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PBDW 3:2018

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Wir standen ständig<br />

IN REIHEN. Man wusste nie,<br />

ob sie den Tod oder das Leben bedeuteten<br />

Menschen oder etwas außerhalb von<br />

sich selbst zuwenden. Für mich war<br />

dieser Mensch Magda und das „Etwas“<br />

die Hoffnung, dass ich den Jungen,<br />

in den ich damals verliebt war,<br />

am nächsten Tag wiedersehen würde,<br />

denn dann wäre ich frei. So beschwor<br />

ich mich jeden Tag selbst: Wenn ich<br />

heute überlebe, bin ich morgen frei.<br />

ZWINKERTE DER WÄRTER?<br />

In Auschwitz mussten wir ständig in<br />

Reihen stehen: Reihen, von denen wir<br />

nie wussten, ob sie den Tod oder das<br />

Leben bedeuteten. Eines Tages landeten<br />

Magda und ich in zwei verschiedenen.<br />

„Unsere bedeutet den Tod“,<br />

sagte ein Mädchen, das dicht neben<br />

mir stand. Was auch passierte, Magda<br />

und ich müssten das zusammen durchstehen,<br />

dachte ich damals – selbst<br />

wenn es der Tod wäre.<br />

Ich spähte auf den schneebedeckten<br />

Boden zwischen uns, versuchte, mich zu<br />

konzentrieren. Magda und ich schauten<br />

uns an, ich sah ihre blauen Augen.<br />

Plötzlich tat ich es: Ich bewegte mich,<br />

schlug ein Rad. Und noch eins. Ein<br />

Wärter starrte mich an, ich rechnete<br />

jeden Moment damit, erschossen zu<br />

werden, aber ich konnte nicht aufhören,<br />

drehte mich immer weiter. Sah<br />

ich richtig? Zwinkerte der Wärter mir<br />

zu? Ja, er zwinkerte. Dieses Mal lass<br />

ich dir das durchgehen, schien er mir<br />

zu signalisieren. In den Sekunden, in<br />

denen ich seine Aufmerksamkeit hatte,<br />

wechselte Magda in meine Reihe. Es<br />

zeigte sich, dass es die Reihe mit den<br />

Gefangenen war, die in den Zug sollten:<br />

Das Lager wurde geräumt.<br />

Man zwang uns auf die Dächer der<br />

Eisenbahnwaggons, unsere geschwächten<br />

Körper klammerten sich im eiskalten<br />

Wind aneinander. Unser Zug<br />

wurde bombardiert, ab da mussten<br />

wir zu Fuß gehen, wochenlang. In den<br />

letzten Stunden unseres Marsches fielen<br />

die Mädchen zu Hunderten zu Boden.<br />

Zu schwach oder zu krank zum<br />

Weiterlaufen, wurden sie auf der Stelle<br />

getötet. Auch ich stolperte und konnte<br />

vor Erschöpfung nicht mehr weiter.<br />

Ich spürte, wie Magda und ein paar<br />

andere Mädchen mich hochzogen. Das<br />

taten sie, weil ich so oft mein Brot geteilt<br />

hätte, sagten sie.<br />

Als wir in einem Lager im Wald haltmachten,<br />

war ich zu krank, um noch<br />

weiterzugehen. Ich fiel erneut hin,<br />

wurde immer wieder ohnmächtig, lag<br />

in einem Gewirr von Leichen. Dort,<br />

auf diesem Todesfleck, spürte ich auf<br />

einmal, dass mir etwas in die Hand<br />

gedrückt wurde. Es waren knallbunte<br />

Linsen in Rot, Braun, Grün und Gelb,<br />

sie hießen M&M’s, und sie waren essbar.<br />

Der Mann, der sich über mich<br />

beugte, war ein amerikanischer Soldat.<br />

Neben mir lag Magda. Beide hatten<br />

wir diese allerletzte Selektion<br />

überlebt. Wir waren frei.<br />

„NEIN, ICH WAR NICHT DORT!“<br />

Danach lebte ich weiter, erst so, als<br />

wäre nichts geschehen. Heiratete, bekam<br />

Kinder, emigrierte nach Amerika,<br />

nahm einen Job an, fing an zu studieren,<br />

konzentrierte mich auf das Alltägliche.<br />

Als meine damals zehnjährige<br />

Tochter ein Buch über die Konzentrationslager<br />

entdeckte und fragte, ob ich<br />

dort gewesen sei, flüchtete ich ins Bad.<br />

„Nein, nein, nein, ich war nicht dort“,<br />

wollte ich schreien. Ich war drauf und<br />

dran, den Spiegel kaputt zu schlagen.<br />

Und tat es doch nicht.<br />

Tief in mir drin spürte ich immer öfter,<br />

dass ich sehr unglücklich war. Erst gab<br />

ich meinem Mann die Schuld, sodass<br />

wir uns irgendwann scheiden ließen.<br />

Aber nach und nach kam ich dahinter,<br />

dass es nicht an ihm lag, sondern an<br />

mir: Ich hatte den Kontakt zu mir<br />

selbst abgeschnitten. Ich sagte meinem<br />

Exmann, dass er mir sehr fehlte und<br />

dass ich an mir arbeiten wollte. Wir<br />

heirateten erneut. Ich studierte weiter,<br />

klinische Psychologie, wurde Psychotherapeutin<br />

– ich glaube, dass ich unbewusst<br />

mir selbst helfen wollte.<br />

VERSORGUNG DER WUNDEN<br />

Ich begab mich auch selbst in Therapie.<br />

Als Erstes kam dort die Wut aus<br />

mir heraus – was im Lager nicht möglich<br />

gewesen war, es hätte meinen Tod<br />

bedeutet. Über meine Kriegsvergangenheit<br />

reden zu müssen war unglaublich<br />

schmerzhaft. Das ist es noch,<br />

aber inzwischen weiß ich, dass Gefühle,<br />

so stark sie auch sind, vorübergehen,<br />

wenn man sie zulässt. Je mehr man sie<br />

unterdrückt, desto schwieriger ist es,<br />

sie ziehen zu lassen. Sich selbst ausdrücken,<br />

Selbstexpression, ist das Gegenteil<br />

einer Depression – das bringe<br />

ich bis heute meinen Patienten bei. Um<br />

zu genesen, muss man die Dunkelheit<br />

in sich umarmen: Man geht durch das<br />

Tal des Schattens zum Licht. Die Narben<br />

müssen nicht ausradiert werden –<br />

„genesen“ bedeutet, dass man seine<br />

Wunde weiter versorgt.<br />

Trotz meiner Therapie spürte ich, dass<br />

ich noch etwas tun musste: Kontakt<br />

aufnehmen mit dem Ort meines Verlusts.<br />

Darum fuhr ich Anfang der 80er<br />

erneut nach Auschwitz. Meine Beine<br />

zitterten, als ich unter dem Schriftzug<br />

„Arbeit macht frei“ hindurchging. Ich<br />

sah wieder die drei hungrigen Frauen<br />

in ihren Wollmänteln vor mir. Meine<br />

Mutter, die sich bei mir eingehakt hatte.<br />

Ich hörte wieder, wie sie „Knöpf<br />

deinen Mantel zu“ sagte und „Stell<br />

dich gerade hin“. Und plötzlich vernahm<br />

ich auch Mengeles Stimme: „Ist<br />

48 PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER MAI/JUNI <strong>2018</strong>

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