interview Nicht so festgefahren Anna Maria Michel: „Im Moment sind die Fridays for Future das beste Beispiel für gelungene Partizipation, denn sie sind selbstorganisiert.“ <strong>10</strong> <strong>STADTBLATT</strong> <strong>10</strong>.<strong>2019</strong>
Anna Maria Michel, 36, ist Kulturmanagerin für kulturpädagogische Projekte Pund arbeitet seit neun Jahren beim Osnabrücker FOKUS e.V., der kommunale Jugend- und Kulturarbeit begleitet. Ihre Masterarbeit, mit der sie 2017 in „Management von Kultur- und Non-Profit-Organisationen“ abschloss, erscheint nun unter dem Titel „Nichts als Freiraum“ als Buch. Darin analysiert sie, wie Jugendlichen durch städtebauliche und gesellschaftliche Hürden der Raum zur Teilhabe genommen wird. Und sie formuliert Forderungen an die Gesellschaft, um die Partizipation junger Menschen zu stärken. INTERVIEW JULIAN KHODADADEGAN | FOTO REBECCA BRASSE <strong>STADTBLATT</strong>: Wir treffen uns hier an einem Skatepark, warum haben Sie diesen Ort für das Interview gewählt? ANNA MARIA MICHEL: Einerseits wurde der Skatepark, in dem wir gerade sind, soweit ich weiß, in den 90ern von Jugendlichen initiiert, weil sie den Wunsch geäußert haben, einen Platz für sich zu haben. Aber vor allem, weil hier an der Schlachthofstraße eine riesige, leerstehende Halle ist, die 3800 qm Platz hat. Und in dieser Halle haben wir 2015 und 2016 einen Longboardcontest für Jugendliche veranstaltet. <strong>STADTBLATT</strong>: Welches Ziel oder welche Idee hatte der Contest? ANNA MARIA MICHEL: Junge Leute sind an mich und meine Kollegin herangetreten, um einen Long - boardcontest zu veranstalten. Im Gegensatz zum Skateboardfahren braucht man dafür eine trockene, flache Ebene ohne Hindernisse. Und das bietet eine Halle mit Dach. Ich habe zu ihnen gesagt: „Hier ist die Halle. Wir kümmern uns um das ganze Rechtliche, und ihr füllt diese leere Halle mit Inhalten und Leben.” <strong>STADTBLATT</strong>: Wie sind Sie zur Arbeit mit Jugend - lichen gekommen? ANNA MARIA MICHEL: Ich habe Kunstpädagogik vor allem aus Interesse an Kunst studiert, weil es in Osnabrück nicht anders ging. Und bin nach dem Studium in den Job reingerutscht. Ich mag junge Menschen, aber ich möchte nicht die Lehrerrolle einnehmen, sondern auf gleicher Ebene mit Jugendlichen arbeiten. <strong>STADTBLATT</strong>: Wie kamen Sie zu dem Thema Ihres Buches? ANNA MARIA MICHEL: Ich habe berufsbegleitend studiert, als ich schon bei Fokus gearbeitet habe. Ich wollte über etwas schreiben, das mich auch interessiert. Und durch meine Arbeit habe ich immer mehr gemerkt, wie wichtig mir dieses Thema ist: Freiräume nutzen zu können, damit junge Menschen dazu mehr Möglichkeiten und Anerkennung bekommen. Deshalb geht es in diesem Buch darum, dass es sich lohnt, sich dafür einzusetzen, dass junge Menschen ihre Ideen umsetzen können und nicht einfach in den von Erwachsenen vorgefertigten Strukturen mitmachen. Darum habe ich viel Recherche betrieben und zum Großteil eigene Erfahrungen eingebracht, bei denen ich gegen Mauern gerannt bin, weil bürokratische Abläufe so komplex sind, dass selbst ich sie nicht verstanden habe. Also habe ich mich gefragt: Was würde ich mir wünschen, damit es einfacher wird? <strong>STADTBLATT</strong>: Nennen Sie uns ein Beispiel? ANNA MARIA MICHEL: Um diese Halle nebenan für den Contest zwei Tage nutzen zu dürfen, mussten wir einen Bauantrag stellen, der so umfangreich ist, als würde man ein neues Haus bauen. Zum Glück haben wir eine Architektin gefunden, die uns dabei berät. So konnten wir als Erwachsene unser Fachwissen zur Verfügung stellen, damit die jungen Menschen ihre Ideen umsetzen. <strong>STADTBLATT</strong>: Gibt es eine bestimmte Zielgruppe, die Sie mit Ihrem Buch erreichen wollen? ANNA MARIA MICHEL: Ich würde mich freuen, wenn das Buch von jungen Erwachsenen, Menschen in der Jugendarbeit, Politikern und Veraltungsbeamten gelesen würde, um ihnen die Angst zu nehmen, solche Projekte zu realisieren. <strong>STADTBLATT</strong>: Jeder ältere Mensch war einmal jung. Woher kommmt das Unverständnis für die Rechte und Bedürfnisse Jüngerer? „Es geht darum, Macht abzugeben und nicht mehr alles kontrollieren zu wollen, sondern anderen zu vertrauen.