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Leseprobe_Bletschacher

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DER BLICK AUS MEINEM FENSTER


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

DER BLICK<br />

AUS MEINEM FENSTER<br />

Essays


Umschlaggestaltung: Gabriel Fischer<br />

unter Verwendung einer Zeichnung von Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

Lektorat: Johann Lehner, Teresa Profanter<br />

Satz: Johann Lehner, Gabriel Fischer<br />

Hergestellt in der EU<br />

Richard <strong>Bletschacher</strong>:<br />

Der Blick aus meinem Fenster<br />

Essays<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© HOLLITZER Verlag, Wien 2016<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99012-244-0


Inhalt<br />

Vorwort<br />

Der Blick aus meinem Fenster ............................. 7<br />

Die Lauten- und Geigenmacher des Füssener Landes<br />

und ihre Werkstätten in Italien ............................ 9<br />

Vom Vergessen und Wiederfinden des Mittelalters ...... 29<br />

Ludwig van Beethovens einzige Oper Fidelio ............. 37<br />

Vogelfangen im Salzkammergut .......................... 85<br />

Erste Unterweisungen in der sozialen Frage ............. 93<br />

Vom Haben und Entbehren und<br />

vom Geben und Nehmen ................................107<br />

Giorgione da Castelfranco ...............................135<br />

Zur Baugeschichte der Wiener Hoftheater .............183<br />

Über die Kränze des Nachruhms.<br />

In Erinnerung an Maria Reining .........................193<br />

Jean-Paul Sartres Theorien<br />

zu einem kritischen Theater .............................203<br />

Was heißt Fortschritt, wovon führt er fort,<br />

wo führt er hin? ..........................................245<br />

Die Wege der irischen Mönche<br />

im südlichen Germanien .................................271


Vorwort<br />

Der Blick aus meinem Fenster<br />

Wenn ich aus dem Fenster meiner Wohnung schaue, kann<br />

ich den Blick über die Dächer der alten Häuser der Wiener<br />

Innenstadt und um die Türme dreier Kirchen herum spazieren<br />

führen. Manches hat sich in den vergangenen Jahrzehnten<br />

an ihnen verändert, nicht alles zu meinem Wohlgefallen.<br />

Aber ich weiß doch, dass sich in der Ferne hinter<br />

ihren Silhouetten die bewaldete Kuppel des Kahlenbergs<br />

duckt und dass die Donau, wenn auch nicht sichtbar, so<br />

doch nahe vorbeirauscht. Ihre Wasser nähren sich von den<br />

Flüssen der Alpen, an deren Ufern ich auch einmal zu Hause<br />

war. Die Geräusche des Regens und das Pferdegetrappel,<br />

Motorengeräusch und Stimmengewirr der Straßen dringen<br />

nur gedämpft bis zu mir an die Leselampe oder den Schreibtisch.<br />

Da sitze ich allein, aber nicht aus der Welt. In der hab’<br />

ich mich viele Jahrzehnte lang umgetrieben, mit den Füßen<br />

und auch mit dem Kopf. Wen wundert es, wenn das, was<br />

ich schreibe, sich aus tausend Erfahrungen und Erinnerungen<br />

nährt. Manches davon findet sich nun in den Versuchen,<br />

die ich in diesem dritten Band meiner Essays aus den Händen<br />

gebe.<br />

Essays nennt man Versuche, intellektuelle Fragestellungen<br />

in literarischer, das heißt künstlerischer Form zu beantworten.<br />

Die gewählten Themen in der nachfolgenden<br />

Sammlung sind auch diesmal wieder sehr unterschiedlicher<br />

Art. Sie wurden ebenso aus „fernen Zeiten“ wie aus der<br />

„Fülle des Lebens“ unserer Gegenwart gegriffen. Es mag<br />

sein, dass die Vielfalt der behandelten Themen den Leser<br />

mehr verwirrt als dass sie durch Abwechslung und Neubesinnung<br />

sein immer erneuertes Interesse weckt. Doch es<br />

7


entspricht meinem eigenwilligen Charakter, dass ich immer<br />

wieder voneinander unterschiedene Themen und diese<br />

dann auch in unterschiedlicher Weise und wechselnder<br />

