Leseprobe CONNEXI SCHMERZ Ausgabe 1-2019
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GANZHEITLICHE <strong>SCHMERZ</strong>THERAPIE<br />
Wie umgehen mit Leitlinien,<br />
Multimorbidität und sexuellen<br />
Bedürfnissen?<br />
Symposiumsbericht<br />
Wie in der Medizin allgemein gilt in der Schmerzbehandlung im Besonderen, immer den ganzen Menschen<br />
zu betrachten und danach zu entscheiden, welche Behandlung infrage kommt. Standardisierte Leitlinien<br />
sind dabei nicht immer hilfreich. Wichtig ist jedoch auch, dass bei der Wahl eines Präparates relevante<br />
pharmakokinetische Unterschiede von Analgetika berücksichtigt werden. Warum ältere und multimorbide<br />
Patienten von Hydromorphon profitieren, wie ein Praxisregister Leitlinien sinnvoll ergänzt und welche Rolle<br />
eine erfüllte Sexualität bei der Schmerzreduktion spielen kann, wurde in einem Symposium im Rahmen des<br />
Deutschen Schmerzkongresses 2018 thematisiert.<br />
EDUCATION<br />
Eine der größten gesamtgesellschaftlichen<br />
Herausforderungen in der Zukunft wird sowohl<br />
in medizinischer als auch in finanzieller Hinsicht<br />
die zunehmende Anzahl älterer multimorbider<br />
Pa tienten sein. 55–98 % der über 65-Jährigen<br />
leiden wegen mehrerer Erkrankungen nicht nur<br />
unter verschiedenartigen Schmerzen, sondern<br />
auch unter erheblichen subjektiven Einschränkungen<br />
aufgrund von Krankheitsentitäten, die nicht<br />
nur einer Ursache zuzuordnen sind. Eine primäre,<br />
einfache, monomorbide und kausale Behandlung<br />
per se sei deshalb definitorisch ausgeschlossen,<br />
erläuterte Dr. med. Johannes Horlemann, Kevelaer.<br />
Sind unsere Leitlinien für<br />
multimorbide Patienten geeignet?<br />
Die klassische evidenzbasierte Leitlinien-Medizin,<br />
so Horlemann weiter, stoße hier an Grenzen,<br />
denn sie führe oft zu nicht praxistauglichen Empfehlungen.<br />
Einzelne Fragestellungen beispielsweise<br />
ob günstige Wirkungen von Medikamenten langanhaltend<br />
sind, zu Wirkstoff-Effekten bei Multimorbidität<br />
und zu den Wünschen und Bedürfnissen der<br />
Patienten bleiben in RCT-Studien unberücksichtigt.<br />
Beziehe man jedoch alle individuellen Patientencharakteristika<br />
wie Alter, Komorbidität, persönliches<br />
Therapieziel etc. mit ein, können positive<br />
Studienergebnisse für den einzelnen Patienten völlig<br />
irrelevant werden. So waren in diversen RCT z. B.<br />
oral verabreichte retardierte Stufe III-Opioide bei<br />
Patienten mit starken Schmerzen zwar vergleichbar<br />
wirksam und wurden ähnlich gut vertragen, die<br />
relevante Klientel − der Durchschnittspatient ist<br />
älter, multimorbider und weiblicher als in den wissenschaftlichen<br />
Studien [1] − war in diese Studien<br />
jedoch gar nicht eingeschlossen. Aber die Pharmakologie/Verträglichkeit<br />
der Opioide werde stark<br />
davon beeinflusst, wie alt der Patient ist und welche<br />
Begleiterscheinungen er habe.<br />
Dr. Horlemanns Schlussfolgerung: Leitlinien dürfen<br />
nicht die alleinige Grundlage ärztlicher Entscheidungen<br />
sein. Es gehe um die Krankheitslast<br />
des einzelnen Patienten und diese sei nicht standardisierbar,<br />
ebenso wenig wie seine Ansprüche an<br />
seine Schmerzbehandlung und seine allgemeine<br />
Lebensqualität (geriatrische Is + Mobilität).<br />
Neue Leitlinie Multimorbidität<br />
Die seit 2017 geltende neue DEGAM-Leitlinie<br />
Multimorbidität S3-Leitlinie AWMF [2] hat traditionelle<br />
Leitlinenparadigmen verlassen, erstmals<br />
Patientenpräferenzen vorangestellt und, basierend<br />
auf dem Shared decision making-Prinzip, neue<br />
Empfehlungen zum Umgang mit diesen Patienten<br />
gegeben. Diese neue Leitlinie soll sie vor Leitlinien<br />
zu einzelnen Erkrankungen bei Multimorbidität in<br />
der (hausärztlichen) Versorgung schützen.<br />
Die Schmerztherapie älterer multimorbider<br />
Pa tienten ist vor diesem Hintergrund nicht einfacher<br />
geworden, gilt es doch noch genauer zwischen<br />
speziellen medizinischen Situationen zu unterscheiden.<br />
Wenn bei den oft starken chronischen<br />
Schmerzen (WHO Stufen II + III) der Einsatz eines<br />
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