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Berliner Zeitung 18.10.2018

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 243 · D onnerstag, 18. Oktober 2018 3<br />

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Seite 3<br />

An einem Budapester Nachmittag,<br />

beginnt Anna Lénárds nächste Suche.<br />

Kühler Wind zieht über den<br />

Gardonyi-Platz im hügeligen<br />

Buda-Teil der ungarischen Hauptstadt,<br />

Lénárd zieht ihr Tuch enger um den Kopf.<br />

Hinter ihrVerkehr,neben ihr Jugendstilfassaden,<br />

vor ihr 18 Köpfe –alle starren in ihre<br />

Richtung. Lénárds Gefolgschaft.<br />

Nur wenige Gehminuten entfernt hängt<br />

wuchtig die Freiheitsbrücke über der Donau,<br />

thront die berühmte Gellert-Therme am<br />

Hang des gleichnamigen Berges. Doch von<br />

den Wahrzeichen der Stadt möchte niemand<br />

etwas wissen. Lénárds Gruppe will stattdessen<br />

„der größten Gefahr Ungarns“, dem<br />

„Grund für den Untergang Europas“ ins<br />

Auge sehen: dem Islam.<br />

Mehr scheint nicht übriggeblieben zu<br />

sein von der zweitgrößten Weltreligion mit<br />

über 1,8 Milliarden Anhängern. Zumindest<br />

wenn man Ungarns MinisterpräsidentViktor<br />

Orban und anderen Rechtspopulisten in Europa<br />

zuhört. Für die sind Muslime vor allem<br />

Krieger im Kampf der Kulturen –Islam gegen<br />

Christentum, Endzeitstimmung pur.<br />

Doch in Wahrheit muss man den Islam in<br />

Budapest suchen. Oder Anna Lénárdfragen.<br />

„Der Islam“, sagt sie, „ist hier fast unsichtbar.“<br />

Doch die 47-Jährige kennt die Hinterhöfe<br />

und Ausfallstraßen, wo Muslime leben,<br />

arbeiten und beten. Einmal im Monat heften<br />

sich bis zu 25 Menschen an Lénárds Fersen<br />

wie Detektive. Siefolgen ihr auf der „Muslim<br />

Walking Tour“ –nicht mehr als eine Stadtführung,<br />

doch in Ungarneinzigartig<br />

Seit 2015 Tausende von Flüchtlingen aus<br />

Syrien, Irak oder Afghanistan am Budapester<br />

Keleti-Bahnhof strandeten, schürt die ungarische<br />

Regierung unter Ministerpräsident<br />

Viktor Orban die Stimmung gegen Migranten<br />

und den Islam. Orban glaubt, „dass eine<br />

hohe Zahl an Muslimen notwendigerweise<br />

zu Parallelgesellschaften führt“ und sieht<br />

Ungarn bedroht von„muslimischen Invasoren“.<br />

Parteitage unter dem Motto „Lasst uns<br />

Ungarn beschützen“, Wahlplakate mit Fotos<br />

von Migranten und einem großen „Stopp“-<br />

Zeichen darüber, dazu Orban-Interviews im<br />

staatlichen Kossuth Radio: „In Westeuropa<br />

müssen sich die jungen Leute darauf einstellen,<br />

angesichts muslimischer Zuwanderung<br />

in die Minderheit zu geraten.“<br />

Moschee im Hinterhof<br />

Orban gewann die Parlamentswahlen im<br />

April. Fast 50 Prozent der Ungarn stimmten<br />

für ihre alte Regierung. Laut einer Umfrage<br />

des US-Forschungsinstituts PEW aus dem<br />

Jahr 2016 haben über 75 Prozent der Ungarn<br />

eine negative Sicht auf Muslime und glauben,<br />

dass Flüchtlinge die Wahrscheinlichkeit<br />

von Terroranschlägen in ihrem Land erhöhen<br />

–das sind über 25 Prozent mehr als im<br />

Durchschnitt der Europäischen Union.<br />

„Jeder in Ungarn reagiert sehr emotional<br />

auf das Thema“, sagt Anna Lénárd. Sie will<br />

zeigen, dass es ein muslimisches Leben in<br />

Budapest gibt, will aufklären, wie die Realität<br />

hinter den Moschee-Türen aussieht. Eine informelle<br />

Erziehungstour, unabhängig von<br />

