Leseprobe: Qualle im Tierheim
Leseprobe zu Lena Raubaum: Qualle im Tierheim
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Lena Raubaum<br />
<strong>Qualle</strong> <strong>im</strong><br />
Tierhe<strong>im</strong>
Kapitel 1<br />
Angst hinter Gittern<br />
Ihr ganzer Körper zitterte. Ihre Augen starrten<br />
ängstlich in meine Richtung, ohne mich wirklich<br />
anzusehen. Sie fiepte, winselte und drückte sich<br />
wie ein großer, schokobrauner Fellhügel in die<br />
linke hintere Ecke ihres Zwingers.<br />
Es roch nach Unsicherheit, großer Unsicherheit.<br />
Ich näherte mich den Gitterstäben. Langsam.<br />
Vorsichtig.<br />
„Barka? Hey, Barka!“, flüsterte ich. „Ich bin’s.<br />
Der <strong>Qualle</strong>.“<br />
Keine Reaktion. Sie stellte nicht einmal ein Ohr<br />
auf.<br />
„Ich hab was für dich“, sagte ich und öffnete<br />
meinen Rucksack. Langsam. Vorsichtig.<br />
„Na, ich bin ja mal gespannt, ob das funktioniert“,<br />
hörte ich die Eva hinter mir.<br />
Ich wusste es selbst nicht.<br />
Aber ich wollte es versuchen.<br />
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Kapitel 2<br />
Das bin ich (ganz kurz)<br />
Weißt du was? Mir ist gerade aufgefallen, dass<br />
ich einfach mit der Geschichte angefangen habe,<br />
ohne mich vorzustellen. Ich mach das jetzt noch.<br />
Immerhin kann es sein, dass wir einander hier<br />
zum ersten Mal begegnen.<br />
Also: ich bin der <strong>Qualle</strong>. Eigentlich heiße ich<br />
Max. Max Kallinger. Aber der Flocki (mein bester<br />
Freund damals <strong>im</strong> Kindergarten), der hat mich<br />
irgendwann „Kalli“, dann „Qualli“, dann „Qualliballi“<br />
und dann „<strong>Qualle</strong>“ genannt. Und „<strong>Qualle</strong>“<br />
hat mir gefallen. Der Name ist mir geblieben.<br />
Hier sind fünf Dinge, die ich mag:<br />
1. Hunde. Die liebe ich über alles.<br />
2. Jede Zahl mit hundert –<br />
weil <strong>im</strong> Wort „hundert“<br />
ist auch das Wort „Hund“<br />
versteckt.<br />
Ich bin neuneinhalb Jahre alt. Fast zehn. Meine<br />
Augen sind blau. Wer genau schaut, sieht darin<br />
winzige braune Punkte. Meine Haare sind blond,<br />
mittellang. Meine Ohren sind größer, als ich wollte.<br />
Aber der Papa sagt, dass ich wegen der großen<br />
Ohren besser höre als ein Luchs. Ich glaub ihm das.<br />
3. Meinen Roller. Er heißt<br />
„Motorrad“, damit er noch<br />
schneller fährt.<br />
4. Wenn mir jemand vorliest.<br />
5. Die Barka. Keine Sorge,<br />
die lernst du noch kennen.<br />
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Hier sind fünf Dinge, die ich nicht so mag:<br />
1. Wenn ich höre, dassich für irgendetwas<br />
zu klein oder noch nicht alt genug bin.<br />
4. Wenn mich meine große Schwester Mia<br />
„Knirpsi“ nennt.<br />
5. Wenn ich Geduld haben muss, aber<br />
ungeduldig bin.<br />
2. Wenn jemand mein Motorrad „Roller“<br />
nennt.<br />
So, jetzt kennst du mich etwas besser. Dann<br />
fang ich jetzt mit der Geschichte an. Mit einer<br />
Geschichte, die es eigentlich nur deshalb gibt,<br />
weil ich nicht das bekommen habe, was ich<br />
wollte …<br />
3. Menschen, die herumbrüllen.<br />
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Kapitel 3<br />
