CAMPULS Sommersemester 2019 Ausgabe 1

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Text: Lea Luttenberger Illustration: Julia Herzog RENTIERE KÖNNEN NICHT IM LAUFEN PINKELN KOLUMNE Es war wirklich eine der Faulheit geschuldete SCHNAPSIDEE, alle meine Sachen einfach in eine Kiste zu werfen. Der im Umzugskarton entstandene KABELSALAT hat sich kunstvoll mit meinen Wollknäueln verknotet, die Bekanntschaft mit dem Klettverschluss an meiner Tasche gemacht haben. Jetzt heißt es, den INNEREN SCHWEINEHUND überwinden und mit ENGELSGEDULD und FINGERSPITZENGEFÜHL tun, was eben getan werden muss. Gestern bin ich mit den wenigen HABSELIGKEITEN, die ich besitze, in eine neue Wohnung gezogen. Der dritte Umzug innerhalb eines guten Jahres, die fünfte Stadt, in der ich lebe. Jetzt wohne ich zum ersten Mal allein. Meine VORFREUDE vermischt sich mit einer kleinen Dosis WELTSCHMERZ, während der ZEITGEIST des Aufbruchs um die Häuser spukt. Weltschmerz wird im Duden definiert als ein die seelische Grundstimmung prägender Schmerz, Traurigkeit, Leiden an der Welt und ihrer Unzulänglichkeit im Hinblick auf eigene Wünsche und Erwartungen. Ein Gefühl, das mich immer mal wieder überkommt, ich aber in keiner anderen Sprache in einem Wort ausdrücken kann. Genauso wenig wie Schnapsidee, Engelsgeduld oder Zeitgeist. Viele Sprachen haben eigene unübersetzbare Wörter, die ganz bestimmte Sachverhalte oder Stimmungen auf den Punkt bringen. Ein Wort sagt manchmal mehr als tausend Worte. Es hat durchaus Vorteile, allein zu wohnen. Ich kann morgenvermuffelt frühstücken, ohne Geräusche zu machen, die meinen Mitbewohner_innen anzeigen sollen, dass ich ihnen interessiert zuhöre (Japanisch: »aidzuchi«). Manchmal wünsche ich mir ja auch Einsamkeit (Spanisch: »engentado«). Schade ist nur, dass ich jetzt nicht mehr unbeobachtet in der Küche naschen kann (Schwedisch: »tjuvsmaka«), wenn ich nicht selbst eingekauft habe. Dafür kann ich, wenn mich nach einem üppigen Essen eine plötzliche Schläfrigkeit überkommt (Italienisch: »abbiocco«), ohne abzuwaschen, einfach zurück ins Bett fallen. Und wenn ich nach dem Friseurbesuch das Gefühl habe, schlechter auszusehen, als vorher (Japanisch: »age-otori«), kann ich mich aus Frust darüber allein zuhause in Unterhose betrinken (Finnisch: »kalsarikännit«). Morgens wache ich vielleicht mit einem moralischen Kater auf, in Sorge, was ich während meines betrunkenen Blackouts getan habe (Norwegisch: »fylleangst«). Weil aber niemand da war, brauche ich kein wirkliches oder eingebildetes Kissen, das ich mir schamvoll vors Gesicht halten kann (Schwedisch: »skämskudde«). Und wenn ich mich doch mal zu allein fühle, kann ich immer noch jemanden anrufen - und es natürlich nur einmal klingeln lassen, in der Hoffnung, dass der oder die Angerufene zurückruft und ich mir die Anrufkosten spare (Tschechisch: »prozvonit«). Außerdem war mein Umzug auch nur halb so aufregend. Ich bin nicht mal die Hälfte der Strecke, die ein Rentier zurücklegen kann, bevor es pinkeln muss (Finnisch: »poronkusema«) von meiner ehemaligen WG weggezogen. Schon heute Abend bin ich wieder dort, es findet meine Abschiedsparty statt. Da werde ich bei dem schönen Wetter das erste Bier draußen trinken (Norwegisch: »utepils«) und einfach nur ungehemmt meinen Weltschmerz wegtanzen (Bantu: »mbuki-mvuki«). Gerade schaue ich abwechselnd gedankenlos in die Ferne (Japanisch: »boketto«) und denke über die Rolle Gottes in der Menschheitsgeschichte nach (Russisch: »bogocelovecestvo«). Ich überlege, welche Beziehung ich zu dem Ort habe, an dem ich geboren wurde (Walisisch: »cynefin«) und denke über all die Orte nach, an denen ich schon gewohnt habe – wo fühle ich mich aufgehoben, zugehörig und zuhause (Deutsch: »Heimat«)? Wo fühle ich mich sicher und ziehe meine Kraft und Inspiration daraus (Spanisch: »querenzia«)? Und während ich mich hier so einrichte, mein frisch gekauftes Buch von gestern ungelesen auf den Stapel mit den anderen ungelesenen Büchern in mein Regal lege (Japanisch: »tsundoku«), packt mich schon wieder das Fernweh (Deutsch: »Sehnsucht nach der Ferne«). Irgendwie wird meine innere Zerrissenheit zwischen Fern- und Heimweh fassbarer, wenn ich sie wenigstens in Worte fassen kann – oder in ein Wort. Es muss schön sein, ein Rentier zu sein. Durch die Gegend zu streifen und unterwegs zu sein, sich alle siebeneinhalb Kilometer die Zeit nehmen, inne zu halten und zu pinkeln. Wenn man allein wohnt, geht das sogar bei offener Klotür. Innehalten, um über große und kleine Fragen des Lebens und die Schönheit von Sprache nachzudenken. Wie viel Zeit brauche ich, um eine Banane zu essen (Malaysisch: »pisanzapra«)? Wie groß ist die Menge Wasser, die in eine Hand passt (Arabisch: »gurfa«)? Eine Person, die viele Fragen stellt, heißt auf Russisch »pochemuchka«. Ich wünsche mir zwei Dinge: Erstens, ein Pissoir, um mit jemand anderen Wettbewerbe auszutragen, wer länger pinkeln kann (Punjabi: »péchcha«). Zweitens, ein Wort in irgendeiner Sprache für Wörter, die es nur in einer Sprache gibt, bei denen der Teil, den man nicht übersetzen kann, entscheidend ist. 30
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