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The Red Bulletin August 2019

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Ich dachte, ich würde<br />

in j edem Lebewesen<br />

eine potenzielle wandelnde<br />

Mahlzeit sehen.<br />

das eigene Wort nicht versteht. Dahinter beginnt die<br />

Dschungel-Version von „Blair Witch Project“: Spinnweben,<br />

Palmen, Agaven, leere Kokosnussschalen, die<br />

Unterschlupf für Tausendfüßer, Zikaden, Schlangen<br />

und Echsen bieten. Solange man Kokosnüsse hat,<br />

stirbt man nicht, heißt es. Grüne, unreife Nüsse<br />

enthalten bis zu 500 Milliliter Wasser mit wichtigen<br />

Elektrolyten. Ob man aber auch immer die Kraft findet,<br />

die Dinger mit einem Bambusrohr von der Palme<br />

zu schlagen, ist eine andere Frage. In einen Baumstamm<br />

ist „Mikelo“ eingeritzt. So heißt ein ehemaliger<br />

Survival-Kandidat, der hier die Asche seiner toten<br />

Mutter verstreut haben soll. Wir sind also nicht allein,<br />

auch wenn es die Indonesier beim Gedanken daran<br />

schaudern würde. In dem Inselstaat glaubt man an<br />

Geister. Dass man sich freiwillig auf einem ein samen<br />

Eiland verschanzt, ist für viele unheimlich.<br />

„Bist du okay?“ Philipp, der Fotograf, hat ein paar<br />

Meter weiter dem nächtlichen Sturm getrotzt. Durchweicht<br />

und erschöpft lässt er sich neben mich in<br />

den Sand fallen. Wir haben seit zwei Tagen kaum<br />

gegessen, abends ein paar Löffel Reis, zum Frühstück<br />

eine Kokosnuss, mehr gibt es nicht. Bei tropischen<br />

35 Grad kein Problem, da brauchst du wenig Energie.<br />

Doch nach dem Taifun fehlt uns für so ziemlich alles<br />

die Kraft. Fischen ist wegen des hohen Wellengangs<br />

in unserer Bucht und dank der Talentfreiheit meinerseits<br />

sinnlos. Die Köder – Algen oder Krebse – rutschen<br />

sofort vom Haken, die Schnur verfängt sich in versteinerten<br />

Korallen und reißt. Und Einsiedlerkrebse<br />

über dem Feuer zu rösten, dazu konnten wir uns bis<br />

dato nicht durchringen. Die spinnenartigen Beine<br />

sind haarig, die Körper unter den Schneckenhäusern<br />

mager. „Denkst du, das war’s? Oder geht das jetzt die<br />

rest lichen Tage so weiter?“, frage ich Philipp leise.<br />

„Ich weiß es nicht.“ – „Noch so eine Horrornacht<br />

überstehe ich nicht.“ – „Wir müssen positiv denken.<br />

Die Anreise war zu lang, um aufzugeben.“<br />

Als zu Mittag die Sonne durch die Wolken blinzelt,<br />

lebt auch mein Kampfgeist wieder auf. Wir spannen<br />

eine Schnur, um unsere Hängematten zu trocknen,<br />

und planen eine – zumindest in der <strong>The</strong>orie – sturmfeste<br />

Behausung aus Plastikplanen, Seilen und Steinen.<br />

Der Wind hat sich gelegt, der Himmel wird mit<br />

jeder Minute blauer. Das, was vor ein paar Stunden<br />

noch Apokalypse war, mutiert jetzt zu einem kitschigen<br />

Werbetraum. Plopp. Eine Kokosnuss fällt zu<br />

Boden. Schwindelig von der Unterzuckerung trabe<br />

ich los, um sie aufzulesen, und säble dann durch die<br />

Fasern der Frucht. Meine Armmuskulatur brennt,<br />

ich bin am Ende. Die hohe Luftfeuchtigkeit und das<br />

Salzwasser haben die Klingen der Macheten rostig<br />

werden lassen, meine Handflächen entwickeln braunrote<br />

Schwielen. „Mit dem Sturm hat dieses Abenteuer<br />

erst begonnen“, sinniert Philipp. Ich weiß, er hat<br />

recht. Aber mir ist nicht nach <strong>Red</strong>en zumute. In meinem<br />

Kopf ist es zu laut. Ich dachte, dieses Survival-<br />

Abenteuer würde meine Urinstinkte wecken, jedes<br />

Lebewesen zu einer potenziellen wandelnden Mahlzeit<br />

machen. Mein Vater ist von Beruf Metzger, die<br />

Sache wäre also gar nicht mal so abwegig. Doch das<br />

Gegenteil ist der Fall. Ich will nichts töten. Ich will<br />

verstehen und fühle mich plötzlich seltsam mit der<br />

Erde verbunden. Stundenlang studiere ich das Chaos<br />

des Dschungels. Die schiefen Stämme, die vorbei an<br />

den gerade gewachsenen zum Licht drängen. Ein<br />

braun-grünes Durcheinander, das keiner menschlichen<br />

Ordnung folgt und genau deshalb so wunderschön<br />

ist. Ich atme die feucht-sandig-moosige Luft<br />

ein. Gleich hinter mir verrotten entwurzelte Bäume<br />

und, ich wette, auch tote Echsen, Vögel und Krabben.<br />

Trotzdem: Die Natur riecht taufrisch, während ich<br />

das von mir nicht mehr behaupten kann.<br />

Der Sturm war hart, aber mir dämmert, er war keine<br />

Kampfansage der Welt an mich. Meine Wenigkeit ist<br />

der Natur vollkommen egal. Sie ist größer als ich,<br />

immerhin wird sie noch existieren, wenn ich längst<br />

nicht mehr bin. Dennoch stellt sie großzügig alles<br />

zur Verfügung, was ich zum Leben brauche. Ich muss<br />

nur lernen, die Geschenke erkennen. Da wäre zum<br />

Beispiel das Meer. Ein Schuss Ozean im Kochwasser<br />

würzt unseren Reis. Zum Reinigen des Topfs ist Sand<br />

das beste Scheuermittel. Überdies spült das Meer<br />

täglich Treibholz an, von der Sonne getrocknet,<br />

Die Natur stellt grosszügig<br />

alles zur verf ügung,<br />

was ich zum überleben brauche.<br />

ich muss nur lernen, ihre<br />

geschenke zu erkennen.<br />

brennt es wie Zunder. Oder die Palmen, diese<br />

Universal genies! Sie sind Kokosnuss- und Schattenspender,<br />

Hängematten-Stützen, ihre Wedel dienen<br />

als Baumaterial, und in leeren Kokosschalen kann<br />

man Regenwasser auffangen. Ein abgeschnittenes<br />

Agavenblatt wiederum lässt sich als Trichter missbrauchen.<br />

Hält man es im richtigen Winkel, geht<br />

beim Umfüllen vom Wasserkanister in unsere Trinkflaschen<br />

kein Tropfen verloren. Dass der dauer-<br />

74 THE RED BULLETIN

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