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mein/4 März 2019

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Winterschlaf<br />

uns veräppelt vor, weil es gar kein Ende mehr nimmt. Ein<br />

hübsches Dorf hängt am anderen, umgeben von Bergen<br />

mit weißen Tannen darauf und pastösem Nebel darüber.<br />

Mein Kind sagt zum Dunst über den Bergen: „Wenn<br />

man immer näher kommt, sieht es aus, als würden die<br />

Bäume in ein Loch dahinter fließen“.<br />

Wir fahren bergab in ein gespenstisch vernebeltes Eisgebirge,<br />

wo die Welt hinter jedem Baum vom Nichts<br />

verschluckt wird. Das Kurhaus steht am Berg und alle<br />

Fenster sehen hinunter ins unsichtbare Tal. Wir steigen<br />

aus in der großen Stille, atmen den eisigen Nebel, der<br />

uns mit einer gläsernen Haut überziehen will wie alles<br />

andere. Die Luft knirscht.<br />

Der Hausmeister nimmt unsere Taschen und hält uns<br />

die Türen auf damit. Es wird immer weißer um uns. Die<br />

Bettwäsche, die Zimmerwände, der Winterhimmel und<br />

langsam der Schnee. Wir müssen zur Kennenlernrunde<br />

und es ist, wie ich befürchtet habe. Unter den Frauen<br />

kein Gesicht, mit dem etwas anzufangen ist. Ich bin froh<br />

über Mareile rechts wie Mareile froh ist über mich links.<br />

Das teilt sie auch prompt der Runde mit, dass sie ohne<br />

mich niemals her gewollt hätte. Die anderen sind verunsichert<br />

über die Äußerung, die nicht ins Muster passt.<br />

Was uns im Leben wichtig ist sollen wir erklären anhand<br />

einer Postkarte, die auszuwählen ist. Ich erzähle etwas<br />

von Kunst und Kultur und halte die Sixtinische Madonna<br />

hoch. Mareile redet von Aufklärung, Wissen und Erkenntnis,<br />

hat dafür aber nur die Karte vom einsamen Baum in<br />

weißer Landschaft zur Verfügung. Jetzt ist es allen klar:<br />

Wir wollen nicht dazugehören. Wir sind die echten Großstädter<br />

und das wollen wir hier auch bleiben!<br />

Die dreißig Frauen bilden einen wohlgeordneten Gesellschaftsdurchschnitt.<br />

Am einen Ende sitzt eine<br />

hübsche, vierzigjährige Beamtin vom Brüsseler Parlamentsfernsehen<br />

mit dreijähriger Tochter, am anderen<br />

Ende eine fünfvierzigjährige, dicke Arbeitslose, die wir<br />

unterm Raucherdach schon gesehen haben. Sie kommt<br />

aus einer ostdeutschen Kleinstadt mit ihrem Kind, das<br />

eine Behinderung hat. Das hat sie von einem Türken,<br />

der nichts weiß davon. Zu Hause im Neubaublock leben<br />

noch drei jugendliche Töchter. Die jüngst e<br />

schwanger. Zwischen den beiden Extremfällen sitzen<br />

vier Krankenschwestern, einen Haufen Büromuttis,<br />

ein paar Verkäuferinnen, Friseusen und ein Fernfahrervater,<br />

Herr Rössler, der versehentlich Frau Rössler<br />

genannt wird.<br />

Die Brüsselerin bemüht sich um einen wohlwollenden<br />

Blick. Sie weiß, dass hier niemand vier Sprachen spricht,<br />

niemand heranreicht an ihre Stellung, aber sie möchte<br />

trotzdem dazugehören. Sie wurde in Pirna geboren und<br />

ihr Kind soll deutsch lernen hier. Ihr Blick bittet um<br />

Gunst und begegnet befremdeten Gesichtern.<br />

Die dicke Raucherin mit fettigem Haar in farblos wirkt<br />

resigniert. Sie weiß, dass niemand viel zu tun haben<br />

möchte mit ihr, und anstatt zu erklären was ihr wichtig<br />

ist im Leben, bittet sie nur darum, dass die Medikamente<br />

für ihr Kind im Ge<strong>mein</strong>schaftskühlschrank<br />

verbleiben dürfen. Das ist wichtig.<br />

Eine junge Friseuse hält die Karte von Dürers betenden<br />

Händen hoch, weil ihre Großeltern gestorben sind. Sie<br />

hat Tränen in den Augen, sagt weiter nichts und in mir<br />

erhebt sich der bockige Widerstand gegen das Berührt<br />

werden.<br />

Im indischen Ashram gibt es „Silence“-Sticker, um von<br />

niemandem angesprochen zu werden. So einen hätte<br />

ich jetzt gerne.<br />

Wir essen um 18:30 Uhr Abendbrot. Zuhause tun wir<br />

sowas drei Stunden später. Dass wir um 7:45 Uhr beim<br />

Frühstück erscheinen werden, ist undenkbar. Aber obwohl<br />

wir wissen, dass die Mütter mit den Babys erst<br />

um halb acht den Essenraum verlassen, erscheinen wir<br />

mit unseren Schulkindern schon um 7:15 Uhr, hungrig<br />

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