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ein Bungee-Seil an meiner Sattelstütze festgemacht.<br />
Ich muss mit voller Kraft in die Pedale treten, obwohl<br />
es bergab geht. Ich lenke mich ab, indem ich Bagger<br />
zähle, die am Straßenrand auf ihren Einsatz nach<br />
dem nächsten Erdrutsch warten. Bei 30 höre ich auf.<br />
Um 4.30 Uhr sehe ich aus, als hätte ein Elefant<br />
mich angeniest. Allein in meinem rechten Auge muss<br />
jetzt ein halber Kilo Dreck kleben. Ich versuche, das<br />
Auge mit der einen Hand sauber zu rubbeln, während<br />
ich mit der anderen durch eine enge Kurve steuere.<br />
Der Akku meines Frontscheinwerfers hält das für den<br />
perfekten Moment, um den Geist aufzugeben. Auf<br />
einmal ist es zappenduster, während neben mir ein<br />
Abgrund hunderte Meter tief abfällt, steil und ohne<br />
Geländer. Immerhin passt sich mein linkes Auge<br />
rasch an die Dunkelheit an. Ich erkenne eine dichte<br />
Wolkendecke – tief unter mir.<br />
„Wenn du in eine dieser Schluchten fällst, wird<br />
dich niemand finden“, hat ein einheimischer Biker<br />
gestern gesagt.<br />
Weit vor uns legen vier der besten Fahrer,<br />
Soldaten der Royal Bhutan Army, ein<br />
halsbrecherisches Tempo vor. Einer von<br />
ihnen ist der 28-jährige Tshering Dendup.<br />
Obwohl er erst seit einem Jahr Fahrrad fährt, absolviert<br />
er manchmal 24-stündige Trainingseinheiten –<br />
oder teilt sich an drei aufeinander folgenden Tagen<br />
achtstündige Einheiten ein. Wie die anderen Staatsdiener,<br />
die an der Tour teilnehmen, ist Dendup klein<br />
und schüchtern. Wenn er von seiner Liebe zum Radsport<br />
erzählt, scheinen seine hohen Wangenknochen<br />
noch ein Stück weiter nach oben zu wandern: „Ich<br />
tue es für die körperliche Fitness“, sagte er mir vor<br />
dem Rennen, „aber ich habe auch das Gefühl, mit<br />
dem Radfahren meinem Land zu dienen.“<br />
Neben ihrer militärischen Ausbildung bleibt diesen<br />
handverlesenen Soldaten genügend Trainingszeit<br />
für viele Kilometer. „Die Unterstützung Seiner Königlichen<br />
Hoheit für unsere jungen Militär-Radsportler<br />
ist außerordentlich groß“, sagt Leutnant Ugyen Dorji,<br />
selbst einer der Rennfahrer, in förmlichem Ton. „Seine<br />
Vision besteht darin, unseren Athleten den Weg hinaus<br />
in die Welt zu ermöglichen. Eines Tages sollen<br />
sie an internationalen Veranstaltungen teilnehmen<br />
und dort die Drachenfahne repräsentieren“ (d ie<br />
Nationalflagge zeigt Druk, den Donnerdrachen der<br />
bhutanischen Mythologie).<br />
Doch es sind nicht nur die Soldaten, die der Prinz<br />
mit seiner Begeisterung ansteckt. Zwei Tage vor dem<br />
Rennen fragt mich der Prinz, ob ich zu Hause in Colorado<br />
hart trainiert habe. Ich nicke und erzähle ihm,<br />
wie viele neue Trails und Straßen ich dabei gleich<br />
hinter meinem eigenen Haus entdeckt habe. „Das ist<br />
das Beste am Mountainbiken“, sagt er, die Hand lässig<br />
am goldenen Knauf seines an der Hüfte sitzenden<br />
Schwertes, „und es zeigt uns so viel von uns selbst.“<br />
Von der Unterstützung des Prinzen kann auch der<br />
