_flip_joker_2018-08
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30 KULTUR JOKER NACHHALTIG<br />
Nucleoporose in Altmeilern<br />
Leise, schleichend und unbemerkt wie eine Osteoporose. Und schlimmer als ein Beinbruch. Ruckartige Veränderungen<br />
können zum „überraschenden“ Durchbruch führen<br />
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Es klingt wie eine Sensation:<br />
Der französische Reaktorbauer<br />
Framatome hat ein<br />
„wissenschaftlich-technisches<br />
System entwickelt, um mögliche<br />
Veränderungen bei Rissen<br />
verfolgen zu können.“ Es<br />
geht um Risse in sicherheitsrelevanten<br />
Großkomponenten<br />
in AKWs. In Fessenheim,<br />
Doel und Tihange sorgen Materialfehler<br />
immer wieder für<br />
Schlagzeilen. „Wir sind dabei,<br />
einen Roboter zu entwickeln,<br />
der die Reparaturen vornehmen<br />
soll“ so die vollmundige<br />
Ankündigung des Nukleargiganten,<br />
der darüber hinaus<br />
prahlte: „Theoretisch haben<br />
wir beide Probleme gelöst, das<br />
Erkennen der Risse und die<br />
Reparatur“ um dann mit dem<br />
satirischen Sahnehäubchen<br />
zu schließen: „Was bis heute<br />
nicht gelöst ist, das ist die Frage,<br />
wie dieser Roboter gebaut<br />
werden soll. Aber wir haben<br />
ja noch sechs bis acht Jahre<br />
Zeit. Wir werden bestimmt<br />
früher fertig sein. Wir haben<br />
überhaupt starke Zweifel, dass<br />
wir die Roboter je benutzen<br />
müssen. Wir werden sie aber<br />
gerne unseren Kollegen überall<br />
in der Welt zur Verfügung<br />
stellen, die vielleicht ähnliche<br />
Probleme haben werden.“ Obgleich<br />
dieses ungewollt-humoristische<br />
Feuerwerk schon fast<br />
40 Jahre alt ist, hat es offenbar<br />
nichts an Aktualität verloren.<br />
Um die Risse, die in den<br />
Reaktordruckbehältern der<br />
belgischen Reaktoren Doel<br />
3 und Tihange 2 2012 für internationale<br />
Schlagezeilen<br />
sorgten, hätte sich mit den<br />
fiktiven Wunder-Robotern von<br />
Framatome nicht der aktuelle<br />
Expertenstreit entfachen müssen,<br />
sondern es hätte zweifelsfrei<br />
geklärt werden können,<br />
ob die Risse nun gewachsen<br />
sind oder nicht. Stattdessen<br />
bekommt man den Eindruck,<br />
dass Wachstum oder Stillstand<br />
der Risse weitgehend<br />
von den Personen abhängt, die<br />
sie betrachten und begutachten.<br />
2012 wurden die beiden<br />
Blöcke von der Atomaufsicht<br />
FANC unter Willy de Roovere<br />
bis auf Weiteres stillgelegt.<br />
Man habe die Mikrorisse nur<br />
dank modernster Technik<br />
aufspüren können, behauptete<br />
der FANC-Direktor seinerzeit<br />
gegenüber der Zeitung der<br />
Morgen. Diese Falschaussage<br />
konterte die Zeitung mit dem<br />
Beleg aus dem eigenen Archiv:<br />
De Roovere hatte 1979<br />
im Auftrag von Electrabel den<br />
Bau und die Inbetriebnahme<br />
des Reaktors Doel 3 geleitet,<br />
als dieser wegen eben dieser<br />
Risse in die Schlagzeilen<br />
geriet. War es der Gedächtnisschwund<br />
oder die Après-<br />
Drehtür-Position, die ihn erst<br />
2012 veranlasste, eine weltweite<br />
Warnung ob der Risse<br />
auszusprechen?<br />
Anfang 2013 wechselte ein<br />
weiterer Electrabel-Kollege<br />
