27.05.2020 Aufrufe

Leseprobe: Qualle im Tierheim

Leseprobe zu Lena Raubaum: Qualle im Tierheim

Leseprobe zu Lena Raubaum: Qualle im Tierheim

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Lena Raubaum<br />

<strong>Qualle</strong> <strong>im</strong><br />

Tierhe<strong>im</strong>


Kapitel 1<br />

Angst hinter Gittern<br />

Ihr ganzer Körper zitterte. Ihre Augen starrten<br />

ängstlich in meine Richtung, ohne mich wirklich<br />

anzusehen. Sie fiepte, winselte und drückte sich<br />

wie ein großer, schokobrauner Fellhügel in die<br />

linke hintere Ecke ihres Zwingers.<br />

Es roch nach Unsicherheit, großer Unsicherheit.<br />

Ich näherte mich den Gitterstäben. Langsam.<br />

Vorsichtig.<br />

„Barka? Hey, Barka!“, flüsterte ich. „Ich bin’s.<br />

Der <strong>Qualle</strong>.“<br />

Keine Reaktion. Sie stellte nicht einmal ein Ohr<br />

auf.<br />

„Ich hab was für dich“, sagte ich und öffnete<br />

meinen Rucksack. Langsam. Vorsichtig.<br />

„Na, ich bin ja mal gespannt, ob das funktioniert“,<br />

hörte ich die Eva hinter mir.<br />

Ich wusste es selbst nicht.<br />

Aber ich wollte es versuchen.<br />

7


Kapitel 2<br />

Das bin ich (ganz kurz)<br />

Weißt du was? Mir ist gerade aufgefallen, dass<br />

ich einfach mit der Geschichte angefangen habe,<br />

ohne mich vorzustellen. Ich mach das jetzt noch.<br />

Immerhin kann es sein, dass wir einander hier<br />

zum ersten Mal begegnen.<br />

Also: ich bin der <strong>Qualle</strong>. Eigentlich heiße ich<br />

Max. Max Kallinger. Aber der Flocki (mein bester<br />

Freund damals <strong>im</strong> Kindergarten), der hat mich<br />

irgendwann „Kalli“, dann „Qualli“, dann „Qualliballi“<br />

und dann „<strong>Qualle</strong>“ genannt. Und „<strong>Qualle</strong>“<br />

hat mir gefallen. Der Name ist mir geblieben.<br />

Hier sind fünf Dinge, die ich mag:<br />

1. Hunde. Die liebe ich über alles.<br />

2. Jede Zahl mit hundert –<br />

weil <strong>im</strong> Wort „hundert“<br />

ist auch das Wort „Hund“<br />

versteckt.<br />

Ich bin neuneinhalb Jahre alt. Fast zehn. Meine<br />

Augen sind blau. Wer genau schaut, sieht darin<br />

winzige braune Punkte. Meine Haare sind blond,<br />

mittellang. Meine Ohren sind größer, als ich wollte.<br />

Aber der Papa sagt, dass ich wegen der großen<br />

Ohren besser höre als ein Luchs. Ich glaub ihm das.<br />

3. Meinen Roller. Er heißt<br />

„Motorrad“, damit er noch<br />

schneller fährt.<br />

4. Wenn mir jemand vorliest.<br />

5. Die Barka. Keine Sorge,<br />

die lernst du noch kennen.<br />

8 9


Hier sind fünf Dinge, die ich nicht so mag:<br />

1. Wenn ich höre, dassich für irgendetwas<br />

zu klein oder noch nicht alt genug bin.<br />

4. Wenn mich meine große Schwester Mia<br />

„Knirpsi“ nennt.<br />

5. Wenn ich Geduld haben muss, aber<br />

ungeduldig bin.<br />

2. Wenn jemand mein Motorrad „Roller“<br />

nennt.<br />

So, jetzt kennst du mich etwas besser. Dann<br />

fang ich jetzt mit der Geschichte an. Mit einer<br />

Geschichte, die es eigentlich nur deshalb gibt,<br />

weil ich nicht das bekommen habe, was ich<br />

wollte …<br />

3. Menschen, die herumbrüllen.<br />

10 11


Kapitel 3<br />

Bitten, betteln und bla, bla bla<br />

Die Mama hat geseufzt. Der Papa hat geseufzt.<br />

Und die Mia hat geseufzt. Sie wusste genau, dass<br />

das wieder ein längeres Gespräch werden würde.<br />

Ich wünsche mir einen Hund. Schon <strong>im</strong>mer<strong>im</strong>mer.<br />