36-jährige Aaron Bayard ein Lied singen. Der in<br />
Thimphu lebende Amerikaner bildet ehrenamtlich<br />
lokale Fahrradmechaniker aus und nahm 2016 an<br />
der Drachentour teil, als der Monsun das Rennen an<br />
den Rand des Abbruchs brachte. Aaron befand sich<br />
am Fuß des 3111 Meter hohen Dochula-Passes, vor<br />
Die Königsfamilie steckte<br />
ihre Bürger mit der Liebe<br />
zum Radsport an.<br />
ihm ein Anstieg von 40 Kilometern, als er am Ende<br />
seiner Kräfte angelangt war. „Ich schob humpelnd<br />
mein Rad“, erzählte er mir vor dem Rennen, „und<br />
sagte meiner Frau am Telefon, dass ich aufgeben<br />
wollte. Zehn Minuten später fuhr der Prinz neben<br />
mir in einem Auto vor. Einer seiner Assistenten besprühte<br />
mein Bein mit einem schmerzstillenden Spray,<br />
und dann stieg der Prinz auf sein Bike, um mich zu<br />
begleiten. ‚Du kannst es schaffen‘, sagte er mir immer<br />
wieder, ‚schau nur, all diese Leute hier jubeln nur<br />
für dich.‘ Ich schaffte es genau eine Minute vor dem<br />
Zeitlimit ins Ziel. Das verdankte ich nur ihm.“<br />
Der Dochula-Pass zieht den meisten Fahrern<br />
den Stecker. Hinter jeder unerbittlichen<br />
Serpentine wartet eine weitere, die Steigung<br />
wird beständig steiler, und es gibt keinen<br />
Meter, an dem man sich erholen könnte.<br />
Nach einer einstündigen Abfahrt vom 3100 Meter<br />
hohen Pele-La-Pass erreiche ich das auf 1400 Metern<br />
gelegene Dorf Metshina am Fuße des Dochula. Es hat<br />
33 Grad Celsius. Ich schwitze so stark, dass es von den<br />
Schlammkrusten meiner Haut tropft. Nach einer kurzen<br />
Nachmittagssonnendusche zieht sich ein dichter<br />
Wolkenschleier zusammen. Ich frage einen Mönch,<br />
der mich in einem kleinen Suzuki überholt, ob es noch<br />
weit bis zur Passhöhe ist. Leider dürfen Mönche nicht<br />
lügen, darum sagt er: „Noch ein ziemliches Stück.“<br />
Doch schon nach ein paar Minuten tauchen die<br />
letzten Gebetsfahnen auf, die den Dochula-Pass<br />
schmücken. Jetzt folgt nur noch die lange, kurvenreiche<br />
Abfahrt nach Thimphu, mitten im dichten<br />
Samstagsverkehr. Ich überquere die Ziellinie auf<br />
Thimphus Hauptplatz mit einer Zeit von 13 Stunden,<br />
45 Minuten und 24 Sekunden – der respektable<br />
14. Platz. Von den 48 teilnehmenden Fahrern schaffen<br />
nur 26 das Zeitlimit. Obwohl fast alle Fahrer<br />
der Royal Bhutan Army stürzten, beenden sie das<br />
Rennen dennoch auf dem sechsten, fünften, dritten<br />
und zweiten Platz. Der Gewinner? Aaron Bayard, der<br />
Amerikaner, der 2016 beinahe aufgegeben hätte.<br />
Er gewinnt mit 50 Minuten Vorsprung, mit einer<br />
Zeit von 11 Stunden, 11 Minuten und 42 Sekunden.<br />
Die Einheimischen feiern ihn wie einen der Ihren.<br />
Am nächsten Tag teilen wir Fahrer wenige Meter<br />
neben dem Königspalast unsere Geschichten von<br />
gerissenen Ketten, platten Reifen und zeitsparendem<br />
Während-der-Fahrt-in-die-Hose-Pinkeln. Die bhutanischen<br />
Rennfahrer sind etwas zurückhaltender.<br />
Doch sie stellen alle die gleiche Frage: „Du bist doch<br />
nächstes Jahr wieder dabei, oder?“<br />
tourofthedragon.com<br />
THE RED BULLETIN 83