STADTBLATT_2019_10
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media<br />
Buch des Monats<br />
Auf Erden<br />
sind wir kurz<br />
grandios<br />
Ocean Vuong<br />
PUDERZUCKER<br />
Ein Debüt, das zu Recht<br />
mit Vorschusslorbeeren bedacht wird.<br />
Vor allem, weil es ein Buch ist, das in<br />
einer eigenwilligen Sprache über Misshandlung,<br />
Verlust, Krieg, Tod, Trauer,<br />
Demütigung, Liebe, Coming out, Rassismus,<br />
Drogensucht und Entwurzelung<br />
erzählt. Der Sohn einer US-Vietnamesin<br />
hat einen Erzählstil gefunden,<br />
der die Gewalt mit so viel Puderzucker<br />
serviert, dass das Lesen eine wahre<br />
Wonne ist. Vuongs Roman geht in seiner<br />
Geschichte zurück nach Vietnam,<br />
in die Zeit des Krieges, erzählt aber<br />
auch von der Gegenwart und beschreibt<br />
u. a. die Folgen der Oxycodon-Epidemie<br />
in den USA, an der sein<br />
erster Liebhaber zugrunde geht. Andere<br />
Autoren würden aus diesen Themen<br />
wuchtige Dramen formen. Vuong<br />
verpackt sie in das glitzernde Bonbonpapier<br />
seiner Sprache, umwölkt sie mit<br />
poetisch-cooler Sexyness und taucht<br />
sie in einen Ozean voller Melancholie.<br />
Der 31-Jährige wird, wenn er so weiter<br />
schreibt, nicht nur für kurze Zeit auf Erden<br />
grandios sein. BOBBY FISCHER<br />
Hanser, 22 EUR<br />
Die Lebenshungrigen<br />
Roberto Saviano<br />
GELD IST ALLES Ohne<br />
etwas zu beschönigen,<br />
führt Saviano<br />
die Lebensgeschichten<br />
der inzwischen<br />
fast volljährigen Camorristi aus dem<br />
„Clan der Kinder“ weiter. Er widmet<br />
den Roman seiner „Heimat aus Mördern<br />
und Ermordeten“. Nackte Geldgier,<br />
Verrat, Morde, extrem brutale Foltermethoden<br />
– die detaillierte Schilderung<br />
zahlreicher Grausamkeiten<br />
verschlägt einem schon mal den<br />
Atem. Diese Geschichte über Jugendliche,<br />
die quasi nebenbei in die organisierte<br />
Kriminalität rutschen und den<br />
Drogenhandel in Neapel kontrollieren,<br />
ist kein Stoff für schwache Nerven. Die<br />
Tentakel des Kraken reichen bis in Politik,<br />
Verwaltung und Geldwirtschaft.<br />
Besiegelt werden die Bündnisse zwischen<br />
großen und kleinen Paten mit<br />
einem „Grausamen Kuss“, so der Originaltitel.<br />
Der von Annette Kopetzki<br />
stimmig übersetzte Roman verrät den<br />
großartigen Investigativjournalisten,<br />
der Saviano ursprünglich war, denn der<br />
Erzähler unterbricht die Innensicht der<br />
Figuren häufig durch erklärende Kommentare.<br />
Der Roman erlaubt einen<br />
Blick ins Innere der Camorra, eine erhellende<br />
Lektüre.<br />
ANJA MEHRMANN<br />
Hanser, 25 EUR<br />
Lass uns mit<br />
den Toten<br />
tanzen<br />
Pia Klemp<br />
REBELLIN Kapitänin<br />
Klemp ist eine beindruckende<br />
Frau. Für<br />
die Meeresschutzorganisation<br />
Sea Shepherd hat sie gearbeitet,<br />
die NGO-Rettungsschiffe Iuventa<br />
und Sea Watch 3 hat sie kommandiert,<br />
im Mittelmeer, über <strong>10</strong>00 Flüchtlinge<br />
verdanken ihr das Leben. Sie wäre<br />
gern wieder auf See. Aber der juristische<br />
Kampf, den ihr die rechtsgerichtete<br />
Inhumanität der italienischen Regierung<br />
aufzwingt, versagt es ihr. Um<br />
alldas zu erzählen, hat Klemp ein Buch<br />
geschrieben. Einen sehr autobiografischen<br />
Roman über das Rettungswerk<br />
ihrer Crew vor Libyen – sarkastisch<br />
nennt sie es „Nischenhelfen statt Weltneuordnung“.<br />
