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Read Bull<br />
Angelika Hager<br />
Zustand der Euphorie, der mir bis heute<br />
wie ein Wunder erscheint. Eigentlich hätten<br />
wir nach diesen Schreibmarathons wie<br />
nasse Säcke in den Seilen hängen müssen.<br />
Unsere nahezu tranceartige Stimmung<br />
wurde durch die Schreie der Hochschaubahn-<br />
und Ringelspielfahrer, die sich im<br />
nahe liegenden Prater in schwindelnde<br />
Höhen katapultieren ließen, zusätzlich beflügelt.<br />
Im Gegensatz zu den Prater-Kamikazes<br />
mussten wir für unsere Abenteuer<br />
nicht bezahlen, wir machten sie uns selbst.<br />
Die Serie sollte übrigens leider kein<br />
Straßenfeger werden. Egal. Im Nachhinein<br />
betrachtet, ist jede Form von Scheitern<br />
erträglich, wenn man sich selbst nach der<br />
Bauchlandung flüstern kann: „Okay, es ist<br />
diesmal leider nicht so tosend gelaufen.<br />
Aber du hast dich davor nicht geschont<br />
und alles aus dir rausgeholt.“ In solchen<br />
Fällen bleibt der schwarze Peter bei<br />
den höheren Mächten, den äußeren Umständen<br />
oder bei jemand anderem, der<br />
sich nicht wehren kann.<br />
Nicht zu unterschätzende Motivationsquellen<br />
sind natürlich auch<br />
unbezahlte Rechnungen und Zurückweisung,<br />
die, wie jeder aus seiner<br />
eigenen Liebesbiografie nur allzu gut<br />
weiß, ausschlaggebend für enorme Kräftemobilisierung<br />
werden können. Schon<br />
im Alter von fünf Jahren im Kindergarten<br />
habe ich dem Typen, der mich angestrengt<br />
nicht zur Kenntnis genommen hat, meine<br />
Jausensemmel geschenkt und ein Himmelreich<br />
versprochen, um dann mitansehen zu<br />
müssen, wie er mir mit einer Jüngeren in<br />
Form einer vierjährigen Zöpfchenträgerin<br />
auf das Klettergerüst durchgebrannt ist.<br />
Klar, dass mich das erst recht auf Touren<br />
gebracht hat, es wurden noch mehr<br />
Jausen-Goodies in das Kampfgetümmel<br />
geworfen. Zumindest für eine Zeit.<br />
Aber irgendwann beschleicht einen<br />
dann doch die Erkenntnis, dass das Kämpfen<br />
in Schlachten, die nicht zu gewinnen<br />
sind, vergeudete Energie ist. Schauspieler<br />
Viggo Mortensen, auch schon sechzig,<br />
umschrieb diese Regel mit dem Satz: „Klar<br />
musst du dir immer sagen: Ich kann alles.<br />
Aber man muss auch innerhalb der Grenzen<br />
der Vernunft bleiben.“ Der Satz „Das<br />
schaffst du nie“, den Mortensen als Kind<br />
recht oft hören musste, hatte „eine unglaubliche<br />
Treibkraft“. Oder nehmen wir<br />
„Jedermann“-Darsteller Philipp Hochmair.<br />
Er litt als Kind an einer Leseschwäche.<br />
Wurde manchmal verhöhnt, weil er die<br />
Buchstaben nicht zu Worten formen konnte.<br />
Irgendwann sprang er in der Klasse<br />
auf einen Sessel und begann laut Gedichte<br />
zu deklamieren, die er sich auswendig<br />
erhört hatte. Und alle wurden still. Er hat<br />
seither damit nicht mehr aufgehört.<br />
Meryl Streep bekam von Dino de Laurentiis<br />
eine brutale Abwertung verpasst.<br />
Als sie sich Mitte zwanzig beim Casting<br />
für den Film „King Kong“ vorstellte,<br />
schnauzte der Produzent seinen Sohn auf<br />
Italienisch an: „Warum hast du mir dieses<br />
hässliche Ding hier hereingeschleppt!“<br />
(Jessica Lange bekam die Rolle.) 21 Oscar-<br />
Nominierungen später kann Streep über<br />
Es ist erstaunlich,<br />
wie positiv sich<br />
Leerläufe auswirken.<br />
Langeweile<br />
wurde bislang total<br />
unterschätzt.<br />
diese traumatisierende Erfahrung lachen.<br />
Möglicherweise hat sie ihrem Talent sogar<br />