Jagdlust verfolge. Eine Durchmischung von ernsten und<br />

halbernsten Texten ist also durchaus in meinem Sinn. Es<br />

ist da manches von Literatur, von Baukunst und Musik zu<br />

lesen, manches auch vom sozialen Leben. Und wenn man<br />

ein wenig zurücktritt, um dies alles zu überblicken, so kann<br />

man vielleicht doch erkennen, dass sich fast alles davon in<br />

der gesellschaftlichen und kulturellen Form des Theaters<br />

zusammenführen lässt. Die Bemühung darum hat eben<br />

auch den großen Teil meines Lebens erfüllt. Man könnte<br />

darum auch eine chronologische Anordnung der Gegenstände<br />

dieser Betrachtungen, sei es nach der Thematik, sei<br />

es nach der Entstehung der Texte, für angemessen halten.<br />

Das könnte den trügerischen Eindruck erwecken, ich sei der<br />

Wahrheit auf der Spur.<br />

Vielleicht wird man in all dem zum Wort Gebrachten<br />

die Absicht des Autors erkennen, den vieltausendfachen<br />

und immer wieder wundersamen Erscheinungen des allgemeinen<br />

Lebens und des Wirkens kundiger Hände, wie<br />

es sich ihm bietet, einmal mit wechselnden Mitteln gerecht<br />

zu werden. Es ist schon so: Die aus solchen Absichten<br />

entstandenen Essays wollen ihm selbst – und mit ihm<br />

auch dem Leser, der ihm nach drei Dutzend Büchern immer<br />

noch wohlgesinnt ist – über Dinge, die eben in unseren<br />

Lebens tagen weiterhin oder neuerdings beachtenswert<br />

scheinen, größere Klarheit verschaffen. Das aber gelingt<br />

ihnen trotz Sammlung und Wägung von Fakten und trotz<br />

unterschiedlichster Blickwinkel der Betrachtung nicht<br />

immer so, wie er hoffte, als er begann. Und kann wohl<br />

auch, da es sich eben nur um Versuche handelt, am Ende<br />

nicht anders sein.<br />

8


Die Lauten- und Geigenmacher<br />

des Füssener Landes<br />

und ihre Werkstätten in Italien<br />

Dass Füssen, die Stadt am Fuße der Alpen und an der Grenze<br />

der bayerischen, schwäbischen und Tiroler Siedlungsgebiete,<br />

die europäische „Heimat der Lauten“ sei, das hätte in meiner<br />

Jugendzeit, d. h. vor mehr als einem halben Jahrhundert die<br />

meisten ihrer Bewohner und mich selbst auch mitten unter<br />

ihnen sehr verwundert. Man hatte in der Stadt lange nichts<br />

mehr gehört von dergleichen altertümlichen Instrumenten.<br />

An einem der älteren Häuser war immerhin noch ein Fresko<br />

des Füssener Malers Kurt Geibel-Hellmeck zu sehen, das<br />

Männer bei der Arbeit an musikalischen Geräten zeigte; an<br />

einem Haus in der Ritterstraße und einem zweiten in der<br />

Hinteren Gasse waren Tafeln angebracht, die auf Handwerker<br />

verwiesen, die dort gelebt haben sollen. Die Gedenktafeln<br />

waren damals schon so wie heute in einem bedauerlichen<br />

Zustand. Man konnte sie kaum mehr recht lesen.<br />

In der Schule hörte man nichts von all diesen Dingen.<br />

Lauten, Theorben, Chitarronen, Cistern, Lyren, Trumscheite,<br />

Poschetten, Barytone, Violen d’amore oder Gamben<br />

kannte man kaum vom eigenen Sehen oder Hören, am<br />

ehesten noch von den Bildern des Füssener Totentanzes<br />

im Kloster des heiligen Magnus oder von Sendungen alter<br />

Musik aus dem Rundfunk. Was die Instrumente der Geigenfamilie<br />

betraf, so war dies eine andere Sache. Aber all<br />

das war aus einer fremden Welt. Mag sein, dass manch einer<br />

im Schulorchester die Violine oder das Cello spielte. Ohne<br />

Geigen konnte man sich eine musikalische Messe in der Kirche<br />

oder bei einem Kurkonzert gar nicht vorstellen. Aber<br />

Geigen, so dachte man, wurden doch vor allem in der bayerischen<br />

Schwesterstadt, in Mittenwald an der Isar, gebaut,<br />

9


wenn nicht überhaupt in Brescia, Mailand oder Cremona.<br />

Was hatte denn Füssen, die Stadt der barocken Kirchen, der<br />

Schlösser, Burgen, Burgruinen, des Eislaufsports und der<br />

