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30 KULTUR JOKER NACHHALTIG<br />

Nucleoporose in Altmeilern<br />

Leise, schleichend und unbemerkt wie eine Osteoporose. Und schlimmer als ein Beinbruch. Ruckartige Veränderungen<br />

können zum „überraschenden“ Durchbruch führen<br />

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Es klingt wie eine Sensation:<br />

Der französische Reaktorbauer<br />

Framatome hat ein<br />

„wissenschaftlich-technisches<br />

System entwickelt, um mögliche<br />

Veränderungen bei Rissen<br />

verfolgen zu können.“ Es<br />

geht um Risse in sicherheitsrelevanten<br />

Großkomponenten<br />

in AKWs. In Fessenheim,<br />

Doel und Tihange sorgen Materialfehler<br />

immer wieder für<br />

Schlagzeilen. „Wir sind dabei,<br />

einen Roboter zu entwickeln,<br />

der die Reparaturen vornehmen<br />

soll“ so die vollmundige<br />

Ankündigung des Nukleargiganten,<br />

der darüber hinaus<br />

prahlte: „Theoretisch haben<br />

wir beide Probleme gelöst, das<br />

Erkennen der Risse und die<br />

Reparatur“ um dann mit dem<br />

satirischen Sahnehäubchen<br />

zu schließen: „Was bis heute<br />

nicht gelöst ist, das ist die Frage,<br />

wie dieser Roboter gebaut<br />

werden soll. Aber wir haben<br />

ja noch sechs bis acht Jahre<br />

Zeit. Wir werden bestimmt<br />

früher fertig sein. Wir haben<br />

überhaupt starke Zweifel, dass<br />

wir die Roboter je benutzen<br />

müssen. Wir werden sie aber<br />

gerne unseren Kollegen überall<br />

in der Welt zur Verfügung<br />

stellen, die vielleicht ähnliche<br />

Probleme haben werden.“ Obgleich<br />

dieses ungewollt-humoristische<br />

Feuerwerk schon fast<br />

40 Jahre alt ist, hat es offenbar<br />

nichts an Aktualität verloren.<br />

Um die Risse, die in den<br />

Reaktordruckbehältern der<br />

belgischen Reaktoren Doel<br />

3 und Tihange 2 2012 für internationale<br />

Schlagezeilen<br />

sorgten, hätte sich mit den<br />

fiktiven Wunder-Robotern von<br />

Framatome nicht der aktuelle<br />

Expertenstreit entfachen müssen,<br />

sondern es hätte zweifelsfrei<br />

geklärt werden können,<br />

ob die Risse nun gewachsen<br />

sind oder nicht. Stattdessen<br />

bekommt man den Eindruck,<br />

dass Wachstum oder Stillstand<br />

der Risse weitgehend<br />

von den Personen abhängt, die<br />

sie betrachten und begutachten.<br />

2012 wurden die beiden<br />

Blöcke von der Atomaufsicht<br />

FANC unter Willy de Roovere<br />

bis auf Weiteres stillgelegt.<br />

