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The Red Bulletin Mai 2019

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ein Bungee-Seil an meiner Sattelstütze festgemacht.<br />

Ich muss mit voller Kraft in die Pedale treten, obwohl<br />

es bergab geht. Ich lenke mich ab, indem ich Bagger<br />

zähle, die am Straßenrand auf ihren Einsatz nach<br />

dem nächsten Erdrutsch warten. Bei 30 höre ich auf.<br />

Um 4.30 Uhr sehe ich aus, als hätte ein Elefant<br />

mich angeniest. Allein in meinem rechten Auge muss<br />

jetzt ein halber Kilo Dreck kleben. Ich versuche, das<br />

Auge mit der einen Hand sauber zu rubbeln, während<br />

ich mit der anderen durch eine enge Kurve steuere.<br />

Der Akku meines Frontscheinwerfers hält das für den<br />

perfekten Moment, um den Geist aufzugeben. Auf<br />

einmal ist es zappenduster, während neben mir ein<br />

Abgrund hunderte Meter tief abfällt, steil und ohne<br />

Geländer. Immerhin passt sich mein linkes Auge<br />

rasch an die Dunkelheit an. Ich erkenne eine dichte<br />

Wolkendecke – tief unter mir.<br />

„Wenn du in eine dieser Schluchten fällst, wird<br />

dich niemand finden“, hat ein einheimischer Biker<br />

gestern gesagt.<br />

Weit vor uns legen vier der besten Fahrer,<br />

Soldaten der Royal Bhutan Army, ein<br />

halsbrecherisches Tempo vor. Einer von<br />

ihnen ist der 28-jährige Tshering Dendup.<br />

Obwohl er erst seit einem Jahr Fahrrad fährt, absolviert<br />

er manchmal 24-stündige Trainingseinheiten –<br />

oder teilt sich an drei aufeinander folgenden Tagen<br />

achtstündige Einheiten ein. Wie die anderen Staatsdiener,<br />

die an der Tour teilnehmen, ist Dendup klein<br />

und schüchtern. Wenn er von seiner Liebe zum Radsport<br />

erzählt, scheinen seine hohen Wangenknochen<br />

noch ein Stück weiter nach oben zu wandern: „Ich<br />

tue es für die körperliche Fitness“, sagte er mir vor<br />

dem Rennen, „aber ich habe auch das Gefühl, mit<br />

dem Radfahren meinem Land zu dienen.“<br />

Neben ihrer militärischen Ausbildung bleibt diesen<br />

handverlesenen Soldaten genügend Trainingszeit<br />

für viele Kilometer. „Die Unterstützung Seiner Königlichen<br />

Hoheit für unsere jungen Militär-Radsportler<br />

ist außerordentlich groß“, sagt Leutnant Ugyen Dorji,<br />

selbst einer der Rennfahrer, in förmlichem Ton. „Seine<br />

Vision besteht darin, unseren Athleten den Weg hinaus<br />

in die Welt zu ermöglichen. Eines Tages sollen<br />

sie an internationalen Veranstaltungen teilnehmen<br />

und dort die Drachenfahne repräsentieren“ (d ie<br />

Nationalflagge zeigt Druk, den Donnerdrachen der<br />

bhutanischen Mythologie).<br />

Doch es sind nicht nur die Soldaten, die der Prinz<br />

mit seiner Begeisterung ansteckt. Zwei Tage vor dem<br />

Rennen fragt mich der Prinz, ob ich zu Hause in Colorado<br />

hart trainiert habe. Ich nicke und erzähle ihm,<br />

wie viele neue Trails und Straßen ich dabei gleich<br />

hinter meinem eigenen Haus entdeckt habe. „Das ist<br />

das Beste am Mountainbiken“, sagt er, die Hand lässig<br />

am goldenen Knauf seines an der Hüfte sitzenden<br />

Schwertes, „und es zeigt uns so viel von uns selbst.“<br />

Von der Unterstützung des Prinzen kann auch der<br />

