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sortimenterbrief Juni 2019

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Juni 2019

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uchrezension<br />

www.mottingers-meinung.at<br />

Mottingers Meinung<br />

Die letzten Gedichte der großen Menschenkennerin<br />

„I frog mi imma: Wos is schlimma? Bes<br />

oda bled?“, lautet eine Gedichtzeile von<br />

Christine Nöstlinger. Dies nur eine der<br />

Erkundungen, die die Menschenkennerin<br />

und Alltagsbeobachterin im nun im<br />

Residenz Verlag erschienenen Lyrikband<br />

Ned, dasi ned gean do warat unternimmt.<br />

„Dass sie tatsächlich in ihrer letzten<br />

Schaffensphase nach mehr als 30 Jahren<br />

wieder zur Dialektdichtung zurückkehrte,<br />

war eine Überraschung und zunächst<br />

auch ihre Privatangelegenheit; sie hat es<br />

nämlich in den zahlreichen Gesprächen<br />

und Interviews kaum oder nie erwähnt<br />

und auch keine Anstrengungen unternommen,<br />

diese Werke zu veröffentlichen“,<br />

weiß Gerald Votava.<br />

Der ein fabelhaftes Nachwort zu den 22<br />

Poemen verfasste, die die Nöstlinger in<br />

ihrem letzten Lebensjahr geschrieben<br />

und als ihre finale literarische Arbeit<br />

hinterlassen hat. Man kannte einander.<br />

Votava spielte in der Leinwandadaption<br />

von Nöstlingers autobiografischem<br />

Roman „Maikäfer flieg“ und im Rabenhof<br />

in einer Theaterfassung von „Iba de gaunz<br />

oamen Leit“.<br />

Tiefsinnig, rabenschwarz und voll<br />

lakonisch-heiterer Zwischentöne, so<br />

lesen sich diese neuen Dialektgedichte.<br />

Sie erzählen von Sorgen und Hoffnungen,<br />

von Bösartigkeiten und von dem Umgang<br />

mit dem Alter. Ob Beziehungskrisen,<br />

Scheidungskriege und darob Messerstechermorde,<br />

Sich-schiach-Finden oder<br />

Anders-Sein und noch tausend Ängste<br />

und Heimlichkeiten, die einem das Leben<br />

versauen, das Miliö, das Vabrecha mocht,<br />

oder der alltägliche Auslenda-Hoss, Nazis<br />

und Konsorten, die die Mitmenschlichkeit<br />

gefährden, Nöstlinger will und kann über<br />

all das reimen. „Der Rechtsextremismus<br />

in seiner gegenwärtigen Entwicklung“, so<br />

Votava, „war in Gesprächen mit Christine<br />

Nöstlinger ein immer wiederkehrendes<br />

Thema.“ Es waren wohl ihr Aufwachsen<br />

zu Zeiten des Nationalsozialismus, das<br />

Nöstlinger zu jener unbestechlichen<br />

politischen Klarheit brachte, die sie wieder<br />

salonfähig gemachte Politkonzepte und<br />

deren Propaganda-Techniken sowie die<br />

80<br />

aktuellen sozialen Ungerechtigkeiten<br />

durchschauen ließ.<br />

Dass sie zuletzt verstärkt zum Zeit-<br />

Ungeist befragt wurde, sagt viel über<br />

die heutige Gesellschaft aus. „Gelebt<br />

hab‘ ich während der Nazi-Zeit. Ich<br />

weiß also, wie leicht die Leute böse und<br />

unmenschlich werden können. Das geht<br />

über Nacht, bitte. Diese ,Tuchent der<br />

Zivilisation‘ scheint mir sehr löchrig und<br />

leicht wegzuziehen zu sein“, formulierte<br />

Nöstlinger in einem Gespräch mit der<br />

Kontrast Redaktion im Juli 2018. „Wenn<br />

ich 40 wäre, würde ich sagen: ,Okay, die<br />

Vernunft muss überwintern und kommt<br />

wieder.‘ Aber so lange ich lebe, wird sie<br />