Bitten, betteln und bla, bla bla<br />
Die Mama hat geseufzt. Der Papa hat geseufzt.<br />
Und die Mia hat geseufzt. Sie wusste genau, dass<br />
das wieder ein längeres Gespräch werden würde.<br />
Ich wünsche mir einen Hund. Schon <strong>im</strong>mer<strong>im</strong>mer.<br />
Schon seit ich „Hund“ sagen kann. Aber<br />
schon seit <strong>im</strong>mer-<strong>im</strong>mer sind die Mama und<br />
der Papa absolut und bis über beide Ohren und<br />
Nasenlöcher dagegen.<br />
„Ein Hund kostet Geld und macht viel Arbeit.“<br />
Sagen sie.<br />
„Ein Hund fühlt sich in unserer Wohnung ohne<br />
Garten doch gar nicht wohl.“ Sagen sie.<br />
„Der Hund wäre so oft allein, weil wir arbeiten<br />
und ihr in der Schule seid.“ Sagen sie.<br />
„Aber was soll denn aus dem Hund werden,<br />
wenn wir auf Urlaub fahren?“ Fragen sie.<br />
Ich versteh die Mama und den Papa nicht. Echt<br />
nicht. Darum hab ich auch eines Tages be<strong>im</strong><br />
Abendessen wieder gefragt: „So, wann bekomm<br />
ich denn jetzt endlich einen Hund?“<br />
„Schau mal, Großer …“, gab die Mama mit<br />
ihrer Ich-meine-es-ernst-St<strong>im</strong>me von sich, „…<br />
das haben wir doch schon so oft besprochen. Du<br />
weißt, warum es nicht geht.“<br />
„Ja ja“, antwortete ich trotzig. „Ein Hund ist<br />
zu teuer. Ein Hund macht viel Arbeit. Ein Hund<br />
fühlt sich in unserer Wohnung nicht wohl. Ein<br />
Hund wäre viel zu oft allein und kann nicht mit<br />
uns auf Urlaub fahren. Bla, bla, bla.“ Die Augen<br />
verdrehend stocherte ich in meinen schlappen,<br />
lauwarmen Spaghetti mit Tomatensoße herum.<br />
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„Du, das ist kein Blablabla“, meinte darauf der<br />
Papa. „Es ist nun einmal einfach nicht möglich.<br />
Im Leben geht nicht <strong>im</strong>mer alles.“<br />
„Wie wär’s mit einem alten Goldfisch?“ Die Mia<br />
grinste mich an wie ein Karussellpferd, dem ein<br />
bisschen schlecht ist.<br />
„Sehr witzig. Haha.“ Ich schnitt dem Karussellpferd<br />
eine Gr<strong>im</strong>asse.<br />
„Was denn? Der ist kostet nicht viel Geld, ist<br />
pflegeleicht und n<strong>im</strong>mt in der Wohnung kaum<br />
Platz weg. Wobei …“, sie hielt kurz inne und tat<br />
so, als würde sie über etwas Superkompliziertes<br />
nachdenken. „Ach! O nein! O Mist! Auf Urlaub<br />
fahren könnte der ja auch nicht. Ich hab mal<br />
gehört, alte Fische reisen nicht gern.“<br />
„Du bist eine blöde Kuh!“, keifte ich die Mia an.<br />
„Außerdem darf man einen einzelnen Fisch gar<br />
nicht haben. Das ist Tierquälerei.“<br />
Sie gluckste. „Na gut,<br />
Professor Knirpsi! Aber da<br />
fällt mir gerade ein:<br />
Wenn ich eine Kuh bin,<br />
hast du schon ein Haustier.<br />
Dann brauchst du ja gar<br />
keinen Hund mehr.“<br />
Fuchsteufelswild sprang ich<br />
auf, um der Kuh eins auf die<br />
Hörner zu geben. Aber die Mama hielt mich<br />
zurück und von ihr und vom Papa kam ein sattes<br />
„Geh hört’s doch auf!“<br />
Darum nahm ich wieder auf meinen vier Buchstaben<br />
Platz und gab der blöden Kuh mit den<br />
Augen eins auf die Hörner. Aber so richtig.<br />
Daraufhin wandte ich mich wieder an meine<br />
Eltern. „Biiiihiiitteeee!“<br />
