INNOVATION „ ICH LERNE DIE BERGE IMMER BESSER KENNEN. JE MEHR ICH ÜBER SIE WEISS, UMSO BESSER WEISS ICH, WAS ICH NICHT TUN DARF“ 62 THE JAGUAR
BERNHARD RUSSI ENTWICKLER VON SKIPISTEN ILLUSTRATIONEN: MATHIS REKOWSKI Ein Abfahrtsskiläufer von Weltrang kann eine Geschwindigkeit von über 150 km/h erreichen – schneller als das Tempolimit in den allermeisten Ländern. „Aber Schnelligkeit ist nicht alles“, sagt Bernhard Russi. „Eine gute Strecke führt nicht einfach nur geradewegs nach unten. Sie braucht weite Kurven, 50-Meter- Sprünge. Ich will, dass der beste Fahrer gewinnt, aber ich will auch, dass die Zuschauer ihren Spaß haben.“ In den 1970er Jahren war Russi Olympiasieger und Abfahrtsweltmeister, heute ist er ein vielgefragter Entwickler von Ski pisten. Seit 1988 verantwortet der Schweizer mit einer einzigen Ausnahme alle olympischen Abfahrtspisten. Seine Face de Bellevarde in Val d’Isère wird von vielen Experten als Wendepunkt im Abfahrtslauf angesehen, da sich der Sport hier von einem geradlinigen Geschwindigkeitsrausch in ein technisch anspruchsvolles und zuschauerfreundliches Ereignis verwandelte. Jean-Claude Killy, ehemaliger Olympiasieger und Mitglied im Internationalen Olympischen Komitee, nannte ihn einmal den „Picasso des Skisports“. Russi selbst sagt, das Entwerfen von Skipisten habe ihn als Beruf eigentlich nie gereizt, aber als Skifahrer war er bekannt für seine Kritik an Pisten, die ihm nicht genügend Herausforderungen boten. Anfang der 1980er Jahre, kurz nachdem er sich aus dem Sport zurückgezogen hatte, wurde Russi vom internationalen Skiverband gebeten, nach Calgary zu fahren und sich den Standort für die Olympischen Spiele 1988 anzusehen. „Als ich mit meinem Bericht zurückkam, sagte ich: ‚Der Berg ist okay, aber …‘ Dieses ‚aber‘ hat mir dann meinen neuen Beruf eingebracht“, sagt er. Das Skifahren liegt Russi im Blut. Der Sohn eines Skifahrers wuchs in Andermatt auf, einer Stadt in den Schweizer Bergen, „wo jeder Ski fuhr, sobald er laufen konnte“. Obwohl er schon als Jugendlicher sehr erfolgreich war, absolvierte er auf Drängen seines Vaters zunächst eine Lehre als Hochbauzeichner, bevor er sich ganz auf den Sport konzentrierte. Doch seine noch junge Karriere bekam früh einen schlimmen Dämpfer. Als sich Russi als junger Profi etwas Geld dazuverdienen wollte und sich als Stuntman für den James Bond-Film Im Geheimdienst Ihrer Majestät verdingte, verunglückte er und brach sich einen Wirbel. Er musste sechs Monate pausieren, wonach er aber sensationellerweise bei seinem Comeback 1970 die Welt meisterschaft gewann, im Alter von nur 22 Jahren. 1972 errang er bei Olympia und Weltmeisterschaft Gold, 1976 Silber, ehe er mit 30 Jahren seine Karriere beendete. Er arbeitete zunächst im Bereich Medien, ehe er seine Nische fand und Skipisten entwickelte. Wenn er gebeten wird, eine Strecke zu entwerfen, sieht er sich zunächst Karten des Gebietes an, um einen möglichen Standort auszusuchen, den er sich dann genauer anschaut. „Ich laufe einfach herum und markiere mit verschiedenfarbigem Band Linien, die den Berg hinabführen. Oft braucht es mehrere Besichtigungen, aber irgendwann habe ich dann die eine perfekte Linie gefunden, die sich meist aus mehreren abgegangenen Linien zusammensetzt. Dann beginnen wir die Piste zu bauen. Ich lerne die Berge immer besser kennen. Je mehr ich über sie weiß, umso besser weiß ich, was ich nicht tun darf. Es ist die Natur, und ich baue keine Autobahnen. Mein Ziel ist es, so wenig wie möglich zu verändern.“ Hat Russi seinen Entwurf auf Papier und am Bildschirm fertiggestellt, kann der Bau beginnen, was mehrere Jahre in Anspruch nimmt. Er besucht den Standort zehn bis zwanzig Mal, um die Fortschritte zu überprüfen und gegebenenfalls noch Anpassungen vorzunehmen. „Am Ende probiere ich die Piste dann selbst aus. Aber ich fahre kein Rennen mehr“, sagt er. „Die Zeiten sind vorbei!“ Das überlässt er lieber seinem Assistenten Didier Défago, einem ehemaligen Olympiasieger, der 2015 seine Karriere beendet hat. Lust auf Nervenkitzel hat Russi aber immer noch. Selbst mit 70 Jahren zieht es ihn immer noch regelmäßig als Freikletterer in die Berge rund um Andermatt. „Beim Klettern hat man weniger diese kurzen, intensiven Adrenalinschübe, aber es ist trotzdem auch ein Nervenkitzel. Manchmal muss man an seine Grenzen gehen, genau wie beim Skifahren. Das treibt mich an.“ THE JAGUAR 63
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