Schon seit ich „Hund“ sagen kann. Aber<br />

schon seit <strong>im</strong>mer-<strong>im</strong>mer sind die Mama und<br />

der Papa absolut und bis über beide Ohren und<br />

Nasenlöcher dagegen.<br />

„Ein Hund kostet Geld und macht viel Arbeit.“<br />

Sagen sie.<br />

„Ein Hund fühlt sich in unserer Wohnung ohne<br />

Garten doch gar nicht wohl.“ Sagen sie.<br />

„Der Hund wäre so oft allein, weil wir arbeiten<br />

und ihr in der Schule seid.“ Sagen sie.<br />

„Aber was soll denn aus dem Hund werden,<br />

wenn wir auf Urlaub fahren?“ Fragen sie.<br />

Ich versteh die Mama und den Papa nicht. Echt<br />

nicht. Darum hab ich auch eines Tages be<strong>im</strong><br />

Abendessen wieder gefragt: „So, wann bekomm<br />

ich denn jetzt endlich einen Hund?“<br />

„Schau mal, Großer …“, gab die Mama mit<br />

ihrer Ich-meine-es-ernst-St<strong>im</strong>me von sich, „…<br />

das haben wir doch schon so oft besprochen. Du<br />

weißt, warum es nicht geht.“<br />

„Ja ja“, antwortete ich trotzig. „Ein Hund ist<br />

zu teuer. Ein Hund macht viel Arbeit. Ein Hund<br />

fühlt sich in unserer Wohnung nicht wohl. Ein<br />

Hund wäre viel zu oft allein und kann nicht mit<br />

uns auf Urlaub fahren. Bla, bla, bla.“ Die Augen<br />

verdrehend stocherte ich in meinen schlappen,<br />

lauwarmen Spaghetti mit Tomatensoße herum.<br />

12 13


„Du, das ist kein Blablabla“, meinte darauf der<br />

Papa. „Es ist nun einmal einfach nicht möglich.<br />

Im Leben geht nicht <strong>im</strong>mer alles.“<br />

„Wie wär’s mit einem alten Goldfisch?“ Die Mia<br />

grinste mich an wie ein Karussellpferd, dem ein<br />

bisschen schlecht ist.<br />

„Sehr witzig. Haha.“ Ich schnitt dem Karussellpferd<br />

eine Gr<strong>im</strong>asse.<br />

„Was denn? Der ist kostet nicht viel Geld, ist<br />

pflegeleicht und n<strong>im</strong>mt in der Wohnung kaum<br />

Platz weg. Wobei …“, sie hielt kurz inne und tat<br />

so, als würde sie über etwas Superkompliziertes<br />

nachdenken. „Ach! O nein! O Mist! Auf Urlaub<br />

fahren könnte der ja auch nicht. Ich hab mal<br />

gehört, alte Fische reisen nicht gern.“<br />

„Du bist eine blöde Kuh!“, keifte ich die Mia an.<br />

„Außerdem darf man einen einzelnen Fisch gar<br />

nicht haben. Das ist Tierquälerei.“<br />

Sie gluckste. „Na gut,<br />

Professor Knirpsi! Aber da<br />

fällt mir gerade ein:<br />

Wenn ich eine Kuh bin,<br />

hast du schon ein Haustier.<br />

Dann brauchst du ja gar<br />

keinen Hund mehr.“<br />

Fuchsteufelswild sprang ich<br />

auf, um der Kuh eins auf die<br />

Hörner zu geben. Aber die Mama hielt mich<br />

zurück und von ihr und vom Papa kam ein sattes<br />

„Geh hört’s doch auf!“<br />

Darum nahm ich wieder auf meinen vier Buchstaben<br />

Platz und gab der blöden Kuh mit den<br />

Augen eins auf die Hörner. Aber so richtig.<br />

Daraufhin wandte ich mich wieder an meine<br />

Eltern. „Biiiihiiitteeee!“<br />

„Max …“, begann der Papa.<br />

14 15


Kapitel 4<br />

Die Kuh hat eine Idee<br />

„Bitte. Bitte. Bitte. Wenn ihr mir mein Taschengeld<br />

für die nächsten Jahre <strong>im</strong> Voraus zahlt, kann<br />

ich den Hund selbst kaufen. Und ich kümmere<br />

mich um ihn. Jeden Tag. Versprochen. Ich geh<br />

<strong>im</strong>mer mit ihm spazieren. Auch wenn’s regnet.<br />

Und wenn wir auf Urlaub fahren, bleibe ich<br />

einfach <strong>im</strong>mer zu Hause und passe auf ihn auf<br />

und …“<br />

„Max Kallinger!“, unterbrach mich die Es-istjetzt-genug-St<strong>im</strong>me<br />