„Max …“, begann der Papa.<br />
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Kapitel 4<br />
Die Kuh hat eine Idee<br />
„Bitte. Bitte. Bitte. Wenn ihr mir mein Taschengeld<br />
für die nächsten Jahre <strong>im</strong> Voraus zahlt, kann<br />
ich den Hund selbst kaufen. Und ich kümmere<br />
mich um ihn. Jeden Tag. Versprochen. Ich geh<br />
<strong>im</strong>mer mit ihm spazieren. Auch wenn’s regnet.<br />
Und wenn wir auf Urlaub fahren, bleibe ich<br />
einfach <strong>im</strong>mer zu Hause und passe auf ihn auf<br />
und …“<br />
„Max Kallinger!“, unterbrach mich die Es-istjetzt-genug-St<strong>im</strong>me<br />
vom Papa. „Zum letzten Mal:<br />
Nein. Es. Geht. Nicht.“<br />
Du, ich habe doch <strong>im</strong> vorigen Kapitel aufgezählt,<br />
was ich nicht mag. Da habe ich etwas vergessen.<br />
Ich mag es nicht, wenn ich höre „Nein. Es. Geht.<br />
Nicht.“ Ich mag es nicht nur nicht. Ich hasse es!<br />
Als die Mia das mit dem alten Goldfisch vorgeschlagen<br />
hatte, hätte ich sie durch Sonne, Mond<br />
und alle Sterne, die ich kenne, schießen können.<br />
So sauer war ich auf sie. Doch zwei Tage später<br />
versöhnte ich mich mit der Kuh. Das kam so:<br />
Wir saßen wieder be<strong>im</strong> Abendessen. Und gerade<br />
als der Papa das letzte Stück Gemüseauflauf durch<br />
vier geteilt hatte, meldete sich die Kuh, äh, die<br />
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Mia, zu Wort. „Also, ich hätte eine Idee wegen<br />
dem Hund …“<br />
„Jetzt fang du nicht auch noch an!“, brach es aus<br />
der Mama heraus. „Außerdem heißt es wegen deS<br />
HundES“, fügte sie hinzu und glotzte den Papa<br />
an. Der hatte sich nämlich an einem Karottenstück<br />
verschluckt und hustete wie wild. Allerdings<br />
gab er uns ein Zeichen, dass er o. k. war, und so<br />
begann die Mia erneut: „Also, ich hab eine Idee<br />
wegen deS HundES. Ich hab heute ein Plakat vom<br />
Tierhe<strong>im</strong> gesehen. Auf dem stand, dass da Leute<br />
gesucht werden, die sich um die Tiere kümmern.<br />
Freiwillig. Und irgendwie dachte ich …“ Da<br />
unterbrach sich die Mia selbst. Sie fing an, dem<br />
Papa auf den Rücken zu klopfen. Der hatte vor<br />
lauter Husten schon Tränen in den Augen und<br />
einen hochroten Kopf. Ein paar Mia-Klopfer<br />
später löste sich der Karottenbissen jedoch und<br />
so fuhr die Mia fort. „Was ich sagen wollte: Ich<br />
dachte, dass das vielleicht etwas für dich wäre,<br />
Bruderherz. Im Tierhe<strong>im</strong> gibt es sicher viele<br />
Hunde, die alleine sind und jemanden brauchen,<br />
der sich um sie kümmert. Der sie besucht. Mit<br />
ihnen Gassi geht. Spielt. Oder so. Dann könntest<br />
du Hundebabysitter werden und lernen, wie das ist,<br />
wenn man einen Hund hat. Wär das nicht was?“<br />
Die Mama blickte den Papa an.<br />
Der Papa blickte die Mama an.<br />
Die Mia blickte uns alle an.<br />
Und ich, ich starrte die Mia an. Hundebabysitter!<br />
Was für eine Idee! Vor lauter Aufregung<br />
wurde mir ganz flau oberhalb vom Bauch<br />
und ich hatte das Gefühl, als würde<br />
mein Gesicht von innen mit einer<br />
Gänsehaut überzogen werden.<br />
„Geht das? Mapa, geht das?“, fragte ich und<br />