aus Doel durch die Drehtür in<br />
die Atomaufsicht, deren desaströses<br />
Image die Süddeutsche<br />
mit „Wie auf dem Misthaufen“<br />
beschrieb. Der neue Leiter<br />
Jan Bens ließ die Bröckelreaktoren<br />
im Juni 2013 wieder<br />
anfahren. Zum Verdruss des<br />
umstrittenen Atomaufsehers<br />
stellte der Werkstoffexperte<br />
Walter Bogaerts von der KU<br />
Leuwen in einem Gutachten<br />
2015 fest, daß Größe und Anzahl<br />
der Risse zunehmen. Der<br />
renommierte Professor vermutet<br />
als Ursache radiolytischen<br />
bzw. elektrolytischen Wasserstoff,<br />
einem äußerst diffusionsfreudigen<br />
Gas, welches<br />
also bei den kerntechnischen<br />
Prozessen innerhalb des<br />
Druckbehälters entsteht und<br />
in die Stahlwand übertritt.<br />
Atomaufseher Bens bekräftigte<br />
2017 nochmals, dass die<br />
Reaktoren „zu 101 Prozent<br />
sicher“ seien, nachdem ein<br />
weiteres Gutachten der KU<br />
Leuwen zeigen konnte, dass<br />
die Risse wachsen. Der Wissenschaftler<br />
Dr. René Boonen<br />
legte dar, dass mit der Hypothese<br />
von Electrabel, die besagt,<br />
dass Anzahl und Größe<br />
der Risse seit der Herstellung<br />
unverändert seien, „maximal<br />
1.000 bis 1.500 Risse erklärt<br />
werden können. Aber dass<br />
die zusätzlichen 10.000 Risse<br />
Universitäts-Professor, Diplom-Physiker, Volljurist und ehemaliger Chef der<br />
deutschen Atomaufsicht, Wolfgang Renneberg, analysierte im April <strong>2018</strong> auf<br />
der öffentlichen INRAG-Konferenz in Aachen, in welche Widersprüche sich die<br />
belgische Atomaufsicht FANC verstrickt hat, um die Riss-Reaktoren Doel 3 und<br />
Tihange 2 vor dem Aus zu bewahren. Aus vielen Parallelen zu Fessenheim lässt<br />
sich Relevantes fürs Dreiländereck ableiten<br />
bei der Herstellung des Reaktordruckbehälters<br />
entstanden<br />
sein sollen, das ist unmöglich.“<br />
Anhand von Materialspezifischen<br />
Daten belegte er,<br />
dass die Menge an Wasserstoff,<br />
die bei der Herstellung<br />
in den Stahl gelangen konnte,<br />
nicht ausreicht, um ein derart<br />
großes Volumen an Anomalien<br />
zu füllen: „Sie können<br />
auch mit einem Glas Bier<br />
keinen Eimer füllen.“ Darüber<br />
hinaus konnte er für 2014<br />
höhere Riss-Zahlen liefern, als<br />
für 2012.<br />
Der Atomsicherheitsexperte<br />
Dr. Wolfgang Renneberg<br />
legte im April <strong>2018</strong> auf der<br />
INRAG-Atomsicherheitsexperten-Konferenz<br />
den Finger<br />
in die Wunde:“ Wenn die<br />
Auffassung der FANC richtig<br />
ist, dass die Risse herstellungsbedingt<br />
seien, hätten sie<br />
in der Genehmigungs-Dokumentation<br />
auftauchen müssen.“<br />
Diesen Nachweis kann<br />
die FANC nicht bringen. Die<br />
Herstellungsdokumente sind<br />
auf wundersame Weise verschwunden<br />
und es gibt keine<br />
lückenlose Dokumentation der<br />
Rissentwicklung. „Dies begründet<br />
den Verdacht, dass die<br />
Dokumentationen über diese<br />
Risse vom Betreiber/Hersteller<br />
unterdrückt worden sind.<br />
Alleine diese Tatsache müsste<br />
zur vorläufigen Einstellung<br />
des Betriebs der Anlage führen“<br />
urteilt Renneberg, einst<br />