36-jährige Aaron Bayard ein Lied singen. Der in<br />

Thimphu lebende Amerikaner bildet ehrenamtlich<br />

lokale Fahrradmechaniker aus und nahm 2016 an<br />

der Drachentour teil, als der Monsun das Rennen an<br />

den Rand des Abbruchs brachte. Aaron befand sich<br />

am Fuß des 3111 Meter hohen Dochula-Passes, vor<br />

Die Königsfamilie steckte<br />

ihre Bürger mit der Liebe<br />

zum Radsport an.<br />

ihm ein Anstieg von 40 Kilometern, als er am Ende<br />

seiner Kräfte angelangt war. „Ich schob humpelnd<br />

mein Rad“, erzählte er mir vor dem Rennen, „und<br />

sagte meiner Frau am Telefon, dass ich aufgeben<br />

wollte. Zehn Minuten später fuhr der Prinz neben<br />

mir in einem Auto vor. Einer seiner Assistenten besprühte<br />

mein Bein mit einem schmerzstillenden Spray,<br />

und dann stieg der Prinz auf sein Bike, um mich zu<br />

begleiten. ‚Du kannst es schaffen‘, sagte er mir immer<br />

wieder, ‚schau nur, all diese Leute hier jubeln nur<br />

für dich.‘ Ich schaffte es genau eine Minute vor dem<br />

Zeitlimit ins Ziel. Das verdankte ich nur ihm.“<br />

Der Dochula-Pass zieht den meisten Fahrern<br />

den Stecker. Hinter jeder unerbittlichen<br />

Serpentine wartet eine weitere, die Steigung<br />

wird beständig steiler, und es gibt keinen<br />

Meter, an dem man sich erholen könnte.<br />

Nach einer einstündigen Abfahrt vom 3100 Meter<br />

hohen Pele-La-Pass erreiche ich das auf 1400 Metern<br />

gelegene Dorf Metshina am Fuße des Dochula. Es hat<br />

33 Grad Celsius. Ich schwitze so stark, dass es von den<br />

Schlammkrusten meiner Haut tropft. Nach einer kurzen<br />

Nachmittagssonnendusche zieht sich ein dichter<br />

Wolkenschleier zusammen. Ich frage einen Mönch,<br />

der mich in einem kleinen Suzuki überholt, ob es noch<br />

weit bis zur Passhöhe ist. Leider dürfen Mönche nicht<br />

lügen, darum sagt er: „Noch ein ziemliches Stück.“<br />

Doch schon nach ein paar Minuten tauchen die<br />

letzten Gebetsfahnen auf, die den Dochula-Pass<br />

schmücken. Jetzt folgt nur noch die lange, kurvenreiche<br />

Abfahrt nach Thimphu, mitten im dichten<br />

Samstagsverkehr. Ich überquere die Ziellinie auf<br />

Thimphus Hauptplatz mit einer Zeit von 13 Stunden,<br />

45 Minuten und 24 Sekunden – der respektable<br />

14. Platz. Von den 48 teilnehmenden Fahrern schaffen<br />

nur 26 das Zeitlimit. Obwohl fast alle Fahrer<br />

der Royal Bhutan Army stürzten, beenden sie das<br />

Rennen dennoch auf dem sechsten, fünften, dritten<br />

und zweiten Platz. Der Gewinner? Aaron Bayard, der<br />

Amerikaner, der 2016 beinahe aufgegeben hätte.<br />

Er gewinnt mit 50 Minuten Vorsprung, mit einer<br />

Zeit von 11 Stunden, 11 Minuten und 42 Sekunden.<br />

Die Einheimischen feiern ihn wie einen der Ihren.<br />

Am nächsten Tag teilen wir Fahrer wenige Meter<br />

neben dem Königspalast unsere Geschichten von<br />

gerissenen Ketten, platten Reifen und zeitsparendem<br />

Während-der-Fahrt-in-die-Hose-Pinkeln. Die bhutanischen<br />

Rennfahrer sind etwas zurückhaltender.<br />

Doch sie stellen alle die gleiche Frage: „Du bist doch<br />

nächstes Jahr wieder dabei, oder?“<br />

tourofthedragon.com<br />

THE RED BULLETIN 83

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