Flügel verliehen. Der Begründer der<br />
Individualpsychologie, Alfred Adler, der<br />
von seinem früheren Förderer Sigmund<br />
Freud brutal entsorgt wurde, hat diesen<br />
„Ich werde es euch allen noch zeigen“-<br />
Treibstoff mit dem Begriff Minderwertigkeitskomplex<br />
betitelt. Freud selbst soll<br />
daraufhin gekontert haben: „Bevor du dir<br />
selbst Depressionen oder einen Minderwertigkeitskomplex<br />
diagnostizierst, stelle<br />
sicher, dass du nicht einfach nur von<br />
Arschlöchern umgeben bist.“<br />
Weil gerade Arschlöcher erwähnt<br />
wurden: Der Mann, dessen aktueller<br />
Frisurenberater einen dringenden<br />
Branchenwechsel in Erwägung<br />
ziehen sollte, hielt im Sommer 2004 eine<br />
flammende <strong>Red</strong>e vor den Absolventen des<br />
Wagner College in New York, die mit den<br />
Worten schloss: „Wenn da eine Mauer<br />
vor euch liegt, gebt nicht auf! Geht durch<br />
sie durch, steigt über sie drüber – tut,<br />
was immer ihr könnt, um auf der anderen<br />
Seite zu landen.“ Angesichts des finsteren<br />
Mauerplans an der Grenze zu Mexiko ist<br />
Donald Trumps damaliger Motivationsappell<br />
so makaber wie paradox. Als in der<br />
Yuppie-Ära sozialisierter Mensch wuchs<br />
man mit Typen wie Trump auf, die ein<br />
von Verbissenheit, Ellbogenmentalität<br />
und Skrupellosigkeit durchdrungenes<br />
Leistungsdenken predigten.<br />
Der größte Popstar der 1980er und<br />
1990er Jahre war Madonna, eine Frau,<br />
die, wie sie selbst einräumte, „weder besonders<br />
gut singen noch besonders gut<br />
tanzen“ konnte, aber mit einer von Perfektionwahn<br />
getragenen Zielstrebigkeit<br />
alle anderen vom Platz fegte. Man war<br />
von ihr und ihrer Ego-Erfindungsmaschine<br />
fasziniert, aber an die Seele ging sie einen<br />
nicht – genauso wenig wie später Taylor<br />
Swift, Lady Gaga oder Kate Perry, die alle<br />
wie überambitionierte Soldatinnen in<br />
einem riesigen Labor namens Popbiz<br />
wirken. „Ehrgeiz ist die Wurzel aller Hässlichkeit“,<br />
fand der Bonmot-Fabrikant und<br />
irische Schriftsteller Oscar Wilde. Und ich<br />
würde noch hinzufügen: Verbissenheit.<br />
Eine gewisse Nonchalance bei allen Projekten<br />
– egal ob es sich um sportliche Ertüchtigungen,<br />
Cupcake-Wettbewerbe, die<br />
Komposition einer Symphonie oder eine<br />
verrückte, kleine Start-up-Sache handelt<br />
– gibt eine wichtige Duftnote.<br />
Und zwischendurch sollte man immer<br />
wieder einmal auch den kleinen,<br />
dicken Schweineköter siegen lassen<br />
und auf sein selbst verordnetes Pensum<br />
pfeifen, seinem Kühlschrankmagneten<br />
mit der ermunternden Aufschrift „Einen<br />
Scheiß muss ich …“ zuzwinkern und<br />
sich einen, wie er und ich es inzwischen<br />
nennen, „Schlampentag“ gönnen. Der<br />
beinhaltet: im Morgenmantel bleiben bis<br />
zum Abend, böse Dinge essen, die das<br />
Cholesterin zum Tanzen bringen, Netflix-<br />
Marathons, durch den Prater schlendern<br />
und dabei, außer blöd schauen, nichts<br />
sonst machen. Es ist erstaunlich, wie belebend<br />
sich solche Leerläufe auf die kreative<br />
Wendigkeit und die Erfindungsgabe<br />
auswirken. Und sie bringen das Seelensystem<br />
wieder aus der Stresszone. Sollten<br />
sich auch diese Helikopter-Eltern hinter<br />
die Öhrchen malen, die ihre Kinder ständig<br />
überfordern, vom Baby-Yoga zum<br />
Ausdruckstöpfern chauffieren, anstatt sie<br />
auch mit Ruhe zu fördern. Langeweile,<br />
wenn man sie wortwörtlich nimmt, wurde<br />
bislang total unterschätzt.<br />
118 THE RED BULLETIN