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The Red Bulletin Mai 2019

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Read Bull<br />

Angelika Hager<br />

Zustand der Euphorie, der mir bis heute<br />

wie ein Wunder erscheint. Eigentlich hätten<br />

wir nach diesen Schreibmarathons wie<br />

nasse Säcke in den Seilen hängen müssen.<br />

Unsere nahezu tranceartige Stimmung<br />

wurde durch die Schreie der Hochschaubahn-<br />

und Ringelspielfahrer, die sich im<br />

nahe liegenden Prater in schwindelnde<br />

Höhen katapultieren ließen, zusätzlich beflügelt.<br />

Im Gegensatz zu den Prater-Kamikazes<br />

mussten wir für unsere Abenteuer<br />

nicht bezahlen, wir machten sie uns selbst.<br />

Die Serie sollte übrigens leider kein<br />

Straßenfeger werden. Egal. Im Nachhinein<br />

betrachtet, ist jede Form von Scheitern<br />

erträglich, wenn man sich selbst nach der<br />

Bauchlandung flüstern kann: „Okay, es ist<br />

diesmal leider nicht so tosend gelaufen.<br />

Aber du hast dich davor nicht geschont<br />

und alles aus dir rausgeholt.“ In solchen<br />

Fällen bleibt der schwarze Peter bei<br />

den höheren Mächten, den äußeren Umständen<br />

oder bei jemand anderem, der<br />

sich nicht wehren kann.<br />

Nicht zu unterschätzende Motivationsquellen<br />

sind natürlich auch<br />

unbezahlte Rechnungen und Zurückweisung,<br />

die, wie jeder aus seiner<br />

eigenen Liebesbiografie nur allzu gut<br />

weiß, ausschlaggebend für enorme Kräftemobilisierung<br />

werden können. Schon<br />

im Alter von fünf Jahren im Kindergarten<br />

habe ich dem Typen, der mich angestrengt<br />

nicht zur Kenntnis genommen hat, meine<br />

Jausensemmel geschenkt und ein Himmelreich<br />

versprochen, um dann mitansehen zu<br />

müssen, wie er mir mit einer Jüngeren in<br />

Form einer vierjährigen Zöpfchenträgerin<br />

auf das Klettergerüst durchgebrannt ist.<br />

Klar, dass mich das erst recht auf Touren<br />

gebracht hat, es wurden noch mehr<br />

Jausen-Goodies in das Kampfgetümmel<br />

geworfen. Zumindest für eine Zeit.<br />

Aber irgendwann beschleicht einen<br />

dann doch die Erkenntnis, dass das Kämpfen<br />

in Schlachten, die nicht zu gewinnen<br />

sind, vergeudete Energie ist. Schauspieler<br />

Viggo Mortensen, auch schon sechzig,<br />

umschrieb diese Regel mit dem Satz: „Klar<br />

musst du dir immer sagen: Ich kann alles.<br />

Aber man muss auch innerhalb der Grenzen<br />

der Vernunft bleiben.“ Der Satz „Das<br />

schaffst du nie“, den Mortensen als Kind<br />

recht oft hören musste, hatte „eine unglaubliche<br />

Treibkraft“. Oder nehmen wir<br />

„Jedermann“-Darsteller Philipp Hochmair.<br />

Er litt als Kind an einer Leseschwäche.<br />

Wurde manchmal verhöhnt, weil er die<br />

Buchstaben nicht zu Worten formen konnte.<br />

Irgendwann sprang er in der Klasse<br />

auf einen Sessel und begann laut Gedichte<br />

zu deklamieren, die er sich auswendig<br />

erhört hatte. Und alle wurden still. Er hat<br />

seither damit nicht mehr aufgehört.<br />

Meryl Streep bekam von Dino de Laurentiis<br />

eine brutale Abwertung verpasst.<br />

Als sie sich Mitte zwanzig beim Casting<br />

für den Film „King Kong“ vorstellte,<br />

schnauzte der Produzent seinen Sohn auf<br />

Italienisch an: „Warum hast du mir dieses<br />

hässliche Ding hier hereingeschleppt!“<br />

(Jessica Lange bekam die Rolle.) 21 Oscar-<br />

Nominierungen später kann Streep über<br />

Es ist erstaunlich,<br />

wie positiv sich<br />

Leerläufe auswirken.<br />

Langeweile<br />

wurde bislang total<br />

unterschätzt.<br />

diese traumatisierende Erfahrung lachen.<br />

Möglicherweise hat sie ihrem Talent sogar<br />