Sommerfrische mit Geigen oder Gitarren zu tun?<br />

Man hat sich belehren lassen. Es erschienen unmittelbar<br />

nacheinander in den Jahren 1978 und 1979 zwei umfängliche<br />

Bücher, das eine davon von einem geborenen Füssener, der<br />

meinen bescheidenen Namen trug, das andere von Adolf<br />

Layer, einem Privatgelehrten aus Dillingen, verfasst, in deren<br />

erstem die Geschichte des Lautenmacherhandwerks im<br />

Füssener Land und in deren zweitem die im gesamten Allgäu<br />

aufgedeckt wurden. Und da erwies sich, dass die erste und<br />

älteste aller Städte, die dieses kunstvolle Handwerk beherbergten,<br />

keine andere war als Füssen, Füssen am Lech, Füssen<br />

am Fuße der Alpen oder – wie es heute heißt – Füssen<br />

im Königswinkel. Und dass von Füssen aus, wie von einer<br />

schier unerschöpflichen Quelle, die neu gefertigten Instrumente<br />

über die umliegenden und dann über die immer ferneren<br />

Länder verteilt worden waren. Und dass endlich die<br />

Meister des Handwerks selbst über die Berge gegangen waren<br />

oder sich auf Flößen hatten tragen lassen in die großen<br />

Städte der musikliebenden Länder, nach Deutschland, nach<br />

Österreich, Böhmen und Ungarn, weiter nach Frankreich,<br />

nach England, nach Schweden und Russland und vor allem<br />

über die Alpen hinweg – nach Italien.<br />

So ziemlich genau 200 Namen von Instrumentenbauern<br />

konnte ich mit mancher Hilfe allein in den italienischen<br />

Musikzentren ausfindig machen, Namen, die ihren Ursprung<br />

in der Stadt Füssen oder den umliegenden Dörfern<br />

und Gemeinden hatten. Wenn sich Ungenauigkeiten bei<br />

deren Zählung ergaben, so einerseits, weil manche Namen<br />

an verschiedenen Orten auftauchten und ihre Träger oder<br />

deren Nachkommen offenbar unterwegs waren, um einmal<br />

10


hier, einmal dort ihr Glück zu versuchen und eine Werkstatt<br />

zu gründen. Andererseits aber kamen einige Meister nach<br />

Süden, die dort ihre nicht immer leicht vermittelbaren Namen<br />

der italienischen Zunge anglichen und dann nur mehr<br />

schwer oder gar nicht auszuforschen waren. So haben sich<br />

etwa ein Magnus Lang aus Schwangau als Mango Longo im<br />

16. Jahrhundert in Padua und einer seiner gleichnamigen<br />

Nachkommen im 18. Jahrhundert in Neapel niedergelassen.<br />

Ein Albert nannte sich Alberti, ein Buchenberg nannte<br />

sich Boccaber und ein Vierter gar nur Leopoldo Tedesco,<br />

die Letzteren alle in Rom. Insgesamt konnten in Füssen<br />

und seiner näheren Umgebung, will sagen im früheren<br />

Landkreis der Stadt Füssen und in den Nachbarorten des<br />

Tiroler Außerfern, an die 700 Namen von Lauten- oder<br />

Geigenmachern ausgeforscht werden, von denen viele in<br />

den großen Städten Europas den Lauten- oder Geigenbau<br />

entweder begründet oder aber wesentlich befördert haben.<br />

So etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, stammten die<br />

Hoflauten- und Geigenmacher in der Reichshaupt- und<br />

Residenzstadt Wien, die für die besondere Qualität ihrer<br />

Geigen berühmt ist, über zweihundert Jahre lang allesamt<br />

aus der kleinen Stadt Füssen oder so war fast das gesamte<br />

Handwerk des Baus von Saiteninstrumenten in Rom, der<br />

Stadt der Päpste, während der Barockzeit in der Hand von<br />

Füssener Meistern. Man zählte dort an die siebzig Namen,<br />

deren Herkunft in den Lechgau zurückverfolgt werden<br />

konnte. Von ihnen lebten und arbeiteten die meisten in der<br />

Via Leutari, der Lautenmacherstraße, und wurden nach<br />

ihrem Tod auf dem Campo Santo dei Tedeschi im Vatikan<br />

begraben. Das Handwerk des Instrumentenbaus blühte<br />

in Füssen selbst wohl an die 500 Jahre, spätestens aber seit<br />

Beginn des 15. Jahrhunderts, in dem es erstmals urkundlich<br />

nachzuweisen ist, bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts.<br />

