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EXTRA<br />
derungen zu entsprechen. Zudem haben<br />
immer mehr Menschen das Gefühl,<br />
das Lebenstempo sei zu hoch und man<br />
schaffe es kaum noch, Luft zu holen.<br />
STATUSSYMBOL STRESS<br />
Auch in Deutschland fühlt sich jeder<br />
zweite Arbeitnehmer gehetzt, hat<br />
laut DGB-Index Gute Arbeit zu viel<br />
zeitgleich zu tun oder leidet unter<br />
Zusatzaufgaben, die vom Eigentlichen<br />
abhalten. Eine Studie der AOK unter<br />
1500 Eltern ergab, dass gerade diese<br />
immer mehr unter Zeitstress stehen:<br />
46 Prozent fühlen sich durch Hektik<br />
und Jobdruck stark eingeschränkt und<br />
wünschen sich mehr Zeit für den<br />
Partner, sich selbst, die Kinder, Urlaub<br />
und Freizeit. Laut einer Forsa-Studie<br />
der TK sind es vor allem die 30- bis<br />
39-Jährigen, die sich oft gestresst fühlen,<br />
da sie Job und Familie unter einen<br />
Hut bringen wollen – und die Berufstätigen,<br />
die für die Arbeit stets erreichbar<br />
sein müssen.<br />
Die Hektik kann also mit der Lebensphase<br />
zu tun haben. Sobald Kinder da<br />
sind, kommen eben jede Menge Aufgaben<br />
dazu, und gerade wir Frauen tragen<br />
(leider) noch immer eine größere<br />
Verantwortung für Familie und Haushalt.<br />
Zur Antwort gehört aber auch,<br />
dass wir unsere Zeit gern vollstopfen.<br />
„Gehetztsein hat einen negativen Beigeschmack“,<br />
sagt Mariëlle Cloïn vom<br />
niederländischen Institut SCP, das zum<br />
Thema Stress forscht. „Aber es gefällt<br />
den Leuten auch, beschäftigt zu sein.<br />
Ein volles Leben kann auch Befriedigung<br />
verschaffen.“<br />
Viel beschäftigt zu sein führt dazu,<br />
dass wir uns produktiv und wichtig<br />
fühlen: Ich habe viel zu tun, also bin<br />
ich. Haben wir eine Weile nichts auf<br />
dem Zettel, etwa weil wir vorübergehend<br />
arbeitslos sind, fehlt uns das Gefühl<br />
des permanenten Nützlichseins<br />
und der dazugehörende Status.<br />
Dafür haben wir immer mehr Möglichkeiten,<br />
„unnütze“ Momente zu<br />
füllen. Vor nicht allzu langer Zeit hat-<br />
ten wir in der Schlange am Geldautomaten,<br />
in Wartezimmern und an<br />
der Bushaltestelle nichts zu tun. Dank<br />
Smartphone können wir nun selbst<br />
dann noch Nachrichten versenden, arbeiten,<br />
shoppen. Mit zwei Konsequenzen:<br />
Erstens haben wir so weniger<br />
natürliche Ruhemomente und sind in<br />
einem ständigen Rausch der Vielbeschäftigung.<br />
Zweitens werden Zeit<br />
und Aufmerksamkeit durch verschiedenste<br />
Aktivitäten in diversen Rollen<br />
zu sehr zerbröselt.<br />
Auf Letzteres weist auch die Neuropsychologie<br />
verstärkt hin. Täglich begegnen<br />
uns Tausende kleine Darauf-mussich-sofort-reagieren-Reize:<br />
Pieptöne<br />
eingehender Nachrichten (Schnell mal<br />
schauen, von wem), unzählige Mini-<br />
Entscheidungen (Espresso oder Cappuccino?<br />
Medium oder large? To go<br />
oder im Café?), leckere Häppchen<br />
(Kaufen oder vorbeigehen?) sowie endlose<br />
Möglichkeiten im Internet (Ob<br />
es an unserem Urlaubsort wohl schon<br />
warm ist?).<br />
Sie scheinen nur winzig: Wie viel Zeit<br />
kostet es schon, kurz aufs Handy zu<br />
gucken? Im Gegenteil: Oft vermittelt<br />
uns das ein Gefühl der Effizienz. Es<br />
wirkt wie der schiere Zeitgewinn, zu<br />
Hause Job-Mails zu checken und sich<br />
im Büro via WhatsApp zu verabreden.<br />
Aber dabei zerlegen diese kleinen Unterbrechungen<br />
unsere Zeit in tausend<br />
Stücke. Sie besetzen kostbaren Raum<br />
in unserem Kopf und machen unser<br />
Leben übervoll. Neuropsychiater Theo<br />
Compernolle warnt in seinem Buch<br />
BrainChains: „Allein das Ping einer<br />
E-Mail, die in Ihre Inbox ploppt, unterbricht<br />
Ihre Konzentration für anderthalb<br />
Minuten, auch wenn Sie die<br />
Nachricht gar nicht lesen. Wenn Sie<br />
60 Minuten an einem Memo arbeiten<br />
und 20 Ping-Töne dazwischenfunken,<br />
verlieren Sie somit 30 Minuten Ihrer<br />
Konzentration.“<br />
Die Schlussfolgerung wirkt logisch:<br />
Einfach nicht beachten! Aber das Problem<br />
ist, dass viele dieser unwichtigen,<br />
modernen Reize unserem Gehirn gerade<br />
maßlos interessant scheinen. Als<br />
wir noch als Jäger und Sammler über<br />
die Steppe zogen, war es lebenswichtig,<br />
sofort auf unerwartete Geräusche<br />
zu reagieren (damals ein knackender<br />
Ast, heute das Ping einer Nachricht),<br />
auf Dinge, die sich schnell bewegen<br />
(damals ein heranpreschender Löwe,<br />
heute blinkende Onlinewerbung),<br />
Nahrung (damals karg, jetzt überall)<br />
und News aus unserem Netzwerk.<br />
ALLES IST DRINGEND<br />
Vor allem Letztgenannte haben enorm<br />
zugenommen und bestürmen uns von<br />
allen Seiten – über E-Mail, Facebook,<br />
WhatsApp, Instagram. Und obwohl<br />
fast alle in die Kategorien „Hallo“,<br />
„Guck mal, ich“ und „Kauf mich“ gehören<br />
und somit problemlos warten<br />
könnten, fühlen sie sich für unser Gehirn<br />
sehr dringlich an.<br />
„Unsere Vorfahren lebten in Gruppen<br />
von 50 bis 150 Artgenossen“, sagt der<br />
Psychologe Max Wildschut. „Wenn<br />
Sie in Ihrem ganzen Leben nur 100<br />
Viele Menschen haben<br />
das Gefühl, ihr LEBENSTEMPO<br />
sei zu hoch und es bliebe keine<br />
Zeit für Besinnung und Erholung<br />
PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER MaI/JuNI <strong>2018</strong> 101