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PBDW 3:2018

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Als der bekannte<br />

amerikanische Biologe<br />

Jared Diamond<br />

in Los Angeles<br />

landet, plagen ihn<br />

widersprüchliche<br />

Gefühle. Über Monate hat er bei einem<br />

primitiven Papua-Stamm in Neuguinea<br />

gehaust. Ja, er ist froh, wieder<br />

daheim zu sein, bei seiner Familie und<br />

seinen Freunden. Wo es immer genug<br />

Essen gibt, ein weiches Bett, Krankenhäuser<br />

und Medikamente.<br />

Aber auf der Autobahn, auf dem Weg<br />

nach Hause, fühlt er sich plötzlich<br />

unbehaglich. „Die Landschaft um<br />

mich herum besteht ausschließlich aus<br />

einem asphaltierten Straßennetz,<br />

Gebäuden und Autos. Die akustische<br />

Umwelt ist der Verkehrslärm“,<br />

schreibt er in Vermächtnis. Was wir<br />

von traditionellen Gesellschaften lernen<br />

können. „Der Gegensatz zur<br />

reinen, klaren Luft Neuguineas, den<br />

vielfältigen Grüntönen seines dichten<br />

Dschungels und seinen Hunderten<br />

von aufgeregten Vogelgesängen könnte<br />

krasser nicht sein. In einem Reflex<br />

stelle ich die Lautstärkeknöpfe meiner<br />

Sinnesorgane und meines emotionalen<br />

Zustandes niedriger – ich weiß, dass<br />

sie die meiste Zeit so niedrig eingestellt<br />

bleiben werden, bis ich im nächsten<br />

Jahr wieder nach Neuguinea reise.“<br />

AUTOS UND KÜHLSCHRÄNKE<br />

Das moderne Leben hat uns viele Errungenschaften<br />

beschert. Kälte, Hitze,<br />

Hunger, Durst, Schmerz: Den Entbehrungen,<br />

die unsere Vorfahren einst<br />

plagten, können wir schon mit einem<br />

Drehen am Thermostat, dem Gang<br />

zum Kühlschrank oder einer Schmerztablette<br />

etwas entgegensetzen. Wir<br />

haben Geräte, die uns den Weg zeigen,<br />

das Wetter vorhersagen, ein ganzes<br />

Orchester erklingen lassen oder uns<br />

stundenlang mit Spielen vergnügen. Wir<br />

brauchen nicht mehr mit Pfeil und<br />

Bogen hinter Tieren herzurennen oder<br />

Knollen auszugraben, um etwas zu<br />

essen zu haben, und müssen uns auch<br />

nicht mehr gegen wilde Raubtiere und<br />

feindliche Stämme verteidigen.<br />

„Die moderne Gesellschaft ist ein<br />

Paradies. Das kann niemand bestreiten“,<br />

schreibt Wissenschaftsjournalist<br />

Sebastian Junger in seinem jüngsten<br />

Bestseller Tribe. Das verlorene Wissen<br />

um Gemeinschaft und Menschlichkeit.<br />

„Die ärmsten Menschen in der modernen<br />

Gesellschaft erfreuen sich eines<br />

Niveaus physischer Annehmlichkeiten,<br />

das vor tausend Jahren unvorstellbar<br />

war, und die reichsten Menschen leben<br />

buchstäblich so, wie wir uns das<br />

Leben der Götter vorgestellt haben.“<br />

Aber die Art, wie wir heute unsere<br />

Tage füllen, ist oft weit entfernt von<br />

unserer biologischen „Veranlagung“,<br />

die noch aus der Urzeit stammt. Über<br />

Jahrmillionen haben wir uns zu perfekt<br />

angepassten Jägern und Sammlern<br />

entwickelt. Zu Menschen, die draußen<br />

leben, sich viel bewegen und in kleinen,<br />

stabilen Gruppen durch eine gefährliche<br />

Umwelt ziehen. Von den vielen<br />

Jahrtausenden, die wir, der Homo<br />

sapiens, auf der Erde leben, haben wir<br />

etwa 99 Prozent so verbracht. Erst<br />

vor 10 000 Jahren haben wir den<br />

Ackerbau erfunden und uns vermehrt<br />

an festen Orten niedergelassen. Und<br />

erst in den vergangenen 100 Jahren<br />

haben wir technische Glanzleistungen<br />

wie Autos, Kühlschränke und Smartphones<br />

erfunden. Ein zu kurzer Zeitraum,<br />

um auch den Körper und die<br />

Gehirnstrukturen an diese total andere<br />

Lebensweise anzupassen.<br />

Das führe zu ernsthaften Problemen,<br />

warnen immer mehr Wissenschaftler.<br />

So paradiesisch sie auch sein mag: Unsere<br />

heutige Lebensart scheint uns<br />

nicht nur glücklich zu machen. In den<br />

westlichen Wohlstandsnationen steigt<br />

die Zahl der Depressionen, Burn-outs,<br />

Angststörungen, Selbstmorde und<br />

Schlafprobleme frappierend, während<br />

diese in traditionelleren Gesellschaften<br />

– trotz aller Unsicherheit und Armut –<br />

viel seltener auftreten.<br />

EIN SEHNEN, ABER WONACH?<br />

Klar, nicht jeder entwickelt in unserer<br />

modernen Welt gleich eine psychische<br />

Erkrankung. Aber genau wie Tieren in<br />

Gefangenschaft fehlt uns eine naturbelassene<br />

Umgebung und die Möglichkeit,<br />

uns natürlich verhalten zu<br />

können – auch wenn wir frei sind. Das<br />

Wie Käfigtieren fehlt<br />

uns die Möglichkeit,<br />

uns natürlich<br />

verhalten zu können<br />

geschieht oft unbewusst. Ein Huhn in<br />

einer Legebatterie weiß nicht, was<br />

genau ihm dort fehlt, wo es sein Leben<br />

verbringt. Aber es fühlt sich unruhig<br />

und gestresst. Auch unser Körper<br />

signalisiert regelmäßig „Das ist mir<br />

nicht geheuer“ inmitten von Überfluss,<br />

Bildschirmen und kilometerlangen<br />

Staus. Wir fühlen uns gehetzt, müde,<br />

überreizt, wir sehnen uns nach etwas –<br />

wissen aber nicht, wonach.<br />

Studien zeigen immer mehr auf, welche<br />

Aspekte des modernen Lebens sich<br />

mit unseren Ur-Anlagen reiben und<br />

was genau uns fehlt. So wie Legebatterie-Hühner<br />

aufleben, wenn sie scharren<br />

dürfen, fühlen auch wir uns meist<br />

besser, wenn wir an unsere natürlichen<br />

Bedürfnisse anknüpfen, im Grünen<br />

etwa, bei Tageslicht, mit stabilen Sozialkontakten,<br />

körperlicher Bewegung<br />

und klaren Herausforderungen.<br />

20 PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER MaI/JuNI <strong>2018</strong>

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