_flip_joker_2018-08
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6 KULTUR JOKER THEATER<br />
Ästhetische Ausgrabung und bezaubernder Blockbuster<br />
„Beatrice Cenci“ und „Carmen“ werden bei den Bregenzer Festspielen bejubelt<br />
Die Opferkerzen auf dem breiten<br />
Glas-Sarkophag brennen, die<br />
Goldmünzen im Inneren glänzen.<br />
Zu den wuchtigen Klängen der<br />
Ouvertüre von Berthold Goldschmidts<br />
1950 komponierter Oper<br />
„Beatrice Cenci“ zur Eröffnung<br />
der Bregenzer Festspiele schafft<br />
Regisseur Johannes Erath mit<br />
seiner Bühnenbildnerin Katrin<br />
Connan zu Beginn ein starkes<br />
Bild für die Verbindung von religiöser<br />
Inbrunst und grenzenlosem<br />
Reichtum. Die Geistlichen kombinieren<br />
ihre zwischen Pink, Violett<br />
und Orange gehaltenen Soutanen<br />
mit Sonnenbrillen. Dekadenz<br />
spricht aus jedem Rockzipfel (Kostüme:<br />
Katharina Tasch).<br />
Die Oper erzählt die wahre<br />
Geschichte des brutalen, von der<br />
Kirche gedeckten Machthabers<br />
Francesco Cenci im Rom der<br />
Spätrenaissance. Die von ihm<br />
vergewaltigte Tochter Beatrice<br />
und die ebenfalls von Francesco<br />
gepeinigte zweite Ehefrau Lucrezia<br />
lassen den Tyrannen ermorden<br />
– und werden am Ende selbst hingerichtet.<br />
Berthold Goldschmidt<br />
(1903-1996) hatte die Oper 1950<br />
im Londoner Exil komponiert,<br />
in das der jüdische Dirigent und<br />
Komponist 1935 aus Nazideutschland<br />
geflohen war. Zuvor war die<br />
Berliner Premiere seiner 1932 in<br />
Mannheim uraufgeführten ersten<br />
Oper „Der gewaltige Hahnrei“<br />
durch die Nationalsozialisten<br />
verboten worden. Anders als in<br />
seinem Opernerstling zeigt sich<br />
Goldschmidt in „Beatrice Cenci“<br />
milder. Der Brutalität der Vorlage<br />
geht er aus dem Weg. Seine immer<br />
noch tonal gebundene Musik<br />
mäandert zwischen Monumentalität<br />
und kammermusikalischer<br />
Intimität, zwischen kontrapunktischen,<br />
eher spröde klingenden<br />
Barockallusionen und spätromantischer<br />
Üppigkeit, zwischen<br />
dunklen Orchesterfarben und<br />
süßlichen Violinsoli. Damit war er<br />
in der vom Serialismus geprägten<br />
Herausgeber:<br />
Helmut Schlieper (V.i.S.d.P.)<br />
Verlag:<br />
Art Media Verlagsgesellschaft mbH<br />
Auerstr. 2 • 791<strong>08</strong> Freiburg<br />
Redaktionsleitung:<br />
Christel Jockers<br />
Redaktion:<br />
Cornelia Frenkel<br />
Peter Frömmig<br />
Annette Hoffmann<br />
Marion Klötzer<br />
Manuel Kreitmeier<br />
Nike Luber<br />
Fabian Lutz<br />
Georg Rudiger<br />
Claus Weissbarth<br />
Friederike Zimmermann<br />
Terminredaktion:<br />
Valentin Heneka<br />
„Beatrice Cenci“ (Foto oben u. rechts), „Carmen“ (Foto links) bei den Bregenzer Festspielen<br />
Nachkriegs-Avantgarde ein Außenseiter<br />
und verfiel in ein langes<br />
kompositorisches Schweigen, ehe<br />
er Ende der 1980er-Jahre wieder<br />
entdeckt wurde. 1992 wurde<br />
„Der gewaltige Hahnrei“ in Berlin<br />
aufgeführt, 1994 folgten Aufführungen<br />
von „Beatrice Cenci“ in<br />
Berlin (konzertant) und Magdeburg<br />
(szenisch) in der englischen<br />
Originalfassung.<br />
Für die österreichische Erstaufführung<br />
im Bregenzer Festspielhaus<br />
entschied man sich erstmals<br />
Layout :<br />
Christian Oehms<br />
Telefon: 0761 / 72072<br />
Fax: 0761 / 74972<br />
e-mail: grafik@kultur<strong>joker</strong>.de<br />
redaktion@kultur<strong>joker</strong>.de<br />
Anzeigen:<br />
Tel.: 0761 / 72072<br />
Druck:<br />
Rheinpfalz Verlag und Druckerei<br />
GmbH & Co. KG, Ludwigshafen<br />
Das Copyright für vom Verlag gestaltete<br />
Anzeigen und Artikel liegt beim Verlag.<br />
Nachdruck, auch nur auszugsweise, nur mit<br />
schriftlicher Genehmigung des Verlages.<br />
Für unverlangt eingesandte Manuskripte,<br />
Fotos, Vorlagen und für Programmhinweise<br />
kann keine Garantie übernommen werden,<br />
sie sind aber herzlich willkommen.<br />
für die vom Komponisten angefertigte<br />
deutsche Textversion.<br />
Allerdings vermag auch sie nicht,<br />
dem Stoff klarere Konturen zu<br />
geben. Es fehlt den Figuren vor<br />
allem an musikalischer Identität.<br />
Dramatische Entwicklungen<br />
werden abgebrochen, bevor sie<br />
sich überhaupt entfalten können.<br />
Die Abgründe bleiben verborgen<br />
