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Winterschlaf<br />
uns veräppelt vor, weil es gar kein Ende mehr nimmt. Ein<br />
hübsches Dorf hängt am anderen, umgeben von Bergen<br />
mit weißen Tannen darauf und pastösem Nebel darüber.<br />
Mein Kind sagt zum Dunst über den Bergen: „Wenn<br />
man immer näher kommt, sieht es aus, als würden die<br />
Bäume in ein Loch dahinter fließen“.<br />
Wir fahren bergab in ein gespenstisch vernebeltes Eisgebirge,<br />
wo die Welt hinter jedem Baum vom Nichts<br />
verschluckt wird. Das Kurhaus steht am Berg und alle<br />
Fenster sehen hinunter ins unsichtbare Tal. Wir steigen<br />
aus in der großen Stille, atmen den eisigen Nebel, der<br />
uns mit einer gläsernen Haut überziehen will wie alles<br />
andere. Die Luft knirscht.<br />
Der Hausmeister nimmt unsere Taschen und hält uns<br />
die Türen auf damit. Es wird immer weißer um uns. Die<br />
Bettwäsche, die Zimmerwände, der Winterhimmel und<br />
langsam der Schnee. Wir müssen zur Kennenlernrunde<br />
und es ist, wie ich befürchtet habe. Unter den Frauen<br />
kein Gesicht, mit dem etwas anzufangen ist. Ich bin froh<br />
über Mareile rechts wie Mareile froh ist über mich links.<br />
Das teilt sie auch prompt der Runde mit, dass sie ohne<br />
mich niemals her gewollt hätte. Die anderen sind verunsichert<br />
über die Äußerung, die nicht ins Muster passt.<br />
Was uns im Leben wichtig ist sollen wir erklären anhand<br />
einer Postkarte, die auszuwählen ist. Ich erzähle etwas<br />
von Kunst und Kultur und halte die Sixtinische Madonna<br />
hoch. Mareile redet von Aufklärung, Wissen und Erkenntnis,<br />
hat dafür aber nur die Karte vom einsamen Baum in<br />
weißer Landschaft zur Verfügung. Jetzt ist es allen klar:<br />
Wir wollen nicht dazugehören. Wir sind die echten Großstädter<br />
und das wollen wir hier auch bleiben!<br />
Die dreißig Frauen bilden einen wohlgeordneten Gesellschaftsdurchschnitt.<br />
Am einen Ende sitzt eine<br />
hübsche, vierzigjährige Beamtin vom Brüsseler Parlamentsfernsehen<br />
mit dreijähriger Tochter, am anderen<br />
Ende eine fünfvierzigjährige, dicke Arbeitslose, die wir<br />
unterm Raucherdach schon gesehen haben. Sie kommt<br />
aus einer ostdeutschen Kleinstadt mit ihrem Kind, das<br />
eine Behinderung hat. Das hat sie von einem Türken,<br />
der nichts weiß davon. Zu Hause im Neubaublock leben<br />
noch drei jugendliche Töchter. Die jüngst e<br />
schwanger. Zwischen den beiden Extremfällen sitzen<br />
vier Krankenschwestern, einen Haufen Büromuttis,<br />
ein paar Verkäuferinnen, Friseusen und ein Fernfahrervater,<br />
Herr Rössler, der versehentlich Frau Rössler<br />
genannt wird.<br />
Die Brüsselerin bemüht sich um einen wohlwollenden<br />
Blick. Sie weiß, dass hier niemand vier Sprachen spricht,<br />
niemand heranreicht an ihre Stellung, aber sie möchte<br />
trotzdem dazugehören. Sie wurde in Pirna geboren und<br />
ihr Kind soll deutsch lernen hier. Ihr Blick bittet um<br />
Gunst und begegnet befremdeten Gesichtern.<br />
Die dicke Raucherin mit fettigem Haar in farblos wirkt<br />
resigniert. Sie weiß, dass niemand viel zu tun haben<br />
möchte mit ihr, und anstatt zu erklären was ihr wichtig<br />
ist im Leben, bittet sie nur darum, dass die Medikamente<br />
für ihr Kind im Ge<strong>mein</strong>schaftskühlschrank<br />
verbleiben dürfen. Das ist wichtig.<br />
Eine junge Friseuse hält die Karte von Dürers betenden<br />
Händen hoch, weil ihre Großeltern gestorben sind. Sie<br />
hat Tränen in den Augen, sagt weiter nichts und in mir<br />
erhebt sich der bockige Widerstand gegen das Berührt<br />
werden.<br />
Im indischen Ashram gibt es „Silence“-Sticker, um von<br />
niemandem angesprochen zu werden. So einen hätte<br />
ich jetzt gerne.<br />
Wir essen um 18:30 Uhr Abendbrot. Zuhause tun wir<br />
sowas drei Stunden später. Dass wir um 7:45 Uhr beim<br />
Frühstück erscheinen werden, ist undenkbar. Aber obwohl<br />
wir wissen, dass die Mütter mit den Babys erst<br />
um halb acht den Essenraum verlassen, erscheinen wir<br />
mit unseren Schulkindern schon um 7:15 Uhr, hungrig<br />
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