Deutschlands oberster Atomaufseher.<br />
Stattdessen versucht Electrabel<br />
das Schlimmste zu<br />
verhindern, indem man das<br />
Notkühl(!)Wasser bis auf<br />
45°C vorwärmt. Gegenüber<br />
den Atomsicherheitsexperten<br />
brachte Renneberg es auf den<br />
Punkt: „Die Frage, wann die<br />
Risse entstanden sind, ist eine<br />
Kernfrage für den Weiterbetrieb“.<br />
Um die Blöcke weiterlaufen<br />
zu lassen, musste also<br />
eine Expertise her, die bestätigt,<br />
dass die Risse immer<br />
schon da waren und nach 40<br />
Jahren unter hohem Druck,<br />
hohen Temperaturen, Neutronenbeschuss<br />
und permanenter<br />
Wasserstoffbildung unverändert<br />
sind. Diese Expertise hat<br />
nun ausgerechnet die deutsche<br />
Reaktor-Sicherheitskommission<br />
(RSK), welche die Bundesregierung<br />
berät, geliefert. Hier<br />
beißt sich die Katze abermals<br />
in den Schwanz, da die Bundesregierung<br />
im Juli 2017<br />
befand, aus ihrer Sicht „sind<br />
Schmiederinge, bei denen<br />
solche Anzeigen bei der Fertigung<br />
(wie bei Tihange 2/ Doel<br />
3) festgestellt werden, bereits<br />
bei der Fertigung zu verwerfen.“<br />
Das RSK-Gutachten hat<br />
einen weiteren faden Beigeschmack,<br />
denn zwei Mitarbeiter<br />
des Atomkonzerns Framatome<br />
saßen in dem Ausschuss,<br />
der eben dieses Gutachten<br />
ausgearbeitet hatte.<br />
Neben dem vorgewärmten<br />
Notkühlwasser gibt es eine<br />
weitere bemerkenswerte Parallele<br />
zu Fessenheim: Auch<br />
dort wurden vor der Inbetriebnahme<br />
Anomalien im<br />
Herzstück gefunden. Mit<br />
bloßem Auge fanden Framatome-Ingenieure<br />
Risse an den<br />
Ein- und Auslass-Stutzen (hot<br />
leg nozzles), also den am stärksten<br />
belasteten Komponenten,<br />
auf denen das gesamte<br />
Gewicht des Reaktorkerns<br />
ruht. So berichtete der Framatome-Sicherheitsexperte<br />
Shoja Etemad 1979 gegenüber<br />
dem WDR-Magazin Monitor<br />
(https://www.youtube.<br />
com/=RRold92Syr0&t=335s).<br />
Der Framatome-Wunder-<br />
Roboter ist offenbar Fiktion<br />
geblieben, eine Dokumentation<br />
zur Entwicklung dieser<br />
Risse ist nicht in Sicht. Man<br />
könnte also – nach belgischer<br />
Logik – auf die verrückte Idee<br />
kommen, dass die seit 40 Jahren<br />
bekannten Risse ein Sicherheitsgarant<br />
für die AKW<br />
wären. Es ist ja schließlich<br />
(noch) nichts passiert. Sollten<br />
jedoch die Druckbehälter nach<br />
dem Osteoporose-Prinzip<br />
– leise, schleichend und unbemerkt<br />
– verspröden, dann<br />
merken wir es erst, wenn es<br />
kracht. Vieles deutet darauf<br />
hin, dass die „Nucloeporose“<br />
in den Fessenheimer Reaktordruckbehältern<br />
weiterhin Zeit<br />
bekommt, um sich unbemerkt<br />
auszudehnen. Am 25. Juli gab<br />
EDF offiziell eine weitere Verzögerung<br />
der Inbetriebnahme<br />
von Flamanville auf Ende<br />
2019 / Anfang 2020 bekannt.<br />
Reflexartig gab die französische<br />
Regierung die Zügel<br />
aus der Hand und kündigte<br />
weitere Verzögerungen bei der<br />
Stilllegung von Fessenheim<br />
an. Es lohnt sich also, doch<br />
noch mal nachzufragen, wie<br />
sich die Risse Jahrgang 1979<br />
in Fessenheim entwickeln.<br />
Eva Stegen