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Biografien von Marie Nathan (1904-1942)<br />
und Margarete Nathan (1904-1940)<br />
von Marius Haag, Klasse 8s<br />
Marie und Margerete, genannt „Gretel“ Nathan waren Zwillingsschwestern, welche am<br />
4.2.1904 in Bischweiler im Elsass geboren waren. Beide besuchten zusammen die Höhere<br />
Mädchenschule in Bischweiler. Da Familie Nathan das Elsass als Deutsche nach dem<br />
1. Weltkrieg verlassen musste, traten beide Schwestern am 19.1.1920 in die vorletzte Klasse<br />
der Höheren Mädchenschule Bruchsal ein – übrigens in die Klasse, die auch von Erna<br />
Wälder, der Nichte der Baertigs (vgl. S. 24), besucht wurde. Wohl fiel ihnen der Wechsel<br />
nach Bruchsal schwer – Margarete wurde am Ende des Jahres nicht versetzt und musste<br />
die Klasse wiederholen, Maries Versetzung war zunächst ebenfalls gefährdet, sie konnte<br />
dann aber doch versetzt werden – besonders Englisch bereitete den beiden Schwestern<br />
wohl Schwierigkeiten. Margarete trat schließlich am 1.2.1921 aus der Schule aus, in<br />
der Klassenliste ist rätselhafter Weise vermerkt „wegen Unglücksfalls“. Marie schloss die<br />
Schule im März 1921 erfolgreich ab und verließ sie mit dem Abschlusszeugnis.<br />
Völlig im Dunkeln liegt, was die beiden in den 1920er Jahren und bis Mitte der 1930er<br />
Jahre taten. In den Adressbüchern Bruchsals wird kein Beruf angegeben – wohl haben<br />
sie keinen erlernt. Warum fand keine Eheschließung statt? Sicher haben sie in Wohlstand<br />
in der großzügigen Wohnung in der Schillerstraße 17 gelebt, da Vater Ernst ein<br />
Deckblatt der Krankenakte von Margarete Nathan aus der Heil- u. Pflegeanstalt<br />
Wiesloch. Quelle: GLA Karlsruhe, 463 Zugang 1983/20 Nr. 36366.<br />
erfolgreicher Zigarrenfabrikant<br />
war. In demselben Haus<br />
lebten auch die Großeltern<br />
Bernhard († 1924) und Thekla<br />
Bär († 1936). Maries weiterer<br />
Werdegang bis zur Deportation<br />
am 22.10.1940 nach Gurs<br />
bleibt völlig unklar. Ob sie die<br />
ganze Zeit in Bruchsal lebte?<br />
Während sie in den Bruchsaler<br />
Adressbüchern von 1931/32<br />
und 1938 erwähnt wird, fehlt<br />
sie 1933/36. Ein Versehen?<br />
Oder wohnte sie außerhalb?<br />
Jedenfalls kam sie, zusammen<br />
mit ihren Eltern, am 12.8.1942<br />
über das Sammellager Drancy<br />
nach Auschwitz, wo sich ihre<br />
Spur verliert.<br />
Über Margarete ist mehr bekannt,<br />
jedenfalls seit Mitte der 1930er Jahre: Margarete Nathan war am 1.12.1935 nach<br />
Worms gezogen, und zwar von Bruchsal kommend. Sie war Hausangestellte, zunächst<br />
bei Bernkopf (vgl. 2. Gedenkschrift 2016, S. 41), Mozartstraße 20, ab dem 19.4.1936 bei<br />
Dr. Kulp, Horst-Wessel-(Rathenau)-Straße 27, ab dem 3.11.1936 bei Oskar Frank (Elias<br />
Hausmann), Kaiser-Wilhelm-Straße 6 (heute Wilhelm-Leuschner-Straße). Familie<br />
Frank verließ Worms im März 1939, vermutlich zog Gretel dann nach Bruchsal zurück.<br />
Bei der Volkszählung im Mai 1939 war auch Margarete in Bruchsal gemeldet, allerdings<br />
kam sie aus ungenannten Gründen bereits am 12.6.1939 in die Heil- und Pflegeanstalt<br />
Wiesloch. Kurzzeitig, vom 27. bis zum 29.8.1939 und vom 15. bis zum 23.5.1940, wurde<br />
sie nach Hause entlassen. Vermerkt ist in den Anstaltsakten, dass sie während ihrem letzten<br />
Aufenthalt, zwischen dem 23.5.1940 und dem 11.7.1940, vier Mal besucht wurde: Am<br />
27. Mai waren es „2 Bekannte“, am 6. und 22. Juni sowie am 9. Juli ihre Eltern Betty und<br />
Ernst Nathan. Sehr aufschlussreich ist der Brief des Vaters nach seinem letzten Besuch.<br />
Zu diesem Zeitpunkt war Margarete bereits tot. Sie wurde am 11.7., zwei Tage nach dem<br />
Besuch der Eltern, im Rahmen der „Aktion T4“ mit einem der grauen Busse in die Tötungsanstalt<br />
Grafeneck verbracht, wo sie noch an demselben Tag ermordet wurde. Sicher<br />
war Margarete Nathans Erregung zwei Tage vor ihrem Tod darauf zurückzuführen, dass<br />
sie die in jener Zeit täglich abgehenden Deportationen richtig zu deuten wusste. Die Anstaltsleitung<br />
Wiesloch übrigens beantwortete den Brief am 25.7.1940 und teilte mit, dass<br />
Margarete Mitte des Monats auf Weisung des Innenministeriums mit anderen Kranken<br />
in eine außerbadische Anstalt verlegt worden sei, und dann wörtlich:<br />
„Die Benachrichtigung der<br />
Angehörigen sollte durch die<br />
Brief von Ernst Nathan an die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch am<br />
18.7.1940. Quelle: GLA Karlsruhe, 463 Zugang 1983/20 Nr. 36366.<br />
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Übernahmeanstalt erfolgen.<br />
Wir nehmen an, dass dies inzwischen<br />
geschehen ist. Im<br />
Übrigen war der Zustand Ihrer<br />
Tochter unverändert ungünstig<br />
gewesen.“ Später wurden<br />
die Eltern vom Tod Margaretes<br />
informiert, und man<br />
sandte ihnen auch eine Urne<br />
zu. Wie Margaretes Cousine<br />
Erna Finkel 1964 niederschrieb,<br />
ist Margaretes Asche<br />
auf dem Bruchsaler Friedhof<br />
im Grabe ihrer Großeltern<br />
Bernhard und Thekla Baer<br />
beigesetzt worden. Einen<br />
Eintrag auf dem Grabstein<br />
gibt es allerdings nicht.