11


Dann ging es zugrunde. Und wurde letztlich fast gänzlich<br />

vergessen.<br />

Es sollen nun hier in gebotener Kürze die Gründe für<br />

das Entstehen, die rasche Blüte und den allmählichen Niedergang<br />

dieses edelsten aller Kunsthandwerke dargelegt<br />

werden. Warum nur und auf welchen Wegen gelangte die<br />

Saat dorthin, auf einen Boden, in dem sie so wohl gedeihen<br />

konnte? Dies ist die Frage, die sich den meisten erhebt, die<br />

staunend auf den Gebieten der Musikwissenschaft und der<br />

Sozialgeschichte forschen. Um sie zu beantworten, muss<br />

ich ein paar Jahrhunderte zurücktreten und Umschau halten<br />

nach der Geschichte der Instrumente.<br />

Dem Namen des ältesten der Füssener Saiteninstrumente,<br />

dem Namen der Laute entnehmen wir ihre orientalische<br />

Herkunft. Al’aud ist das arabische Wort für Holz.<br />

Und lautenähnliche Instrumente wurden seit unvordenklicher<br />

Zeit im Osten des Mittelmeers gefertigt und gespielt.<br />

Viele Abbildungen und Dichterverse belehren uns darüber.<br />

Sie waren auch im ferneren Osten nicht unbekannt. Diese<br />

Lauten kamen mit arabischen Eroberern oder Siedlern und<br />

durch Vermittlung der Kreuzfahrer einerseits über Spanien,<br />

andererseits über Italien nach Europa. Man weiß, dass der<br />

des Arabischen kundige Kaiser Friedrich II. (1194–1250) an<br />

seinem Hof in Palermo arabische Tänzerinnen in Diensten<br />

hatte. Ihre Tänze wurden von Lautenspielern begleitet. In<br />

einer Epoche, da Sizilien den staufischen Kaisern untertan<br />

war, kamen die Lauten von dort über die Alpen nach Norden.<br />

Man hätte meinen können, dass sie zuerst im italienischen<br />

Alpenvorland heimisch geworden wären. Aber dort<br />

zog der Kaiser nur vorüber, auf dem Boden seines Erblands<br />

machte er Rast. Auch wenn noch immer manche Stimme<br />

laut wird, die behauptet, die Stadt Füssen habe ihre Rechte<br />

erst um 1280 durch Rudolf von Habsburg erhalten, und<br />

12


dies aus keinem anderen Grund gesagt wird, als weil im Jahre<br />

1288 einer ihrer Bewohner erstmals als „civis“, d. h. als<br />

Bürger, bezeichnet wurde, so scheint es, da alle Dokumente<br />

aus älteren Zeiten verloren sind, doch keinen vernünftigen<br />

Zweifel daran zu geben, dass sie ihre Farben Schwarz-Gold,<br />

die denen der staufischen Kaiser gleichen, und ihr Wappen,<br />

den kreisenden Dreifuß, das dem Wappen Siziliens entspricht,<br />

von Friedrich II. erhalten haben, der erstmals im<br />

Jahre 1208 und letztmals im Jahre 1237 deutschen Boden<br />

betreten hat. Wenn man dessen Hin- und Rückwege aus<br />

Ita lien über die Alpen betrachtet, so könnte er sehr wohl<br />

bei einer seiner beiden Reisen der traditionellen Heerstraße<br />

über den Brenner folgend und dann über den Fernpass<br />

oder aber über die Obere Straße über den Reschenpass und<br />

dann am Lech entlang auf der alten Via Claudia der Römer<br />

gezogen sein. Zwei seiner Routen sind bekannt, die erste<br />

über Konstanz, die zweite über Wien. Die beiden anderen<br />

sind nicht nachgewiesen und kommen für diese Vermutung<br />

in Frage. Gesichert ist jedenfalls, dass das Füssener Land altes<br />