nicht wiederkommen. Und damit habe<br />

ich nicht gerechnet“, zitiert Votava sie<br />

aus einem Deutschlandfunk-Interview<br />

mit Ute Wegmann aus dem selben Jahr.<br />

Mag sein, dass diese Erkenntnisse die<br />

Mauna und Fraun, selbst die Kinda,<br />

in ihrer Lyrik brutaler, grässlicher,<br />

brachialer werden ließen als in ihren<br />

Kinder- und Jugendbüchern. Das Gedicht<br />

als Dampfventil für die Dichterin ist ein<br />

Gedanke, der betroffen macht.<br />

Nöstlinger hegt Sympathien für die<br />

Spinner und Außenseiter. Ihre neuen<br />

Charaktere erinnern natürlich an die<br />

oamen Leit und sind doch Figuren des<br />

Jetzt. Nicht nur da Meia und seine allein<br />

mit dem Goldfisch geteilten geheimen<br />

Gewaltfantasien, auch die arbeitsscheue<br />

Jasmin vun da Vira-Schdiagn oder der<br />

Westbaunhof-Rudl, der sich jeden Tag die<br />

kleinen und großen Dramen entlang des<br />

Bahnsteigs anschaut, und das sein Leben<br />

nennt. Oder da berümte Mola, der, zum<br />

Erstaunen der anderen Beisl-Besucher,<br />

wira Sandla daheakummt. Das Herz<br />

schnüren einem Verse ab, über Kinder,<br />

die aus Fenstern fallen.<br />

Typisch Nöstlingers verquerer Humor,<br />

möchte man da sagen, dies Wechselspiel<br />

von Poesie und Sarkasmus, die hohe<br />

Kunst, ihren Leserinnen und Lesern beim<br />

Lachen ebendieses im Halse stecken zu<br />

lassen. Dass man mit ihr hat „wundervoll<br />

depperte Witze machen können oder sich<br />

gemeinsam an der Genialität und Magie<br />

von Leonard-Cohen-Songs erfreuen, über<br />

das Fernsehprogramm lachen oder sich<br />

über sexuelle Phänomene der Gegenwart<br />

austauschen“, bestätigt Gerald Votava.<br />

Christine Nöstlingers unnachgiebiges<br />

Auftreten gegen Rassismus, Sexismus,<br />

Diskriminierungen jeder Art, war in<br />

ihren späten Jahren stets Gegenstand<br />

ihrer Betrachtungen. Ihr Feminismus war<br />

prinzipiell ein konstruktiver, einer, der<br />

nicht den Machtkampf von Mann gegen<br />

Frau suchte, sondern ausgleichende<br />

Gerechtigkeit, die Möglichkeit für<br />

beide Geschlechter, aus absurden<br />

Rollenverhältnissen auszusteigen und<br />

das Gemeinsame weiterzuentwickeln.<br />

Dass ihr der emanzipatorische Kragen<br />

dennoch platzten konnte, zeigen ihre<br />

Zeilen über eine geprügelte Frau.<br />

Für die wesentlichste frauenrechtlerische<br />

Forderung an die Sprache hatte die<br />

Sprachkünstlerin übrigens eine patente<br />

Lösung parat. Aus dem Falter, 2018:<br />

„Ich bin allerdings ein Hasser des<br />

Binnen-I. Ich halt’s einfach nicht aus, was<br />

hinzuzuschreiben, was ich nicht reden<br />

kann. Und dann die Weiterungen mit der,<br />

die, das, ich kenn mich ja schon gar nicht<br />

mehr aus, einen schrägen Strich oben,<br />

einen unten. Aber von mir aus soll man<br />

doch ÄrztInnen mit kleinem i schreiben.<br />

So viele Jahrhunderte gibt es Ärzte, dann<br />

gibt es ab jetzt halt nur noch Ärztinnen.“<br />

Auszug aus der Rezension, die Sie<br />

vollständig unter www.mottingersmeinung.at/?cat=2<br />

nachlesen können.<br />

80 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag<br />

ISBN 978-3-7017-1715-6<br />

€ 18,– | Residenz<br />

<strong>sortimenterbrief</strong> 6/19

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