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Wir standen ständig<br />
IN REIHEN. Man wusste nie,<br />
ob sie den Tod oder das Leben bedeuteten<br />
Menschen oder etwas außerhalb von<br />
sich selbst zuwenden. Für mich war<br />
dieser Mensch Magda und das „Etwas“<br />
die Hoffnung, dass ich den Jungen,<br />
in den ich damals verliebt war,<br />
am nächsten Tag wiedersehen würde,<br />
denn dann wäre ich frei. So beschwor<br />
ich mich jeden Tag selbst: Wenn ich<br />
heute überlebe, bin ich morgen frei.<br />
ZWINKERTE DER WÄRTER?<br />
In Auschwitz mussten wir ständig in<br />
Reihen stehen: Reihen, von denen wir<br />
nie wussten, ob sie den Tod oder das<br />
Leben bedeuteten. Eines Tages landeten<br />
Magda und ich in zwei verschiedenen.<br />
„Unsere bedeutet den Tod“,<br />
sagte ein Mädchen, das dicht neben<br />
mir stand. Was auch passierte, Magda<br />
und ich müssten das zusammen durchstehen,<br />
dachte ich damals – selbst<br />
wenn es der Tod wäre.<br />
Ich spähte auf den schneebedeckten<br />
Boden zwischen uns, versuchte, mich zu<br />
konzentrieren. Magda und ich schauten<br />
uns an, ich sah ihre blauen Augen.<br />
Plötzlich tat ich es: Ich bewegte mich,<br />
schlug ein Rad. Und noch eins. Ein<br />
Wärter starrte mich an, ich rechnete<br />
jeden Moment damit, erschossen zu<br />
werden, aber ich konnte nicht aufhören,<br />
drehte mich immer weiter. Sah<br />
ich richtig? Zwinkerte der Wärter mir<br />
zu? Ja, er zwinkerte. Dieses Mal lass<br />
ich dir das durchgehen, schien er mir<br />
zu signalisieren. In den Sekunden, in<br />
denen ich seine Aufmerksamkeit hatte,<br />
wechselte Magda in meine Reihe. Es<br />
zeigte sich, dass es die Reihe mit den<br />
Gefangenen war, die in den Zug sollten:<br />
Das Lager wurde geräumt.<br />
Man zwang uns auf die Dächer der<br />
Eisenbahnwaggons, unsere geschwächten<br />
Körper klammerten sich im eiskalten<br />
Wind aneinander. Unser Zug<br />
wurde bombardiert, ab da mussten<br />
wir zu Fuß gehen, wochenlang. In den<br />
letzten Stunden unseres Marsches fielen<br />
die Mädchen zu Hunderten zu Boden.<br />
Zu schwach oder zu krank zum<br />
Weiterlaufen, wurden sie auf der Stelle<br />
getötet. Auch ich stolperte und konnte<br />
vor Erschöpfung nicht mehr weiter.<br />
Ich spürte, wie Magda und ein paar<br />
andere Mädchen mich hochzogen. Das<br />
taten sie, weil ich so oft mein Brot geteilt<br />
hätte, sagten sie.<br />
Als wir in einem Lager im Wald haltmachten,<br />
war ich zu krank, um noch<br />
weiterzugehen. Ich fiel erneut hin,<br />
wurde immer wieder ohnmächtig, lag<br />
in einem Gewirr von Leichen. Dort,<br />
auf diesem Todesfleck, spürte ich auf<br />
einmal, dass mir etwas in die Hand<br />
gedrückt wurde. Es waren knallbunte<br />
Linsen in Rot, Braun, Grün und Gelb,<br />
sie hießen M&M’s, und sie waren essbar.<br />
Der Mann, der sich über mich<br />
beugte, war ein amerikanischer Soldat.<br />
Neben mir lag Magda. Beide hatten<br />
wir diese allerletzte Selektion<br />
überlebt. Wir waren frei.<br />
„NEIN, ICH WAR NICHT DORT!“<br />
Danach lebte ich weiter, erst so, als<br />
wäre nichts geschehen. Heiratete, bekam<br />
Kinder, emigrierte nach Amerika,<br />
nahm einen Job an, fing an zu studieren,<br />
konzentrierte mich auf das Alltägliche.<br />
Als meine damals zehnjährige<br />
Tochter ein Buch über die Konzentrationslager<br />
entdeckte und fragte, ob ich<br />
dort gewesen sei, flüchtete ich ins Bad.<br />
„Nein, nein, nein, ich war nicht dort“,<br />
wollte ich schreien. Ich war drauf und<br />
dran, den Spiegel kaputt zu schlagen.<br />
Und tat es doch nicht.<br />
Tief in mir drin spürte ich immer öfter,<br />
dass ich sehr unglücklich war. Erst gab<br />
ich meinem Mann die Schuld, sodass<br />
wir uns irgendwann scheiden ließen.<br />
Aber nach und nach kam ich dahinter,<br />
dass es nicht an ihm lag, sondern an<br />
mir: Ich hatte den Kontakt zu mir<br />
selbst abgeschnitten. Ich sagte meinem<br />
Exmann, dass er mir sehr fehlte und<br />
dass ich an mir arbeiten wollte. Wir<br />
heirateten erneut. Ich studierte weiter,<br />
klinische Psychologie, wurde Psychotherapeutin<br />
– ich glaube, dass ich unbewusst<br />
mir selbst helfen wollte.<br />
VERSORGUNG DER WUNDEN<br />
Ich begab mich auch selbst in Therapie.<br />
Als Erstes kam dort die Wut aus<br />
mir heraus – was im Lager nicht möglich<br />
gewesen war, es hätte meinen Tod<br />
bedeutet. Über meine Kriegsvergangenheit<br />
reden zu müssen war unglaublich<br />
schmerzhaft. Das ist es noch,<br />
aber inzwischen weiß ich, dass Gefühle,<br />
so stark sie auch sind, vorübergehen,<br />
wenn man sie zulässt. Je mehr man sie<br />
unterdrückt, desto schwieriger ist es,<br />
sie ziehen zu lassen. Sich selbst ausdrücken,<br />
Selbstexpression, ist das Gegenteil<br />
einer Depression – das bringe<br />
ich bis heute meinen Patienten bei. Um<br />
zu genesen, muss man die Dunkelheit<br />
in sich umarmen: Man geht durch das<br />
Tal des Schattens zum Licht. Die Narben<br />
müssen nicht ausradiert werden –<br />
„genesen“ bedeutet, dass man seine<br />
Wunde weiter versorgt.<br />
Trotz meiner Therapie spürte ich, dass<br />
ich noch etwas tun musste: Kontakt<br />
aufnehmen mit dem Ort meines Verlusts.<br />
Darum fuhr ich Anfang der 80er<br />
erneut nach Auschwitz. Meine Beine<br />
zitterten, als ich unter dem Schriftzug<br />
„Arbeit macht frei“ hindurchging. Ich<br />
sah wieder die drei hungrigen Frauen<br />
in ihren Wollmänteln vor mir. Meine<br />
Mutter, die sich bei mir eingehakt hatte.<br />
Ich hörte wieder, wie sie „Knöpf<br />
deinen Mantel zu“ sagte und „Stell<br />
dich gerade hin“. Und plötzlich vernahm<br />
ich auch Mengeles Stimme: „Ist<br />
48 PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER MAI/JUNI <strong>2018</strong>