staufisches Herrschaftsgebiet war und dass Friedrich von<br />

Ulm aus dem Füssener Kloster des heiligen Magnus alte Besitzrechte<br />

verbrieft und neue gewährt hat. Man wird also<br />

nicht weit von der Wahrheit liegen mit der Annahme, dass<br />

durch den staufischen Kaiser und die stets prunkvolle Begleitung<br />

seiner Heerzüge auch die arabischen Musikinstrumente<br />

nach Füssen gelangten. An einen Ort, der schon von<br />

den Römern besiedelt worden und seit alter Zeit durch<br />

seine Lage an der Lechpforte zu einem bedeutsamen Umschlagplatz<br />

italischer und deutscher Handelsgüter geworden<br />

war. In Füssen wurden die aus dem Süden kommenden<br />

Waren von den Maultieren, die die Alpen überquerten, auf<br />

Flöße umgeladen für ihren Weitertransport auf dem ab hier<br />

erstmals schiffbaren Lech.<br />

13


Was den zweiten Weg der kulturellen Vermittlung zwischen<br />

Orient und Okzident anlangt, den man vielleicht<br />

in Betracht ziehen könnte, so brachte, wie wir wissen, die<br />

maurische Besiedelung die arabischen Saiteninstrumente<br />

auch auf die iberische Halbinsel. In Portugal ist der Name<br />

der Laute noch in seiner ursprünglich arabischen Form in<br />

Gebrauch. In Spanien lebt und blüht die Tradition vornehmlich<br />

durch das beliebte Gitarrenspiel. Eine Verbindung<br />

über Katalonien, die Provence und Frankreich zu den<br />

deutschen Landen ist jedoch nicht erkennbar geworden und<br />

wenig wahrscheinlich, auch wenn manche der Minnesänger<br />

durchaus Berührungen und einen regen Austausch von<br />

Sagenstoffen mit den Trouvères des nördlichen Frankreich<br />

hatten. Jedenfalls blieb die Kenntnis des Baus dieser Saiteninstrumente<br />

auf Spanien beschränkt und ist von dort<br />

nicht nach Füssen am Fuße der Alpen gelangt.<br />

Die schriftlichen Nachrichten über die Geschichte der<br />

Stadt Füssen sind in den frühen Jahren sehr selten. Es ist<br />

nicht allein die Urkunde der Stadterhebung verloren gegangen.<br />

Diese muss man ungefähr auf die Zeit um 1235<br />

ansetzen, als auch Innsbruck, das ebenfalls auf seinem<br />

traditionellen Weg über die Alpen lag, von Kaiser Friedrich<br />

II. die Stadtrechte verliehen bekam. Vieles aus den<br />

Füssener städtischen Archiven wurde bei den mehrfachen<br />

kriegsbedingten Plünderungen der Stadt verschleppt oder<br />

vernichtet. Die Benediktinermönche des Klosters hingegen<br />

retteten ihre Dokumente unter anderem nach Stams in<br />

Tirol, als die Gefahren sich nahten. Und so brauchen wir<br />

uns nicht zu wundern, wenn in den lückenhaft bewahrten<br />

Urkunden der Stadt auch über ihre Handwerker nur wenig<br />

überliefert ist. Die ersten schriftlichen Nachweise von der<br />

Existenz eines Lautenmachers entnehmen wir, noch ohne<br />

Nennung eines Namens, dem Urbar des Füssener Klosters<br />

14


für die Jahre 1436 bis 1439. Der erste namentlich bekannt<br />

gewordene Lautenmacher wurde darin für die Jahre 1461,<br />

1463 und 1481 dokumentiert. Berchtold hat er geheißen.<br />

Er wird nicht der einzige in der Stadt gewesen sein, wohl<br />

aber der einzige, der dem Kloster verpflichtet war. Es ist<br />