Man habe die Mikrorisse nur<br />

dank modernster Technik<br />

aufspüren können, behauptete<br />

der FANC-Direktor seinerzeit<br />

gegenüber der Zeitung der<br />

Morgen. Diese Falschaussage<br />

konterte die Zeitung mit dem<br />

Beleg aus dem eigenen Archiv:<br />

De Roovere hatte 1979<br />

im Auftrag von Electrabel den<br />

Bau und die Inbetriebnahme<br />

des Reaktors Doel 3 geleitet,<br />

als dieser wegen eben dieser<br />

Risse in die Schlagzeilen<br />

geriet. War es der Gedächtnisschwund<br />

oder die Après-<br />

Drehtür-Position, die ihn erst<br />

2012 veranlasste, eine weltweite<br />

Warnung ob der Risse<br />

auszusprechen?<br />

Anfang 2013 wechselte ein<br />

weiterer Electrabel-Kollege<br />

aus Doel durch die Drehtür in<br />

die Atomaufsicht, deren desaströses<br />

Image die Süddeutsche<br />

mit „Wie auf dem Misthaufen“<br />

beschrieb. Der neue Leiter<br />

Jan Bens ließ die Bröckelreaktoren<br />

im Juni 2013 wieder<br />

anfahren. Zum Verdruss des<br />

umstrittenen Atomaufsehers<br />

stellte der Werkstoffexperte<br />

Walter Bogaerts von der KU<br />

Leuwen in einem Gutachten<br />

2015 fest, daß Größe und Anzahl<br />

der Risse zunehmen. Der<br />

renommierte Professor vermutet<br />

als Ursache radiolytischen<br />

bzw. elektrolytischen Wasserstoff,<br />

einem äußerst diffusionsfreudigen<br />

Gas, welches<br />

also bei den kerntechnischen<br />

Prozessen innerhalb des<br />

Druckbehälters entsteht und<br />

in die Stahlwand übertritt.<br />

Atomaufseher Bens bekräftigte<br />

2017 nochmals, dass die<br />

Reaktoren „zu 101 Prozent<br />

sicher“ seien, nachdem ein<br />

weiteres Gutachten der KU<br />

Leuwen zeigen konnte, dass<br />

die Risse wachsen. Der Wissenschaftler<br />

Dr. René Boonen<br />

legte dar, dass mit der Hypothese<br />

von Electrabel, die besagt,<br />

dass Anzahl und Größe<br />

der Risse seit der Herstellung<br />

unverändert seien, „maximal<br />

1.000 bis 1.500 Risse erklärt<br />

werden können. Aber dass<br />

die zusätzlichen 10.000 Risse<br />

Universitäts-Professor, Diplom-Physiker, Volljurist und ehemaliger Chef der<br />

deutschen Atomaufsicht, Wolfgang Renneberg, analysierte im April <strong>2018</strong> auf<br />

der öffentlichen INRAG-Konferenz in Aachen, in welche Widersprüche sich die<br />

belgische Atomaufsicht FANC verstrickt hat, um die Riss-Reaktoren Doel 3 und<br />

Tihange 2 vor dem Aus zu bewahren. Aus vielen Parallelen zu Fessenheim lässt<br />