“ ANNA MARIA MICHEL: Das frage ich mich auch manchmal, besonders während meiner Arbeit. Man muss seine Erfahrungen erst machen dürfen. Ich bin selber erst vor kurzem Mutter geworden. Kontrolle und Macht sind in der deutschen Gesellschaft sehr verwurzelt. Außerdem kollidieren die Generationen immer. Jetzt gehen junge Menschen auf die Straße, und die Erwachsenen haben Angst. <strong>STADTBLATT</strong>: Aus Sorge um deren Schulnoten? Oder aus Angst vor dem eigenen Machtverlust? ANNA MARIA MICHEL: Das ist eben das Wichtigste bei Partizipation: Es geht darum, Macht abzugeben und nicht mehr alles kontrollieren zu wollen, sondern anderen zu vertrauen. <strong>STADTBLATT</strong>: Ein Kapitel in Ihrem Buch trägt den Titel „Alibi-Partizipation”. Was genau ist das? ANNA MARIA MICHEL: Wenn Bürger augenscheinlich einbezogen werden, aber im Endeffekt keinen Einfluss auf die endgültige Entscheidung haben, diese also eigentlich schon feststeht. Und das nur, damit man sagen kann: „Wir haben <strong>10</strong>0 Leute befragt.” Partizipation bedeutet, dass Menschen sich selbst organisieren und merken: Mein Handeln, mein Tun, meine Ideen haben wirklich einen Effekt. Im Moment sind die Fridays for Future das beste Beispiel für gelungene Partizipation, denn sie sind selbstorganisiert. <strong>STADTBLATT</strong>: Sie formulieren in Ihrem Buch konkrete Forderungen wie die Verhinderung von Leerstand und ein allgemeines Wahlrecht ab 16. Welches Feedback kommt aus Politik und Verwaltung? ANNA MARIA MICHEL: Ich habe mir gar nicht so viel Feedback eingeholt. Das Wahlrechtsalter abzusenken, finde ich allerdings sehr wichtig, weil Jüngere auch etwas zu sagen haben. So wie jeder Erwachsene entscheiden kann: „Bin ich politisch? Bin ich’s nicht?”, sollten auch Heranwachsende diese Entscheidung selbst treffen. Bis vor zwei Jahren habe ich mir darum auch keine Gedanken gemacht, weil ich so aufgewachsen bin – man wählt das, was die Eltern wählen oder was der Nachbar wählt. <strong>STADTBLATT</strong>: Wie wirkt sich früh gelebte Teilhabe auf den Lebensweg und Entscheidungen aus? ANNA MARIA MICHEL: Man ist nicht so festgefahren, ist diverser unterwegs und traut sich mehr, in Themen einzutauchen. Außerdem ist man mutiger und steht für seine Ideen, Vorstellungen und Wünsche ein. Und das macht einen wiederum sicherer in der eigenen Identität. <strong>STADTBLATT</strong>: Einige sagen, zu viel Partizipation habe Nachteile, weil Jüngeren mangels Lebenserfahrung der Weitblick fehle. Was entgegnen Sie ihnen? ANNA MARIA MICHEL: Dass die keine Ahnung haben. Man kann nicht pauschal sagen, ein 16-Jähriger habe weniger Lebenserfahrung. Jugendliche mit Migrationshintergrund haben weitaus mehr Erfahrungen gemacht, als so mancher 50-jährige Deutsche, der sein Leben lang den gleichen Job macht. Darüber hinaus geht es nicht nur um Erfahrung, sondern darum, wie viel Engagement ein Mensch einbringen möchte. Wenn er sich für Umweltschutz stark macht, was ja aktuell ein Thema ist, wird er belächelt. Erst sagt man, die jungen Leute interessieren sich nicht für Politik und hängen nur vor dem Computer – und jetzt werden sie politisch und dürfen es wieder nicht. <strong>STADTBLATT</strong>: Welche Freiräume gibt es noch in Osnabrück, und wo fehlen sie? ANNA MARIA MICHEL: Man darf Jugendkultur nicht auf den Skatepark beschränken. Skaten machen nicht alle, das ist marginal. Deshalb reicht es nicht, zu sagen: „Ihr habt doch ‘nen Skatepark.” Mir fallen die Themen Gaming und Fridays for Future ein. Das könnte die Stadt mehr unterstützen, denn es muss nicht immer ein öffentlicher Raum sein, sondern es geht um Freiräume generell. <strong>STADTBLATT</strong>: Wenn Sie für einen Tag Sozial- und Baudezernentin von Osnabrück wären, welche konkrete Maßnahme würden Sie sofort in Angriff nehmen? ANNA MARIA MICHEL: Wenn das in einem Tag machbar ist, ...(lacht) Leerstände dem Gemeinwohl zugänglich machen. Man kann Partizipation nicht vorschreiben, sondern muss Angebote schaffen. Wenn es gar nicht erst den Raum dafür gibt, sich zu entwickeln, dann ist die Hürde natürlich groß. <strong>STADTBLATT</strong> <strong>10</strong>.<strong>2019</strong> 11