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Ich dachte, ich würde<br />
in j edem Lebewesen<br />
eine potenzielle wandelnde<br />
Mahlzeit sehen.<br />
das eigene Wort nicht versteht. Dahinter beginnt die<br />
Dschungel-Version von „Blair Witch Project“: Spinnweben,<br />
Palmen, Agaven, leere Kokosnussschalen, die<br />
Unterschlupf für Tausendfüßer, Zikaden, Schlangen<br />
und Echsen bieten. Solange man Kokosnüsse hat,<br />
stirbt man nicht, heißt es. Grüne, unreife Nüsse<br />
enthalten bis zu 500 Milliliter Wasser mit wichtigen<br />
Elektrolyten. Ob man aber auch immer die Kraft findet,<br />
die Dinger mit einem Bambusrohr von der Palme<br />
zu schlagen, ist eine andere Frage. In einen Baumstamm<br />
ist „Mikelo“ eingeritzt. So heißt ein ehemaliger<br />
Survival-Kandidat, der hier die Asche seiner toten<br />
Mutter verstreut haben soll. Wir sind also nicht allein,<br />
auch wenn es die Indonesier beim Gedanken daran<br />
schaudern würde. In dem Inselstaat glaubt man an<br />
Geister. Dass man sich freiwillig auf einem ein samen<br />
Eiland verschanzt, ist für viele unheimlich.<br />
„Bist du okay?“ Philipp, der Fotograf, hat ein paar<br />
Meter weiter dem nächtlichen Sturm getrotzt. Durchweicht<br />
und erschöpft lässt er sich neben mich in<br />
den Sand fallen. Wir haben seit zwei Tagen kaum<br />
gegessen, abends ein paar Löffel Reis, zum Frühstück<br />
eine Kokosnuss, mehr gibt es nicht. Bei tropischen<br />
35 Grad kein Problem, da brauchst du wenig Energie.<br />
Doch nach dem Taifun fehlt uns für so ziemlich alles<br />
die Kraft. Fischen ist wegen des hohen Wellengangs<br />
in unserer Bucht und dank der Talentfreiheit meinerseits<br />
sinnlos. Die Köder – Algen oder Krebse – rutschen<br />
sofort vom Haken, die Schnur verfängt sich in versteinerten<br />
Korallen und reißt. Und Einsiedlerkrebse<br />
über dem Feuer zu rösten, dazu konnten wir uns bis<br />
dato nicht durchringen. Die spinnenartigen Beine<br />
sind haarig, die Körper unter den Schneckenhäusern<br />
mager. „Denkst du, das war’s? Oder geht das jetzt die<br />
rest lichen Tage so weiter?“, frage ich Philipp leise.<br />
„Ich weiß es nicht.“ – „Noch so eine Horrornacht<br />
überstehe ich nicht.“ – „Wir müssen positiv denken.<br />
Die Anreise war zu lang, um aufzugeben.“<br />
Als zu Mittag die Sonne durch die Wolken blinzelt,<br />
lebt auch mein Kampfgeist wieder auf. Wir spannen<br />
eine Schnur, um unsere Hängematten zu trocknen,<br />
und planen eine – zumindest in der <strong>The</strong>orie – sturmfeste<br />
Behausung aus Plastikplanen, Seilen und Steinen.<br />
Der Wind hat sich gelegt, der Himmel wird mit<br />
jeder Minute blauer. Das, was vor ein paar Stunden<br />
noch Apokalypse war, mutiert jetzt zu einem kitschigen<br />
Werbetraum. Plopp. Eine Kokosnuss fällt zu<br />
Boden. Schwindelig von der Unterzuckerung trabe<br />
ich los, um sie aufzulesen, und säble dann durch die<br />
Fasern der Frucht. Meine Armmuskulatur brennt,<br />
ich bin am Ende. Die hohe Luftfeuchtigkeit und das<br />
Salzwasser haben die Klingen der Macheten rostig<br />
werden lassen, meine Handflächen entwickeln braunrote<br />
Schwielen. „Mit dem Sturm hat dieses Abenteuer<br />
erst begonnen“, sinniert Philipp. Ich weiß, er hat<br />
recht. Aber mir ist nicht nach <strong>Red</strong>en zumute. In meinem<br />
Kopf ist es zu laut. Ich dachte, dieses Survival-<br />
Abenteuer würde meine Urinstinkte wecken, jedes<br />
Lebewesen zu einer potenziellen wandelnden Mahlzeit<br />
machen. Mein Vater ist von Beruf Metzger, die<br />
Sache wäre also gar nicht mal so abwegig. Doch das<br />
Gegenteil ist der Fall. Ich will nichts töten. Ich will<br />
verstehen und fühle mich plötzlich seltsam mit der<br />
Erde verbunden. Stundenlang studiere ich das Chaos<br />
des Dschungels. Die schiefen Stämme, die vorbei an<br />
den gerade gewachsenen zum Licht drängen. Ein<br />
braun-grünes Durcheinander, das keiner menschlichen<br />
Ordnung folgt und genau deshalb so wunderschön<br />
ist. Ich atme die feucht-sandig-moosige Luft<br />
ein. Gleich hinter mir verrotten entwurzelte Bäume<br />
und, ich wette, auch tote Echsen, Vögel und Krabben.<br />
Trotzdem: Die Natur riecht taufrisch, während ich<br />
das von mir nicht mehr behaupten kann.<br />
Der Sturm war hart, aber mir dämmert, er war keine<br />
Kampfansage der Welt an mich. Meine Wenigkeit ist<br />
der Natur vollkommen egal. Sie ist größer als ich,<br />
immerhin wird sie noch existieren, wenn ich längst<br />
nicht mehr bin. Dennoch stellt sie großzügig alles<br />
zur Verfügung, was ich zum Leben brauche. Ich muss<br />
nur lernen, die Geschenke erkennen. Da wäre zum<br />
Beispiel das Meer. Ein Schuss Ozean im Kochwasser<br />
würzt unseren Reis. Zum Reinigen des Topfs ist Sand<br />
das beste Scheuermittel. Überdies spült das Meer<br />
täglich Treibholz an, von der Sonne getrocknet,<br />
Die Natur stellt grosszügig<br />
alles zur verf ügung,<br />
was ich zum überleben brauche.<br />
ich muss nur lernen, ihre<br />
geschenke zu erkennen.<br />
brennt es wie Zunder. Oder die Palmen, diese<br />
Universal genies! Sie sind Kokosnuss- und Schattenspender,<br />
Hängematten-Stützen, ihre Wedel dienen<br />
als Baumaterial, und in leeren Kokosschalen kann<br />
man Regenwasser auffangen. Ein abgeschnittenes<br />
Agavenblatt wiederum lässt sich als Trichter missbrauchen.<br />
Hält man es im richtigen Winkel, geht<br />
beim Umfüllen vom Wasserkanister in unsere Trinkflaschen<br />
kein Tropfen verloren. Dass der dauer-<br />
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