sich Relevantes fürs Dreiländereck ableiten<br />

bei der Herstellung des Reaktordruckbehälters<br />

entstanden<br />

sein sollen, das ist unmöglich.“<br />

Anhand von Materialspezifischen<br />

Daten belegte er,<br />

dass die Menge an Wasserstoff,<br />

die bei der Herstellung<br />

in den Stahl gelangen konnte,<br />

nicht ausreicht, um ein derart<br />

großes Volumen an Anomalien<br />

zu füllen: „Sie können<br />

auch mit einem Glas Bier<br />

keinen Eimer füllen.“ Darüber<br />

hinaus konnte er für 2014<br />

höhere Riss-Zahlen liefern, als<br />

für 2012.<br />

Der Atomsicherheitsexperte<br />

Dr. Wolfgang Renneberg<br />

legte im April <strong>2018</strong> auf der<br />

INRAG-Atomsicherheitsexperten-Konferenz<br />

den Finger<br />

in die Wunde:“ Wenn die<br />

Auffassung der FANC richtig<br />

ist, dass die Risse herstellungsbedingt<br />

seien, hätten sie<br />

in der Genehmigungs-Dokumentation<br />

auftauchen müssen.“<br />

Diesen Nachweis kann<br />

die FANC nicht bringen. Die<br />

Herstellungsdokumente sind<br />

auf wundersame Weise verschwunden<br />

und es gibt keine<br />

lückenlose Dokumentation der<br />

Rissentwicklung. „Dies begründet<br />

den Verdacht, dass die<br />

Dokumentationen über diese<br />

Risse vom Betreiber/Hersteller<br />

unterdrückt worden sind.<br />

Alleine diese Tatsache müsste<br />

zur vorläufigen Einstellung<br />

des Betriebs der Anlage führen“<br />

urteilt Renneberg, einst<br />

Deutschlands oberster Atomaufseher.<br />

Stattdessen versucht Electrabel<br />

das Schlimmste zu<br />

verhindern, indem man das<br />

Notkühl(!)Wasser bis auf<br />

45°C vorwärmt. Gegenüber<br />

den Atomsicherheitsexperten<br />

brachte Renneberg es auf den<br />

Punkt: „Die Frage, wann die<br />

Risse entstanden sind, ist eine<br />

Kernfrage für den Weiterbetrieb“.<br />

Um die Blöcke weiterlaufen<br />

zu lassen, musste also<br />

eine Expertise her, die bestätigt,<br />

dass die Risse immer<br />

schon da waren und nach 40<br />

Jahren unter hohem Druck,<br />

hohen Temperaturen, Neutronenbeschuss<br />

und permanenter<br />

Wasserstoffbildung unverändert<br />

sind. Diese Expertise hat<br />

nun ausgerechnet die deutsche<br />

Reaktor-Sicherheitskommission<br />

(RSK), welche die Bundesregierung<br />

berät, geliefert. Hier<br />

beißt sich die Katze abermals<br />

in den Schwanz, da die Bundesregierung<br />

im Juli 2017<br />

befand, aus ihrer Sicht „sind<br />

Schmiederinge, bei denen<br />

solche Anzeigen bei der Fertigung<br />

(wie bei Tihange 2/ Doel<br />

3) festgestellt werden, bereits<br />

bei der Fertigung zu verwerfen.“<br />

Das RSK-Gutachten hat<br />

einen weiteren faden Beigeschmack,<br />

denn zwei Mitarbeiter<br />

des Atomkonzerns Framatome<br />

saßen in dem Ausschuss,<br />

der eben dieses Gutachten<br />

ausgearbeitet hatte.<br />

Neben dem vorgewärmten<br />

Notkühlwasser gibt es eine<br />

weitere bemerkenswerte Parallele<br />

zu Fessenheim: Auch<br />

dort wurden vor der Inbetriebnahme<br />

Anomalien im<br />

Herzstück gefunden. Mit<br />

bloßem Auge fanden Framatome-Ingenieure<br />

Risse an den<br />

Ein- und Auslass-Stutzen (hot<br />

leg nozzles), also den am stärksten<br />

belasteten Komponenten,<br />

auf denen das gesamte<br />

Gewicht des Reaktorkerns<br />

ruht. So berichtete der Framatome-Sicherheitsexperte<br />

Shoja Etemad 1979 gegenüber<br />

dem WDR-Magazin Monitor<br />

(https://www.youtube.<br />

com/=RRold92Syr0&t=335s).<br />

Der Framatome-Wunder-<br />

Roboter ist offenbar Fiktion<br />

geblieben, eine Dokumentation<br />

zur Entwicklung dieser<br />

Risse ist nicht in Sicht. Man<br />

könnte also – nach belgischer<br />

Logik – auf die verrückte Idee<br />

kommen, dass die seit 40 Jahren<br />

bekannten Risse ein Sicherheitsgarant<br />

für die AKW<br />

wären. Es ist ja schließlich<br />

(noch) nichts passiert. Sollten<br />

jedoch die Druckbehälter nach<br />

dem Osteoporose-Prinzip<br />

– leise, schleichend und unbemerkt<br />

– verspröden, dann<br />

merken wir es erst, wenn es<br />

kracht. Vieles deutet darauf<br />

hin, dass die „Nucloeporose“<br />

in den Fessenheimer Reaktordruckbehältern<br />

weiterhin Zeit<br />

bekommt, um sich unbemerkt<br />

auszudehnen. Am 25. Juli gab<br />

EDF offiziell eine weitere Verzögerung<br />

der Inbetriebnahme<br />

von Flamanville auf Ende<br />

2019 / Anfang 2020 bekannt.<br />

Reflexartig gab die französische<br />

Regierung die Zügel<br />

aus der Hand und kündigte<br />

weitere Verzögerungen bei der<br />

Stilllegung von Fessenheim<br />

an. Es lohnt sich also, doch<br />

noch mal nachzufragen, wie<br />

sich die Risse Jahrgang 1979<br />

in Fessenheim entwickeln.<br />

Eva Stegen

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