den Einflüssen der Staatsmedien, so nennt<br />

sie ihreAufgabe.<br />

DieGruppe trifft sich mit Anna Lénárdam<br />

zentral gelegenen Gardonyi-Platz, zieht von<br />

dortaus über die Straße auf einen trostlosen<br />

Hinterhof. Ein einfaches, dunkelgrünes<br />

Schild mit weißer Schrift verrät das erste Ziel<br />

der Muslim Tour:die Masjid Dar-As-Salam.<br />

Die Moschee des Friedens ist eine der ältesten<br />

Moscheen in Budapest, sie wurde<br />

1996 eröffnet. Noch 22 Jahre später ist die<br />

Moschee im Hinterhof nicht mehr als ein Gebetsraum<br />

mit Platz für hundert Betende. Sie<br />

ist ausgelegt mit rotem, weichem Teppich<br />

und durch eine eingezogene zweite Holzempore<br />

unterteilt in Gebetsplätze für Männer<br />

und für Frauen. Muezzin Abdul Bashir und<br />

seine Frau begrüßen mit Teeund Datteln.<br />

Durch hohe Altbaufenster sickert schwaches<br />

Tageslicht in den Raum, im vorderen<br />

Bereich hüpfen Kleinkinder über den Teppich,<br />

auf dem vorder Wand mit einer digitalen<br />

Gebetszeituhr drei Männer knien. Gesicht<br />

Richtung Mekka, bereiten sie sich auf<br />

ihr Gebet vor. Dahinter, ineinem Stuhlkreis<br />

und etwas schüchtern, Lénárds Gruppe.Fragen<br />

werden keine gestellt. Man sitzt. Kaut<br />

Datteln. Hörtzu. Es gibt Basiswissen:Wiebeten<br />

Muslime? Wie ist eine Moschee aufgebaut?<br />

Wassind die fünf Säulen des Islam?<br />

Für Muezzin Bashir, stilecht in grauem<br />

Kaftan, und Alwani Samer,den Büroleiter der<br />

Moschee, weltlich in dunkler Hose und hellblauem<br />

Hemd, ist Lénárd mittlerweile mehr<br />

als eine gute Bekannte.Seit drei Jahren gibt es<br />

die Muslim Walking Tour,seit drei Jahren liegt<br />

die Moschee auf ihrer Route. „Anna kam in<br />

unsere Moschee und fragte, ob wir eine<br />

Etappe auf der Tour sein wollen“, sagt Samer.<br />

„Für uns ist dies ein guterWeg, um unsereReligion<br />

vorzustellen und zu zeigen, was wir machen.“<br />

AndereÖffentlichkeitsarbeit der Muslime<br />

gibt es in Budapest so gut wie nicht, ein<br />

Blick auf Budapest<br />

Die<br />

Islam-Suche<br />

Ungarn –inkeinem anderen europäischen Land macht eine Regierung so<br />

sehr Stimmung gegen Muslime und Migranten.<br />

Doch vor Ort ist der Islam nur schwer zu finden. Es sei denn,<br />

man folgt Anna Lénárd durch Budapest<br />

„Tag der offenen Moschee“ wie in Deutschland<br />

ist hier unbekannt.<br />

DieHinterhofmoschee ist klein und familiär,Bashir<br />

und Samer leben seit über dreißig<br />

Jahren in Budapest. Sie sprechen fließend<br />

Ungarisch. Während Muezzin Bashir dasGebet<br />

vorbereitet, erzählt Samer von den Zeiten,<br />

als Ungarn noch kommunistisch war<br />

und er selbst nicht als verdächtiger Moslem<br />

galt, sondern als hoffnungsvoller Student,<br />

der per Stipendium in den befreundeten<br />

Bruderstaat Ungarn kam –aus Syrien. Der<br />

Kontakt zu den Kommilitonen war schnell<br />

hergestellt, und für den Aufbau einer neuen<br />

sozialistischen Zukunft spielte die Religion<br />

in den 70er-Jahren und Anfang der 80er, als<br />

viele Studenten aus Syrien und Afghanistan<br />

nach Ungarnkamen, keine Rolle.<br />

1988, kurz vor Ende des Regimes, wurde<br />

der Islam offiziell in Ungarn als Religion anerkannt.<br />

Studentzusein, warfür Samer kein<br />

Problem. Praktizierender Muslim schon<br />

eher:„Alsich nach Budapest kam, gab es hier<br />

nicht einmal eine Moschee“, sagt Samer.<br />