unterbrach meine Eltern bei ihren Blicken.<br />
„Mapa“ sag ich, wenn ich die Mama und den<br />
Papa meine, aber nicht viel Zeit habe.<br />
Die Mama stieß einen Seufzer hervor.<br />
„Wo hast du das Plakat gesehen?“, fragte sie wie<br />
eine Detektivin.<br />
„Be<strong>im</strong> Eissalon. Wo sonst auch so viele Plakate<br />
hängen“, vermeldete die Mia.<br />
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„Und stand da was davon, wie alt man sein<br />
muss, um so ein Hundebabysitter zu werden?“,<br />
bohrte der Detektiv Papa nach.<br />
„Nein. Aber ich hab die Nummer vom Tierhe<strong>im</strong><br />
fotografiert, dann können wir anrufen und nachfragen“,<br />
triumphierte die Mia und hielt uns dabei<br />
allen ihr Handy hin. Darauf konnten wir das Foto<br />
vom Plakat erkennen. Außerdem war da noch<br />
etwas. Auf der Handfläche von der Mia. Ein hellbrauner<br />
Fleck. Aha: Haselnusseis!<br />
„Na gut. Lieb, dass du dir Gedanken machst, Mia-<br />
Maus. Der Papa und ich besprechen das nachher“,<br />
meinte die Mama. „Jetzt essen wir erst einmal.“<br />
Die Mia zwinkerte mir zu.<br />
„Wann ist denn nachher?“, fragte ich vorsichtig.<br />
„Nachher ist nachher“, best<strong>im</strong>mte die Mama<br />
und ihr linker Mundwinkel schmunzelte dabei.<br />
Ich aß drei Bissen von meinem Auflauf, trank<br />
einen Schluck Wasser.<br />
„Ist jetzt nachher?“, hakte ich nach. „Weil jetzt<br />
ist ja schon später als vorher.“<br />
„Nein, jetzt ist noch nicht nachher.“<br />
Die Mama aß in Ruhe<br />
weiter.<br />
Ich nahm wieder<br />
drei Auflaufbissen.<br />
„Und jetzt?“<br />
„Du bist ein<br />
Lauser“, lachte<br />
der Papa und<br />
verschluckte sich<br />
doch glatt zum<br />
zweiten Mal. Diesmal<br />
an einem Maiskorn.<br />
Wie vorhin klopfte<br />
ihm die Mia auf den<br />
Rücken, schüttelte<br />
den Kopf wie ein<br />
Wackel-Dackel und bemerkte: „Wenn du groß<br />
bist, zeig ich dir, wie man isst, Papa.“<br />
Nachher – das war genau dreizehn Minuten<br />
und 54, nein 55 Sekunden, nachdem wir fertig<br />
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gegessen hatten. Ich wartete in meinem Z<strong>im</strong>mer<br />
auf dem Bett und hörte das Gemurmel meiner<br />
Elternst<strong>im</strong>men in der Küche. Bitte, bitte, lasst<br />
mich Hundebabysitter werden, bettelte ich <strong>im</strong><br />
Kopf. Bitte, bitte, bitte!<br />
Endlich versammelten sich die Mama, der Papa<br />
und die Mia in meinem Z<strong>im</strong>mer.<br />
„O. k., Großer …“, eröffnete die Mama. Die<br />
Idee mit dem Tierhe<strong>im</strong> gefällt uns und …“<br />
„… ich werde morgen dort anrufen“, setzte<br />
der Papa fort, „heute Abend erreichen wir da<br />
best<strong>im</strong>mt niemanden mehr. Also, junger Mann,<br />
bitte noch bis morgen gedulden, gut? Und morgen<br />
ist morgen. Einverstanden?“<br />
Und wie ich einverstanden war! Ich war auf dem<br />
Weg, Hundebabysitter zu werden.<br />
Kurz bevor es für die Mia und mich „Schlafenszeit“<br />
hieß, huschte ich ins Z<strong>im</strong>mer meiner<br />
Schwester und drückte sie.<br />
„Danke!!“, sagte ich, „du bist die beste Kuh<br />
meiner Welt.“<br />
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