vom Papa. „Zum letzten Mal:<br />

Nein. Es. Geht. Nicht.“<br />

Du, ich habe doch <strong>im</strong> vorigen Kapitel aufgezählt,<br />

was ich nicht mag. Da habe ich etwas vergessen.<br />

Ich mag es nicht, wenn ich höre „Nein. Es. Geht.<br />

Nicht.“ Ich mag es nicht nur nicht. Ich hasse es!<br />

Als die Mia das mit dem alten Goldfisch vorgeschlagen<br />

hatte, hätte ich sie durch Sonne, Mond<br />

und alle Sterne, die ich kenne, schießen können.<br />

So sauer war ich auf sie. Doch zwei Tage später<br />

versöhnte ich mich mit der Kuh. Das kam so:<br />

Wir saßen wieder be<strong>im</strong> Abendessen. Und gerade<br />

als der Papa das letzte Stück Gemüseauflauf durch<br />

vier geteilt hatte, meldete sich die Kuh, äh, die<br />

16 17


Mia, zu Wort. „Also, ich hätte eine Idee wegen<br />

dem Hund …“<br />

„Jetzt fang du nicht auch noch an!“, brach es aus<br />

der Mama heraus. „Außerdem heißt es wegen deS<br />

HundES“, fügte sie hinzu und glotzte den Papa<br />

an. Der hatte sich nämlich an einem Karottenstück<br />

verschluckt und hustete wie wild. Allerdings<br />

gab er uns ein Zeichen, dass er o. k. war, und so<br />

begann die Mia erneut: „Also, ich hab eine Idee<br />

wegen deS HundES. Ich hab heute ein Plakat vom<br />

Tierhe<strong>im</strong> gesehen. Auf dem stand, dass da Leute<br />

gesucht werden, die sich um die Tiere kümmern.<br />

Freiwillig. Und irgendwie dachte ich …“ Da<br />

unterbrach sich die Mia selbst. Sie fing an, dem<br />

Papa auf den Rücken zu klopfen. Der hatte vor<br />

lauter Husten schon Tränen in den Augen und<br />

einen hochroten Kopf. Ein paar Mia-Klopfer<br />

später löste sich der Karottenbissen jedoch und<br />

so fuhr die Mia fort. „Was ich sagen wollte: Ich<br />

dachte, dass das vielleicht etwas für dich wäre,<br />

Bruderherz. Im Tierhe<strong>im</strong> gibt es sicher viele<br />

Hunde, die alleine sind und jemanden brauchen,<br />

der sich um sie kümmert. Der sie besucht. Mit<br />

ihnen Gassi geht. Spielt. Oder so. Dann könntest<br />

du Hundebabysitter werden und lernen, wie das ist,<br />

wenn man einen Hund hat. Wär das nicht was?“<br />

Die Mama blickte den Papa an.<br />

Der Papa blickte die Mama an.<br />

Die Mia blickte uns alle an.<br />

Und ich, ich starrte die Mia an. Hundebabysitter!<br />

Was für eine Idee! Vor lauter Aufregung<br />

wurde mir ganz flau oberhalb vom Bauch<br />

und ich hatte das Gefühl, als würde<br />

mein Gesicht von innen mit einer<br />

Gänsehaut überzogen werden.<br />

„Geht das? Mapa, geht das?“, fragte ich und<br />

unterbrach meine Eltern bei ihren Blicken.<br />

„Mapa“ sag ich, wenn ich die Mama und den<br />

Papa meine, aber nicht viel Zeit habe.<br />

Die Mama stieß einen Seufzer hervor.<br />

„Wo hast du das Plakat gesehen?“, fragte sie wie<br />

eine Detektivin.<br />

„Be<strong>im</strong> Eissalon. Wo sonst auch so viele Plakate<br />

