaren Dimensionen. Ich bin dir hörig.<br />

Ich höre?<br />

Aber wir wollen natürlich auch etwas von dir, eine<br />

Entschädigung für unsere Hingabe. Ein kleines Zeichen<br />

deiner Sympathie.<br />

Ein Lächeln!<br />

Ein Blick!<br />

Eine sanfte Berührung!<br />

Ein lobendes Wort!<br />

Sag mir, Hybria, bin ich schön? Bin ich schön, Hybria?<br />

Sag's mir!<br />

Die Königin ist tot!<br />

Altra 1 reisst die Gummipuppe vom Thron und lässt<br />

die Luft aus ihr raus, während Altra 2 eine neue an<br />

ihre Stelle setzt.<br />

Es lebe die Königin!<br />

Da ist gar nichts mehr drin. Nicht einmal ein Atemzug.<br />

Nichts. Nicht einmal ein bisschen abgestandene Luft.<br />

Kein Hauch.<br />

Du weisst gar nicht, wie ich dich vermisst habe. Ich<br />

habe wirklich viel über uns nachgedacht, als du weg<br />

warst. Weisst du, es ist manchmal so schwierig für<br />

mich, dich zu fühlen.<br />

Die Königin ist tot!<br />

Bringt weitere Gummipuppen. Altra 1 lässt immer<br />

noch die Luft raus.<br />

Ich wollte dir nicht weh tun, sicher nicht. Ich will dich<br />

auch nicht besitzen. Frei wie ein Vogel sollst du sein.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 31 -


Altra 1<br />

Altra 2<br />

Altra 1<br />

Aber du darfst mich nie mehr verlassen, hörst du, nie<br />

mehr!<br />

Die Königin ist tot!<br />

Bringt weitere Gummipuppen.<br />

Nie mehr wirst du mich verlassen. Sonst weiss ich<br />

nicht, was ich tun werde! Schön, wie du zuhören<br />

kannst... Was... Was willst du? Du! Du unersättliche<br />

Schlampe, du! Lass mich! Lass mich... Du... Du...<br />

Altra 2 küsst die Gummipuppe.<br />

Die Königin ist tot!<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

- 32 -


Altra 2<br />

Finale capriccioso<br />

<strong>Glaubet</strong> <strong>oder</strong> <strong>leidet</strong>!<br />

Da war einmal ein Mann, der ging als Sankt Nikolaus<br />

so um die Weihnachten herum, da war ein Mädchen<br />

und sein Vater. Und der Vater sagte: «Sieh, da ist der<br />

Sankt Nikolaus!» und der Sankt Nikolaus sagte: «Sieh,<br />

ich bin der Sankt Nikolaus und du bist das Mädchen!»<br />

Das Mädchen aber glaubte dem Vater nicht; es glaubte<br />

dem Sankt Nikolaus nicht, es glaubte nicht, und es<br />

sagte: «Du bist nicht Sankt Nikolaus, sondern nur ein<br />

Mann, der so um Weihnachten herum geht» und zog<br />

ihn zum Beweis fest am Bart. Da wurde der Sankt<br />

Nikolaus böse und boxte das Mädchen mitten ins<br />

Gesicht. Da wurde der Vater böse und riss dem Sankt<br />

Nikolaus die Kapuze samt Haaren vom Kopf. Das<br />

Mädchen weinte, aber der Bart blieb, denn er war echt.<br />

© Teaterverlag Elgg in Belp.<br />

Kein Bearbeitungs- und Kopierrecht.<br />

Kein Aufführungsrecht.<br />

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