„Um überhaupt beten zu können, mietete<br />

ich mit ein paar muslimischen Kommilitonen<br />

einen Raum neben unseren Schlafsälen<br />

in der Uni. Zwei Stunden, jeden Freitag.“<br />

VonPatrick Witte, Budapest<br />

Die Aufklärerin: Anna Lénárd organisiert<br />

die Muslim Walking Tour. ZEITENSPIEGEL/S. MONTAG<br />

GETTY IMAGES<br />

Vielleicht HundertMuslime gab es zu diesen<br />

Zeiten, fast allesamt Studenten, sagt Samer.Viele<br />

kehrten zurück in ihreHeimat, Samer<br />

blieb und heiratete, nahm 1996 die ungarische<br />

Staatsbürgerschaft an. Er meint:<br />

„Wenn Einwanderer Ungarisch sprechen<br />

und lange genug hier leben, gibt es überhaupt<br />

keine Probleme.“<br />

Dennoch gab es nach 2015, als rechte Parteien<br />

Ungarns erst voneiner Flüchtlingskrise<br />

und dann von einer Muslimkrise sprachen,<br />

einige „Chaoten“ wie Samer sie nennt, die<br />

„Muslime raus“auf die Mauern derMoschee<br />

sprühten. Samer winkt ab: „Die Staatspolizei<br />

kümmerte sich gleich und fragte,obesnoch<br />

weitere Probleme gäbe.“ Gab esnicht. Die<br />

Propaganda der Regierung verletze ihn sagt<br />

er. „Ich weiß, dass die Politiker auf unsere<br />

Kosten Stimmung schüren. Weil sie an der<br />

Macht bleiben wollen. Und wir Muslime zu<br />

wenige sind, um uns wehren zu können.“<br />

Für Jahrzehnte lebten MuslimeinUngarn<br />

„unter dem Radar“, wie Anna Lénárdsagt. Es<br />

gab einfach zu wenige –nicht einmal ein Prozent<br />

der Bevölkerung in dieser überwiegend<br />

römisch-katholischen Nation. Nach Schätzungen<br />

leben heute 40 000 Muslime im<br />

Land. Dass es überhaupt soetwas wie eine<br />

muslimische Gemeinde gibt, wissen die wenigsten<br />

Ungarn.<br />

Im kommunistischen Ungarngab es kein<br />

Schulfach für Religion, und nach der Revolution<br />

1989 hatten die Ungarnmit den Problemen<br />

des Umbruchs zu kämpfen. Islam und<br />

Muslimekamen allenfalls als Auslandsnachrichtenindie<br />

Wohnzimmer.Trotzdem zeigte<br />

bereits 2010 eine Studie derFriedrich-Ebert-<br />

Stiftung, dass bis zu siebzig Prozent der befragten<br />

Ungarn den Aussagen „Der Islam ist<br />

eine Religion der Intoleranz“ oder „Es gibt zu<br />

viele MuslimeinUngarn“ zustimmten.<br />

Orbans Botschaft wirke, sagt Lénárd.<br />

Längst gelte die Gleichung Migrant gleich<br />

Muslim gleich Terrorist. „In Ungarn kam die<br />

Bedrohung immer vonaußen“,sagt sie. „Vor<br />

Jahrhunderten waren es die Osmanen, später<br />

die Österreicher, dann die Deutschen<br />

oder Russen.“ Jetzt seien es die Muslime.<br />

„Wer bei uns in der Politik Erfolg haben will,<br />

muss sich als Retter der Heimat präsentieren.<br />

Dashat Orban gemacht.“<br />

Unddoch –inBudapest sei das Leben als<br />

Muslim unproblematisch, sagt Lénárd. Die<br />

Großstadt ist durch Millionen Touristen im<br />

Jahr an fremde Kulturen und Besucher gewöhnt.<br />

Auf dem Land hingegen, dort wodie<br />

Bewohner so gut wie nie einen Zuwanderer<br />

oder Muslim treffen, fürchte man sich vor<br />

dem Islam, sagt Lénárd. Siekennt die Berichte<br />

von Übergriffen, von heruntergerissenen<br />

Kopftüchernund Steinwürfen.<br />

Durch das Dickicht der Vorurteile will<br />

Lénárds Tour eine Schneise schlagen. Ihre<br />

Klientel ist weltläufig, doch keinesfalls unkritisch.<br />

Ermutigt vomersten Moschee-Besuch<br />

ihres Lebens, werden die Fragen an Lénárd<br />

drängender: Sind Männer im Islam bessergestellt<br />

als Frauen? Wieso dürfen Muslime<br />