Wir halten mit ihr Wache<br />
auf der Brücke, durchleben mit ihr<br />
Wut, Erschöpfung, Glück und Trauer,<br />
sehen durch ihre Augen namenlose Tote<br />
und Helferhelden, ignorante Militärs<br />
(auch deutsche) und hinterhältige Polizei.<br />
Kraftvoll ist das, authentisch,<br />
schonungslos. Ein sehr politisches<br />
Buch, das uns alle beschämt in unserer<br />
behüteten Privilegiertheit. Was diese<br />
Frau gesehen hat, sollte niemand sehen<br />
müssen. Eines der stärksten Bücher<br />
des Jahres. HARFF-PETER SCHÖNHERR<br />
maro, 20 EUR<br />
Miami Punk<br />
Juan S. Guse<br />
DYSTOPIE Punk?<br />
Wenn schon ein musikalischer<br />
Vergleich,<br />
dann ist Juan<br />
S. Guses neuer Roman<br />
eher Prog-Rock<br />
als Punk. Multiperspektivisch und mit<br />
unterschiedlichen Textsorten erzählt<br />
Guse von den Bewohnern und Besuchern<br />
Miamis während einer Krise. Der<br />
Atlantik hat sich 500 Kilometer zurück<br />
gezogen, die Wirtschaft in der Stadt<br />
liegt fast am Boden. Dennoch hat sich<br />
ein E-Sport Team aus Deutschland in<br />
Miami eingefunden, um am vermeintlich<br />
letzten Counter Strike 1.6 Turnier<br />
teil zu nehmen. Eine der wichtigsten<br />
Erzählperspektiven des Buches vertritt<br />
Robin, eine freiberufliche Spiele-Programmiererin,<br />
deren Spiele sich gerne<br />
mit dem realen Leben vermischen und<br />
so eine befremdliche Synthese zwischen<br />
Real Life und Virtual Reality<br />
schaffen. Ähnlich zu Guses Erzählmodus,<br />
der ebenfalls gern die verschiedenen<br />
Realitätsebenen des Romans<br />
mit einander vermischt. Ein stringenter<br />
Plot ist eher nicht vorzufinden, es<br />
geht um Wirtschaft, Arbeit, Zusammenhalt<br />
und Macht. Das ist ausufernd<br />
und wagemutig erzählt. Mit einigen<br />
Längen und vielen überraschenden<br />
Momenten.<br />
RALF GOTTHARDT<br />
S.Fischer, 26 EUR<br />
Seitensprung<br />
REINHARD KAISER-<br />
MÜHLECKER „Enteignung“.<br />
Feiner Roman<br />
über einen politischen<br />
Journalisten, der zu einer<br />
absteigenden Provinzzeitung<br />
wechselt, dann als Tagelöhner<br />
in der ebenfalls zu Ende gehenden<br />
Landwirtschaft arbeitet und in Liebesgeschichten<br />
verwickelt ist, die das<br />
Genre sprengen. S. Fischer, 21 EUR<br />
VIOLAINE HUISMAN<br />
„Die Entflohene“. Das<br />
Leben einer manischdepressiven<br />
Mutter in<br />
zwei Fassungen, zunächst<br />
aus der Sicht der<br />
Töchter, dann mit den späteren Informationen<br />
angereichert, nicht unbedingt<br />
sympathischer. Mischung aus<br />
Annie Ernaux und Michel Houellebecq.<br />
S. Fischer, 22 EUR<br />
CHARLES BAUDELAIRE<br />
„Der Spleen von Paris“.<br />
„Träume enden mit einem<br />
gierigen Säugling,<br />
der an der Brust hängt“,<br />
würde Baudelaire dazu<br />
sagen. Tut immer<br />
wieder gut, den eleganten Zyniker<br />
zu lesen, hier in der funkelnden Übertragung<br />
von Simon Werle. Rowohlt,<br />
40 EUR GW<br />
Elena Ferrante<br />
– Meine geniale<br />
Autorin<br />
Nicola Bardola<br />
SUCHE OHNE FINDEN<br />
„Wer mich als Autorin<br />
kennen will, darf<br />
nicht den Rahmen<br />
meiner Texte verlassen. Er muss mich<br />
lesen. Ich bin meine Schrift“, so Elena<br />
Ferrante. Und wohl gerade deshalb,<br />
wird seit der ersten Buchveröffent -<br />
lichung in Italien gerätselt, und seit<br />
der neapolitanischen Tetralogie weltweit.<br />
Wer verbirgt sich hinter dem<br />
Pseudonym? Eine bekannte Schriftstellerin,<br />