Flügel verliehen. Der Begründer der<br />

Individualpsychologie, Alfred Adler, der<br />

von seinem früheren Förderer Sigmund<br />

Freud brutal entsorgt wurde, hat diesen<br />

„Ich werde es euch allen noch zeigen“-<br />

Treibstoff mit dem Begriff Minderwertigkeitskomplex<br />

betitelt. Freud selbst soll<br />

daraufhin gekontert haben: „Bevor du dir<br />

selbst Depressionen oder einen Minderwertigkeitskomplex<br />

diagnostizierst, stelle<br />

sicher, dass du nicht einfach nur von<br />

Arschlöchern umgeben bist.“<br />

Weil gerade Arschlöcher erwähnt<br />

wurden: Der Mann, dessen aktueller<br />

Frisurenberater einen dringenden<br />

Branchenwechsel in Erwägung<br />

ziehen sollte, hielt im Sommer 2004 eine<br />

flammende <strong>Red</strong>e vor den Absolventen des<br />

Wagner College in New York, die mit den<br />

Worten schloss: „Wenn da eine Mauer<br />

vor euch liegt, gebt nicht auf! Geht durch<br />

sie durch, steigt über sie drüber – tut,<br />

was immer ihr könnt, um auf der anderen<br />

Seite zu landen.“ Angesichts des finsteren<br />

Mauerplans an der Grenze zu Mexiko ist<br />

Donald Trumps damaliger Motivationsappell<br />

so makaber wie paradox. Als in der<br />

Yuppie-Ära sozialisierter Mensch wuchs<br />

man mit Typen wie Trump auf, die ein<br />

von Verbissenheit, Ellbogenmentalität<br />

und Skrupellosigkeit durchdrungenes<br />

Leistungsdenken predigten.<br />

Der größte Popstar der 1980er und<br />

1990er Jahre war Madonna, eine Frau,<br />

die, wie sie selbst einräumte, „weder besonders<br />

gut singen noch besonders gut<br />

tanzen“ konnte, aber mit einer von Perfektionwahn<br />

getragenen Zielstrebigkeit<br />

alle anderen vom Platz fegte. Man war<br />

von ihr und ihrer Ego-Erfindungsmaschine<br />

fasziniert, aber an die Seele ging sie einen<br />

nicht – genauso wenig wie später Taylor<br />

Swift, Lady Gaga oder Kate Perry, die alle<br />

wie überambitionierte Soldatinnen in<br />

einem riesigen Labor namens Popbiz<br />

wirken. „Ehrgeiz ist die Wurzel aller Hässlichkeit“,<br />

fand der Bonmot-Fabrikant und<br />

irische Schriftsteller Oscar Wilde. Und ich<br />

würde noch hinzufügen: Verbissenheit.<br />

Eine gewisse Nonchalance bei allen Projekten<br />

– egal ob es sich um sportliche Ertüchtigungen,<br />

Cupcake-Wettbewerbe, die<br />

Komposition einer Symphonie oder eine<br />

verrückte, kleine Start-up-Sache handelt<br />

– gibt eine wichtige Duftnote.<br />

Und zwischendurch sollte man immer<br />

wieder einmal auch den kleinen,<br />

dicken Schweineköter siegen lassen<br />

und auf sein selbst verordnetes Pensum<br />

pfeifen, seinem Kühlschrankmagneten<br />

mit der ermunternden Aufschrift „Einen<br />

Scheiß muss ich …“ zuzwinkern und<br />

sich einen, wie er und ich es inzwischen<br />

nennen, „Schlampentag“ gönnen. Der<br />

beinhaltet: im Morgenmantel bleiben bis<br />

zum Abend, böse Dinge essen, die das<br />

Cholesterin zum Tanzen bringen, Netflix-<br />

Marathons, durch den Prater schlendern<br />

und dabei, außer blöd schauen, nichts<br />

sonst machen. Es ist erstaunlich, wie belebend<br />

sich solche Leerläufe auf die kreative<br />

Wendigkeit und die Erfindungsgabe<br />

auswirken. Und sie bringen das Seelensystem<br />

wieder aus der Stresszone. Sollten<br />

sich auch diese Helikopter-Eltern hinter<br />

die Öhrchen malen, die ihre Kinder ständig<br />

überfordern, vom Baby-Yoga zum<br />

Ausdruckstöpfern chauffieren, anstatt sie<br />

auch mit Ruhe zu fördern. Langeweile,<br />

wenn man sie wortwörtlich nimmt, wurde<br />

bislang total unterschätzt.<br />

118 THE RED BULLETIN

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