durchaus nicht ungewöhnlich, dass eben das Kloster einen<br />

Zusammenhang mit Musik erweist, auch wenn die Laute<br />

wohl kaum in der Kirche, sondern eher bei der Tafel gespielt<br />

worden ist. Die mächtigen oder auch nur reichen<br />

Herren jedoch, die auf dem Weg über die Alpen in Füssen<br />

Station machten, nahmen meist in den Mauern des Klosters<br />

ihren Aufenthalt und brachten wohl den einen oder anderen<br />

Musiker zu ihrer Unterhaltung mit in ihrem Gefolge.<br />

Es lohnt sich, hier noch einmal innezuhalten und einer<br />

zweiten Frage nachzugehen, die angesichts der erstaunlichen<br />

Entwicklung dieses Handwerks gerade in dieser Stadt<br />

oftmals gestellt wird. Warum Füssen, warum nicht Konstanz,<br />

Chur, St. Gallen, Bregenz, Kufstein, Salzburg, Linz,<br />

Wien oder eine andere der Städte am Nordrand der Alpen,<br />

über die die Wege aus Italien in die Länder des Reiches führten?<br />

Warum nistete sich zuerst in Füssen und später dann in<br />

Mittenwald das Handwerk ein und blühte so viele Jahre und<br />

Jahrhunderte lang fort?<br />

Drei Gründe sind dafür anzugeben. Den ersten haben<br />

wir schon genannt: Es ist die alte, viel begangene Alpenstraße,<br />

die Via Claudia der Römer, die die Länder des Südens<br />

mit denen des Nordens, vor allen anderen aber die wichtigen<br />

Handelsstädte Verona und Augsburg verband, und zusammen<br />

mit ihr ist es der Lechfluss, auf dem die Waren, die<br />

Künste und die Ideen aus dem so fruchtbaren Süden nach<br />

Norden verbracht wurden. So etwa kamen aus Venedig,<br />

dem Hafen zum Orient, viele der Ingredienzien, die das<br />

Handwerk benötigte, wie Farben, Harze, Öle und Lacke,<br />

15


Ebenholz, Sandel und Elfenbein auf kurzem Wege über<br />

Innsbruck und Füssen ins Deutsche Reich.<br />

Der zweite Grund bestand im Holzreichtum der Füssener<br />

Gegend, in welcher besonders die Eiben, die man für die<br />

Späne der Laute bevorzugte, einstmals sehr zahlreich waren.<br />

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden deren Bestände<br />

durch den Raubbau im Auftrag von englischen Heeresausrüstern<br />

bedroht, die das sehnige Holz für ihre Langbogen<br />

nutzten. Heute sind die Eiben im Ammerwald fast ganz ausgetilgt.<br />

Im 17. Jahrhundert gelangten die Klanghölzer für<br />

den Geigenbau zu immer größerer Bedeutung. Dies waren<br />

meist Fichte und Ahorn, seltener Tanne oder Buchsbaum<br />

und in einigen Fällen auch Obstbaumhölzer. Die besten<br />

Fichten wuchsen in windgeschützten Lagen am Nordhang<br />

der Alpen und bildeten bei den geringeren Temperaturschwankungen<br />

dichte und regelmäßige Maserungen aus. So<br />

kam es, dass selbst manche Geigenbauer vom Südrand der<br />

Alpen ihr Holz aus der nördlichen Nachbarschaft bezogen.<br />

Der dritte Grund für die Vorrangstellung der Stadt Füssen<br />

auf dem Gebiet des Baus von Saiteninstrumenten liegt<br />

in der besonderen Vorliebe eines einzigen Mannes, eines leidenschaftlichen<br />

Jägers, für diese wald- und wildreiche Gegend.<br />

Es war einer der mächtigsten Männer seiner Epoche,<br />

der Füssen zu dem machte, was es danach lange Zeit bleiben<br />

sollte: zur Heimat der Lauten. Dieser Mann hieß Maximilian<br />