hängen“, vermeldete die Mia.<br />

18 19


„Und stand da was davon, wie alt man sein<br />

muss, um so ein Hundebabysitter zu werden?“,<br />

bohrte der Detektiv Papa nach.<br />

„Nein. Aber ich hab die Nummer vom Tierhe<strong>im</strong><br />

fotografiert, dann können wir anrufen und nachfragen“,<br />

triumphierte die Mia und hielt uns dabei<br />

allen ihr Handy hin. Darauf konnten wir das Foto<br />

vom Plakat erkennen. Außerdem war da noch<br />

etwas. Auf der Handfläche von der Mia. Ein hellbrauner<br />

Fleck. Aha: Haselnusseis!<br />

„Na gut. Lieb, dass du dir Gedanken machst, Mia-<br />

Maus. Der Papa und ich besprechen das nachher“,<br />

meinte die Mama. „Jetzt essen wir erst einmal.“<br />

Die Mia zwinkerte mir zu.<br />

„Wann ist denn nachher?“, fragte ich vorsichtig.<br />

„Nachher ist nachher“, best<strong>im</strong>mte die Mama<br />

und ihr linker Mundwinkel schmunzelte dabei.<br />

Ich aß drei Bissen von meinem Auflauf, trank<br />

einen Schluck Wasser.<br />

„Ist jetzt nachher?“, hakte ich nach. „Weil jetzt<br />

ist ja schon später als vorher.“<br />

„Nein, jetzt ist noch nicht nachher.“<br />

Die Mama aß in Ruhe<br />

weiter.<br />

Ich nahm wieder<br />

drei Auflaufbissen.<br />

„Und jetzt?“<br />

„Du bist ein<br />

Lauser“, lachte<br />

der Papa und<br />

verschluckte sich<br />

doch glatt zum<br />

zweiten Mal. Diesmal<br />

an einem Maiskorn.<br />

Wie vorhin klopfte<br />

ihm die Mia auf den<br />

Rücken, schüttelte<br />

den Kopf wie ein<br />

Wackel-Dackel und bemerkte: „Wenn du groß<br />

bist, zeig ich dir, wie man isst, Papa.“<br />

Nachher – das war genau dreizehn Minuten<br />

und 54, nein 55 Sekunden, nachdem wir fertig<br />

20 21


gegessen hatten. Ich wartete in meinem Z<strong>im</strong>mer<br />

auf dem Bett und hörte das Gemurmel meiner<br />

Elternst<strong>im</strong>men in der Küche. Bitte, bitte, lasst<br />

mich Hundebabysitter werden, bettelte ich <strong>im</strong><br />

Kopf. Bitte, bitte, bitte!<br />

Endlich versammelten sich die Mama, der Papa<br />

und die Mia in meinem Z<strong>im</strong>mer.<br />

„O. k., Großer …“, eröffnete die Mama. Die<br />

Idee mit dem Tierhe<strong>im</strong> gefällt uns und …“<br />

„… ich werde morgen dort anrufen“, setzte<br />

der Papa fort, „heute Abend erreichen wir da<br />

best<strong>im</strong>mt niemanden mehr. Also, junger Mann,<br />

bitte noch bis morgen gedulden, gut? Und morgen<br />

ist morgen. Einverstanden?“<br />

Und wie ich einverstanden war! Ich war auf dem<br />

Weg, Hundebabysitter zu werden.<br />

Kurz bevor es für die Mia und mich „Schlafenszeit“<br />

hieß, huschte ich ins Z<strong>im</strong>mer meiner<br />

Schwester und drückte sie.<br />

„Danke!!“, sagte ich, „du bist die beste Kuh<br />

meiner Welt.“<br />

22

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!