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CAMPULS Sommersemester 2019 Ausgabe 1

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le betrachtet. Ein Leben ohne Ehemann oder<br />

das Ausüben »unweiblicher« Berufe wurden<br />

von den Konstanzer Feministinnen zu diesem<br />

Zeitpunkt abgelehnt. Paradoxerweise entsprachen<br />

gerade Helene und Maria Schieß mit ihrer<br />

ledigen Wohngemeinschaft nicht dem konservativen<br />

Bild, das sie selbst vertraten.<br />

Trotz dieser konservativen Grundhaltung<br />

setzte sich der Verein dafür ein, die Situation<br />

von Frauen und Mädchen in Konstanz<br />

zu verbessern. 1907 wurde eine kostenlose<br />

Rechtsberatung eingerichtet, die bereits in den<br />

ersten Jahren von mehreren hundert Frauen<br />

in Anspruch genommen wurde. Vor allem die<br />

gesetzlich vorgeschriebene Unterordnung der<br />

Ehefrau gegenüber dem Ehemann und deren<br />

ökonomische Abhängigkeit und Unmündigkeit<br />

führten zu Problemen, mit denen die Frauen zur<br />

Beratungsstelle kamen. Außerdem organisierte<br />

der Verein Leseabende für ältere Mädchen, die<br />

Bildung und selbstständiges Denken fördern<br />

sollten.<br />

Obwohl radikalere Feministinnen wie Anita<br />

Augspurg und Lida Heymann vor der Wahl zur<br />

Nationalversammlung all ihre Kräfte in die<br />

Mobilisierung der neuen Wählerinnen gesteckt<br />

hatten, fiel das Ergebnis der historischen Wahl<br />

aus ihrer Sicht eher ernüchternd aus. Nur zehn<br />

Prozent der gewählten Abgeordneten waren<br />

weiblich. Die Frauen wählten eher konservativ<br />

und keineswegs mehrheitlich Frauen oder die<br />

Parteien, die zuvor für ihr Wahlrecht gekämpft<br />

hatten. Trotzdem waren die zehn Prozent im<br />

historischen Kontext ein Quantensprung. Es<br />

sollte bis 1987 dauern, bis der Frauenanteil<br />

im Bundestag erstmals über zehn Prozent lag.<br />

Die erste Konstanzerin, die in ein überregionales<br />

Mandat gewählt wurde, war Maria<br />

Beyerle. Bezeichnenderweise war sie von<br />

einem Listenplatz der Zentrumspartei aus für<br />

die Wahl zur badischen Nationalversammlung<br />

angetreten. Auch für sie war die Rolle der Frau<br />

vor allem von der Kindererziehung und der<br />

Schaffung eines friedlichen und harmonischen<br />

Familienumfeldes geprägt.<br />

Geschichte ist zwar im Allgemeinen männlich<br />

geprägt, das hat aber auch damit zu tun,<br />

dass es bisher vor allem Männer waren, die<br />

sie erzählt haben. Auch in Konstanzer Stadtgeschichte<br />

werden Frauen sichtbarer, wenn man<br />

einen Blick unter die von Jan Huss, Heinrich<br />

Suso und Ambrosius Blarer dominierte, maskuline<br />

Patina der Stadt-Historie wirft.<br />

So hatten etwa die Konstanzer Reformatoren<br />

Thomas und Ambrosius Blarer eine Schwester<br />

– Margarete Blarer –, die in Konstanz nicht<br />

nur für ihre aufopferungsvolle charitative Ar-<br />

beit, sondern auch für ihren eigenwilligen Lebenswandel<br />

bekannt war. Sie weigerte sich<br />

zeitlebens, verheiratet zu werden, was ihr von<br />

ihren Brüdern, Verwandten und Freunden regelmäßig<br />

vorgehalten wurde. Margarete Blarer<br />

nahm großen Anteil an den Ideen Martin<br />

Luthers, mit denen sie durch ihre Brüder in<br />

Kontakt gekommen war. Außerdem war ihre<br />

Begeisterung für Sprachen so groß, dass sich<br />

ihr Bruder dazu gezwungen sah, »ihr eher den<br />

Zügel als die Sporen zu geben«, und es ihr ver-<br />

bot, nun auch noch Griechisch zu lernen.<br />

Der Konstanzer SPD-Ortsverein wurde<br />

1946 von Gerda Leonhard gegründet. Sie kandidierte<br />

bei den Kommunalwahlen und saß<br />

anschließend für 29 Jahre im Gemeinderat.<br />

1975 verlieh ihr die Stadt den zum ersten Mal<br />

verliehenen Ehrenring, um ihr politisches und<br />

soziales Engagement zu würdigen.<br />

»Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt,<br />

dass sie eine Geschichte hat«, schrieb die<br />

US-amerikanische Historikerin Gerda Lerner.<br />

Wenn wir heute nach weiblichen Vorbildern<br />

suchen, dann lohnt sich nicht nur der Blick<br />

nach links und rechts, sondern auch zurück.<br />

Wer sucht, der findet überall die Spuren bedeutender<br />

Frauen, auch wenn sie manchmal<br />

verwischt sein mögen. Man kann das Gefühl,<br />

in seiner Rolle als Frau immer die Beweislast<br />

ob der Kompetenz seines ganzen Geschlechts<br />

tragen zu müssen, plötzlich mit so viel mehr<br />

Schultern teilen, in der Gewissheit, dass diese<br />

ungebeugt geblieben sind.<br />

Von der Wahl zur Nationalversammlung<br />

1919 bis heute war es ein langer Weg. In Konstanz<br />

hat sich einiges getan. Sowohl Stadt als<br />

auch Universität haben eine Gleichstellungsbeauftragte,<br />

die Universität hat eine Rektorin<br />

und auch in die Fußstapfen des Theaterintendanten<br />

Christoph Nix wird eine Frau treten.<br />

Auch heute noch ist die Kommunalpolitik ein<br />

stark männlich dominiertes Feld. Von vierzig<br />

Gemeinderatsmitgliedern sind nur zehn weiblich;<br />

der Frauenanteil unter Deutschlands Bür-<br />

germeister_innen liegt bei knapp zehn Prozent.<br />

Zu einhundert Jahren Frauenwahlrecht bleibt<br />

zu sagen: Wir feiern das Ende eines Unrechts,<br />

das es gar nicht erst hätte geben dürfen. Heute<br />

kann das Datum vor allem ein Anlass sein,<br />

sich daran zu erinnern, dass gesellschaftlicher<br />

Fortschritt weder einfach so vom Himmel fällt,<br />

noch, dass er in Stein gemeißelt ist.<br />

POLITIK<br />

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