die bei den Ferrante-Büchern<br />
doch die Anonymität wahrt? Eine<br />
Gruppe von Autoren oder gar unterschiedliche<br />
Verfasser je Buch? Der<br />
Literaturkritiker Bardola hat sich auf<br />
die Suche gemacht. Was geben die<br />
Bücher preis? Welche Motive tauchen<br />
immer wieder auf? Was kann man aus<br />
einzelnen Interviews, die sie doch gegeben<br />
hat, für Rückschlüsse ziehen?<br />
Und gibt es vielleicht doch eine Chance,<br />
dass Sie sich noch outen wird?<br />
Wirklich schlauer ist man am Ende<br />
nicht, und doch macht es Freude, Bardola<br />
auf seiner „Reise“ durch Ferrantes<br />
Bücher zu folgen, mitzurätseln<br />
und Romanfiguren und mancher Szene<br />
wieder zu begegnen.<br />
NANCY PLASSMANN<br />
Reclam, 24 EUR<br />
Unverschämtes<br />
Glück<br />
Jamel Brinkley<br />
BESTES DEBÜT „Das<br />
beste Debüt des Jahres“,<br />
steht als Zitat<br />
auf dem Cover dieses<br />
Erzählbands. Das Zitat<br />
aus der Literaturzeitschrift „Kirkus<br />
Review“ steht hier vor allem wegen<br />
der verkaufsfördernden Wirkung, aber<br />
er ist auch wahr – in Unkenntnis anderer<br />
Debüts. Brinkely erzählt scheinbar<br />
alltägliche Geschichten von jungen<br />
und alten Männern. Ihm gelingt<br />
das Kunststück, dass der Leser den<br />
Protagonisten (gerne) folgt, obwohl es<br />
durchweg gebrochene, gescheiterte<br />
und nicht gerade sympathische Figuren<br />
sind. Trotz seiner distanzierten Erzählperspektive<br />
zieht Brinkely in seine<br />
Geschichten hinein. Er berichtet dabei<br />
von einem älteren Mann, der heimlich<br />
junge Frauen mit seinem Handy fotografiert<br />
oder von einem Jungen, der auf<br />
Ferien bei einer reichen weißen Familie<br />
hofft, dann aber enttäuscht bei einer<br />
schwarzen Frau landet. Brinkleys<br />
Figuren sind durchweg schwarze Männer.<br />
Er verschafft seinen Lesern einen<br />
Einblick in die „black community“ in<br />
den USA. Brinkley ist ein toller Erzähler,<br />
ein wunderbarer Stilist, der das<br />
beste Debüt des Jahres geschrieben<br />
hat.<br />
BOBBY FISCHER<br />
Kein & Aber, 22 EUR<br />
Virginia<br />
Nell Zink<br />
DOPPELTE IDENTITÄT<br />
In Nell Zinks zweitem<br />
Roman, der in<br />
den USA bereits 2015<br />
erschienen ist und<br />
nun auch auf<br />
Deutsch vorliegt, geht es um Identität<br />
und ihre Dekonstruktion. Da ist die<br />
lesbische Studentin Peggy, die mit<br />
ihrem schwulen Lyrik-Dozenten zwei<br />
Kinder zeugt und eine Weile mit ihm<br />
zusammen lebt. Aus Angst, bei einer<br />
Scheidung die Kinder zu verlieren,<br />
taucht sie mit ihrer Tochter unter. Den<br />
Sohn muss sie leider beim Vater lassen.<br />
Sprachlich elegant und gut zu<br />
lesen, mutet der Anfang arg konstruiert<br />
an, und das Ende schrammt hart<br />
am Kitsch vorbei. Dass sich die weiße<br />
Peggy als Schwarze tarnen kann, um<br />
von ihrem Mann nicht gefunden werden<br />
zu können, ist zumindest aus<br />
europäischer Perspektive kaum nachzuvollziehen,<br />
wirkt unglaubwürdig.<br />
Der Mittelteil allerdings, in dem es um<br />
die beiden Kinder der schwul-lesbischen<br />
Beziehung geht, ist überzeugend<br />
geraten. Der Roman ist dort stark,<br />
wo es um die emotionalen Auswirkungen<br />
der Identitäten geht und schwächelt<br />
bei den verschiedenen Identitätskonstruktionen.<br />
RALF GOTTHARDT<br />
Rowohlt, 22 EUR<br />
40 <strong>STADTBLATT</strong> <strong>10</strong>.<strong>2019</strong>