oder sind seltsam distanziert. Als<br />
Belcanto-Oper hatte der Komponist<br />
sein Werk bezeichnet und<br />
damit die gesanglichen Linien<br />
gemeint, mit denen er die Hauptpartien<br />
gestaltete. Diese können<br />
auch in stratosphärische Höhen<br />
reichen, die Gal James als Beatrice<br />
sicher bewältigt. Ihr zunächst<br />
zu eindimensionaler, stark vibrierter<br />
Sopran gewinnt im Laufe<br />
des Abends mehr Zwischentöne.<br />
Trotzdem bleibt diese geschändete<br />
Frau mit ihrer roten Perücke und<br />
dem Puppenkleid seltsam distanziert.<br />
Christoph Pohl schenkt<br />
dem dauergeilen, brutalen Vater<br />
weiche Kantilenen und selbstbewusste<br />
Posen. Dieser selbstgefällige<br />
Francesco Cenci mit<br />
seinem nackten Oberkörper und<br />
dem goldenen Penisschutz erhält<br />
noch am ehesten Profil. Dshamilja<br />
Kaiser gefällt als Stiefmutter Lucrezia<br />
mit sattem, farbenreichem<br />
Mezzo. Michael Laurenz singt<br />
den intriganten Prälaten Orsino<br />
mit leuchtendem Tenor, Christina<br />
Bock macht aus Beatrices Bruder<br />
Bernardo einen ebenfalls puppenhaften<br />
Leidensgenossen. Per Bach<br />
Nissen ist ein klangmächtiger, in<br />
der Tiefe schwachbrüstiger Kardinal.<br />
Regisseur Johannes Erath<br />
versucht es erst gar nicht, den<br />
Figuren Leben einzuhauchen,<br />
sondern stellt sie in ästhetischen,<br />
aber nur selten zwingenden Bildern<br />
zusammen. Eine Abendmahlsszene<br />
wird zur Orgie, ein<br />
Kerzentisch zum gläsernen Sarg.<br />
Da sorgt auch das runde, an ein<br />
Kameraobjektiv erinnerndes<br />
Bühnenzentrum, in dem sich<br />
Beatrice und Lucrezia verlieren,<br />
für zu wenig Tiefenschärfe. Diese<br />
fehlt auch den Wienern Symphonikern<br />
unter ihrem Dirigenten Johannes<br />
Debus. Zwar widmet sich<br />
das Orchester durchaus mit hoher<br />
klanglicher Qualität und einer<br />
guten Balance der vielschichtigen<br />
Partitur, aber mitunter fransen<br />
die Ränder aus und sind Einsätze<br />
nicht zusammen. Die Musik<br />
entwickelt keine Sogwirkung,<br />
was aber auch der zwischen den<br />
Stilen changierenden, häufig auf<br />
der Stelle tretenden Komposition<br />
anzukreiden ist. Wenn Dmitri<br />
Schostakowitsch ein Xylophon bei<br />
Ausdruckshöhepunkten verwendet,<br />
dann erzeugt es Gänsehaut –<br />
bei Goldschmidt eher ein Schulterzucken.<br />
Am Ende schreitet der<br />
Prager Philharmonische Chor in<br />
schwarzen 20er-Jahre-Kostümen<br />
aus der Tiefe des Raums nach vorne<br />
und stimmt ein Requiem für<br />
die beiden exekutierten Frauen<br />
an. Ein Quantum Trost beschließt<br />
den düsteren, rätselhaften Abend<br />
– und Bernardo zündet eine letzte<br />
Kerze an.<br />
„Carmen“<br />
Im letzten Jahr saßen die Premierenbesucher<br />
von „Carmen“<br />
auf der Bregenzer Seebühne im<br />
Regen und konnten sich unter<br />
ihren knisternden Capes nur mit<br />
viel Fantasie das hitzige Geschehen<br />
in Sevilla vorstellen. Bei der<br />
Wiederaufnahme der mit 193 000<br />
Fotos: Karl Forster<br />
Besuchern höchst erfolgreichen<br />
Produktion des Jahres 2017<br />
stimmt alles. Der Himmel ist an<br />
diesem lauen Sommerabend so<br />
rosa wie die 20 Meter hohen, tätowierten<br />
Arme, die neben den<br />
fliegenden Spielkarten die Bühne<br />
von Es Devlin prägen. Auch<br />
die von Regisseur Kasper Holten<br />
überarbeitete Personenführung<br />
wirkt noch schlüssiger bis zum erschütternden<br />
Ertränken Carmens<br />
im Bodensee. Dirigent Antonino<br />
Fogliani wählt bei einzelnen<br />
Nummern wie der Habanera gemäßigtere<br />
Tempi als Paolo Carignani<br />
im Vorjahr, ohne dabei den<br />
musikalischen Fluss der Wiener<br />
Symphoniker zu verlieren. Der<br />
neu besetzte Kostas Smoriginas<br />
als kräftiger, aber nicht dröhnender<br />
Escamillo und Cristina<br />
Pasaroiu als durchaus selbstbewusste<br />
Micaëla überzeugen. Nur<br />
Daniel Johansson (Don José)<br />
kämpft sich mit wechselndem Erfolg<br />
und immer wieder forcierter<br />
Stimmgebung durch den Abend.<br />
Dafür ist Gaëlle Arquez erneut<br />
eine überragende, vielschichtige<br />
Carmen, die viele Nuancen auf<br />
die Seebühne zaubert.<br />
Bregenzer Festspiele, noch bis<br />
20. August <strong>2018</strong>, Tickets unter<br />
www.bregenzerfestspiele.com<br />
Georg Rudiger