mehrere Frauen heiraten? Müssen Frauen<br />

sich verschleiern? Lénárd wirkt umringt. Sie<br />

kennt diese Fragen. Undweiß die Antworten.<br />

Weil sie die Tour leitet. Aber vor allem: weil<br />

sie selber eine Muslimin geworden ist. „Eine<br />

logische Weiterentwicklung“, sagt sie, „als<br />

würde mir ich nach dem iPhone 5 das<br />

nächste Modell besorgen.“<br />

Weniger Dogmen<br />

IhrUpdate im Glauben ist das Ergebnis einer<br />

langen Suche, die direkt nach der Herbstrevolution<br />

1989 begann und nicht mit dem Islam<br />

zu Ende sein muss.Die junge Lénárdtrat<br />

nach dem Fall des Kommunismus in die katholische<br />

Kirche ein, verließ sie nach einigen<br />

Jahren wieder: „Zu viele Dogmen.“ Dann<br />

sollten irdische Dinge Antworten liefern:<br />

Lénárd studierte Bildhauerei, tauchte ein in<br />

die Kunstszene von Budapest. Für das Studium<br />

brauchte sie einen Nebenjob und half<br />

Freunden bei Stadtführungen. „Wir organisierten<br />

soziale Touren –auf den Spuren von<br />

Obdachlosen oder vonRoma und Sinti.“ Anfang<br />

2015 stieß Lénárd auf den Islam. „Ich<br />

suchte einfach neue Ziele für unsereTour.“<br />

Dann zog es Lénárd auch aus anderen<br />

Gründenindie Moschee: „Der Islam erschien<br />

mir wie die Weiterentwicklung des Christentums.<br />

Weniger Dogmen, reiner, intellektuell<br />

anziehender.“ Sie konvertierte 2015, wenige<br />

Monate vordem Eintreffen der vielen Flüchtlinge.„Vorher<br />

interessierte sich nicht einmal<br />

meine Familie für meine Konversion. Danach<br />

wurden viele Freunde und Angehörige skeptisch,<br />

und ich fühlte mich plötzlich als Teil einer<br />

Minderheit. IS-Terroristen bestimmten<br />

plötzlich das Bild der gesamten Religion.“<br />

Anna Lénárd führtzuden nächsten Etappen<br />

der Tour,ander neuen großen Budapester<br />

Moschee an einer Ausfallstraße wird der<br />

Spaziergang enden. Die Moschee, ein zweigeschossiges<br />

Bürogebäude, wirkt wie ein<br />

Symbol für den Platz der Muslime in Ungarn:<br />

Es gibt sie.Aber am Rande.<br />

Vorher stoppt die Gruppe am Szir Center,<br />

einem der insgesamt fünf Läden für arabische<br />

Lebensmittel in Budapest. Inhaber Mohammed<br />

Choman stößt, hinter dem Verkaufstresen<br />

sitzend,Wolkenbänke aus Rauch<br />

aus seiner Wasserpfeife,dreiAngestellte verkaufen<br />

von Nüssen über Gewürze bis zu<br />

Fleisch so gut wie alles, was der Orient an<br />

Essbarem kennt. Seit zwanzig Jahren führt<br />

Choman den Shop, noch immer fährt er<br />

zwei-, dreimal in derWochenach Feierabend<br />

knapp 100 Kilometer in seine eigene<br />

Schlachterei, um eigenhändig Lämmer und<br />

Ziegen nach den muslimischen Regeln zu<br />

schlachten. In Budapest hat er dafür keine<br />

geeigneten Räume gefunden.<br />

Choman schätzt, dass auch dank der Tour<br />

die meisten seiner Kunden Budapester seien<br />

und nur einige vonihnen Muslime. Verändert<br />

habe sich die muslimische Gemeinde nach<br />

2015 in Budapest kaum, sagt Choman. „Die<br />

meisten Flüchtlinge sind gleich weitergezogen,<br />

nach Deutschland oder Österreich oder dorthin,<br />

wo sie Freunde undVerwandte haben.“<br />

Angst davor, dass die Stimmung gegen<br />

Muslimeendgültig kippe,hat er nicht. Dafür<br />

nennt er einen Grund. Einer seiner Kunden,<br />

der bei ihm regelmäßig halal geschlachtete<br />

Lammkoteletts kaufe,sei Viktor Orban.

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