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PBDW 3:2018

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EXTRA<br />

derungen zu entsprechen. Zudem haben<br />

immer mehr Menschen das Gefühl,<br />

das Lebenstempo sei zu hoch und man<br />

schaffe es kaum noch, Luft zu holen.<br />

STATUSSYMBOL STRESS<br />

Auch in Deutschland fühlt sich jeder<br />

zweite Arbeitnehmer gehetzt, hat<br />

laut DGB-Index Gute Arbeit zu viel<br />

zeitgleich zu tun oder leidet unter<br />

Zusatzaufgaben, die vom Eigentlichen<br />

abhalten. Eine Studie der AOK unter<br />

1500 Eltern ergab, dass gerade diese<br />

immer mehr unter Zeitstress stehen:<br />

46 Prozent fühlen sich durch Hektik<br />

und Jobdruck stark eingeschränkt und<br />

wünschen sich mehr Zeit für den<br />

Partner, sich selbst, die Kinder, Urlaub<br />

und Freizeit. Laut einer Forsa-Studie<br />

der TK sind es vor allem die 30- bis<br />

39-Jährigen, die sich oft gestresst fühlen,<br />

da sie Job und Familie unter einen<br />

Hut bringen wollen – und die Berufstätigen,<br />

die für die Arbeit stets erreichbar<br />

sein müssen.<br />

Die Hektik kann also mit der Lebensphase<br />

zu tun haben. Sobald Kinder da<br />

sind, kommen eben jede Menge Aufgaben<br />

dazu, und gerade wir Frauen tragen<br />

(leider) noch immer eine größere<br />

Verantwortung für Familie und Haushalt.<br />

Zur Antwort gehört aber auch,<br />

dass wir unsere Zeit gern vollstopfen.<br />

„Gehetztsein hat einen negativen Beigeschmack“,<br />

sagt Mariëlle Cloïn vom<br />

niederländischen Institut SCP, das zum<br />

Thema Stress forscht. „Aber es gefällt<br />

den Leuten auch, beschäftigt zu sein.<br />

Ein volles Leben kann auch Befriedigung<br />

verschaffen.“<br />

Viel beschäftigt zu sein führt dazu,<br />

dass wir uns produktiv und wichtig<br />

fühlen: Ich habe viel zu tun, also bin<br />

ich. Haben wir eine Weile nichts auf<br />

dem Zettel, etwa weil wir vorübergehend<br />

arbeitslos sind, fehlt uns das Gefühl<br />

des permanenten Nützlichseins<br />

und der dazugehörende Status.<br />

Dafür haben wir immer mehr Möglichkeiten,<br />

„unnütze“ Momente zu<br />

füllen. Vor nicht allzu langer Zeit hat-<br />

ten wir in der Schlange am Geldautomaten,<br />

in Wartezimmern und an<br />

der Bushaltestelle nichts zu tun. Dank<br />

Smartphone können wir nun selbst<br />

dann noch Nachrichten versenden, arbeiten,<br />

shoppen. Mit zwei Konsequenzen:<br />

Erstens haben wir so weniger<br />

natürliche Ruhemomente und sind in<br />

einem ständigen Rausch der Vielbeschäftigung.<br />

Zweitens werden Zeit<br />

und Aufmerksamkeit durch verschiedenste<br />

Aktivitäten in diversen Rollen<br />

zu sehr zerbröselt.<br />

Auf Letzteres weist auch die Neuropsychologie<br />

verstärkt hin. Täglich begegnen<br />

uns Tausende kleine Darauf-mussich-sofort-reagieren-Reize:<br />

Pieptöne<br />

eingehender Nachrichten (Schnell mal<br />

schauen, von wem), unzählige Mini-<br />

Entscheidungen (Espresso oder Cappuccino?<br />

Medium oder large? To go<br />

oder im Café?), leckere Häppchen<br />

(Kaufen oder vorbeigehen?) sowie endlose<br />

Möglichkeiten im Internet (Ob<br />

es an unserem Urlaubsort wohl schon<br />

warm ist?).<br />

Sie scheinen nur winzig: Wie viel Zeit<br />

kostet es schon, kurz aufs Handy zu<br />

gucken? Im Gegenteil: Oft vermittelt<br />

uns das ein Gefühl der Effizienz. Es<br />

wirkt wie der schiere Zeitgewinn, zu<br />

Hause Job-Mails zu checken und sich<br />

im Büro via WhatsApp zu verabreden.<br />

Aber dabei zerlegen diese kleinen Unterbrechungen<br />

unsere Zeit in tausend<br />

Stücke. Sie besetzen kostbaren Raum<br />

in unserem Kopf und machen unser<br />

Leben übervoll. Neuropsychiater Theo<br />

Compernolle warnt in seinem Buch<br />

BrainChains: „Allein das Ping einer<br />

E-Mail, die in Ihre Inbox ploppt, unterbricht<br />

Ihre Konzentration für anderthalb<br />

Minuten, auch wenn Sie die<br />

Nachricht gar nicht lesen. Wenn Sie<br />

60 Minuten an einem Memo arbeiten<br />

und 20 Ping-Töne dazwischenfunken,<br />

verlieren Sie somit 30 Minuten Ihrer<br />

Konzentration.“<br />

Die Schlussfolgerung wirkt logisch:<br />

Einfach nicht beachten! Aber das Problem<br />

ist, dass viele dieser unwichtigen,<br />

modernen Reize unserem Gehirn gerade<br />

maßlos interessant scheinen. Als<br />

wir noch als Jäger und Sammler über<br />

die Steppe zogen, war es lebenswichtig,<br />

sofort auf unerwartete Geräusche<br />

zu reagieren (damals ein knackender<br />

Ast, heute das Ping einer Nachricht),<br />

auf Dinge, die sich schnell bewegen<br />

(damals ein heranpreschender Löwe,<br />

heute blinkende Onlinewerbung),<br />

Nahrung (damals karg, jetzt überall)<br />

und News aus unserem Netzwerk.<br />

ALLES IST DRINGEND<br />

Vor allem Letztgenannte haben enorm<br />

zugenommen und bestürmen uns von<br />

allen Seiten – über E-Mail, Facebook,<br />

WhatsApp, Instagram. Und obwohl<br />

fast alle in die Kategorien „Hallo“,<br />

„Guck mal, ich“ und „Kauf mich“ gehören<br />

und somit problemlos warten<br />

könnten, fühlen sie sich für unser Gehirn<br />

sehr dringlich an.<br />

„Unsere Vorfahren lebten in Gruppen<br />

von 50 bis 150 Artgenossen“, sagt der<br />

Psychologe Max Wildschut. „Wenn<br />

Sie in Ihrem ganzen Leben nur 100<br />

Viele Menschen haben<br />

das Gefühl, ihr LEBENSTEMPO<br />

sei zu hoch und es bliebe keine<br />

Zeit für Besinnung und Erholung<br />

PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER MaI/JuNI <strong>2018</strong> 101

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