und trug den Beinamen „der letzte Ritter“. Maximilian<br />

I. von Habsburg (1459–1519), seit 1486 deutscher König,<br />

seit 1493 Erzherzog von Österreich und seit 1508 Kaiser des<br />

Heiligen Römischen Reiches, hat Füssen offenbar mehr als<br />

alle anderen Städte geliebt, denn er hat, wie man in den vergangenen<br />

Jahrzehnten forschend ermittelt hat, wohl 38-mal<br />

in ihren Mauern residiert, zum ersten Mal im Jahre 1484.<br />

Seinen Wohnsitz bezog er einmal im Haus seines Freundes<br />

16


und Geldgebers, des Ritters Gossenbrod, der reiche Besitzungen<br />

in Augsburg wie in Südtirol und ebenso auch in<br />

Füssen hatte, wo sein Haus an der Lechhalde neben dem<br />

St.-Mang-Kloster stand. Ein anderes Mal nächtigte der<br />

hohe Gast im Kloster, in dem der geborene Füssener Benedikt<br />

Furtenbach, ein kunstsinniger Mann, über Jahrzehnte<br />

hin Abt war, und endlich residierte der Kaiser auf dem<br />

Hohen Schloss, einem der schönsten im ganzen Reich, das<br />

der Augsburger Bischof Friedrich von Hohenzollern, nicht<br />

zuletzt um dem Habsburger dienstbar zu sein, bis zum Jahre<br />

1499 erweitern und erneuern ließ. Damit jedoch nicht genug:<br />

Maximilian ließ sich am nahen Schwaltenweiher auf<br />

dem Gebiet des heutigen Weilers Goldegg ein Jagdschloss<br />

erbauen, von dem heute nur mehr die Fundamente zu sehen<br />

sind. Die Bauern aus der Umgebung haben sich die<br />

Steine des bald schon in den folgenden Kriegen zerstörten<br />

und verfallenden Gebäudes für die Errichtung ihrer eigenen<br />

Mauern geholt. Das Jagen war einer der vornehmsten<br />

Gründe, weswegen Maximilian als Erzherzog und bald danach<br />

auch als Kaiser immer wieder an die Lechpforte kam.<br />

Er musste dafür sein Pferd nicht weitab vom Wege lenken,<br />

denn die Stadt liegt auf halber Strecke zwischen Augsburg<br />

und Innsbruck, den beiden Reichsstädten, die er oft mit seiner<br />

Gegenwart beehrte, um in der einen seinen Geldbeutel<br />

zu füllen und ihn in der anderen zu leeren.<br />

Dass dieser habsburgische Kaiser nun aber großen Wert<br />

darauf legte, als ein zweiter David nicht allein durch das<br />

Schwert, sondern auch durch das Saitenspiel zu Ruhm zu<br />

gelangen, das ist in seiner Biographie, dem Weißkunic, in<br />

seinem eigenen Auftrag vermerkt worden. Der allen Künsten<br />

geneigte Maximilian führte auf seinen Reisen nicht<br />

selten den von ihm begründeten Chor der Sängerknaben<br />

mit im Gefolge, manches Mal auch die berühmten Musi-<br />

17


ker seines Hofes wie Paul Hofhaimer, Heinrich Isaak und<br />

Ignaz Senfl. Von Hofhaimer und den Sängerknaben ist ein<br />

Aufenthalt in Füssen dokumentiert, wo er an der Orgel der<br />

Klosterkirche gespielt haben soll. Oftmals wurde bei solchen<br />

Besuchen in Füssen musiziert und gesungen, wie die<br />

Bücher des Klosters berichten. Dass dabei ausgerechnet die<br />

Leiter der Kapelle, Isaak und Senfl, nicht gegenwärtig gewesen<br />

sein sollten, ist kaum vorzustellen. Und so ist es nicht<br />

zu verwundern, dass in eben den Jahren von Maximilians<br />

Regentschaft der Lautenbau in Füssen die größten Fortschritte<br />

machte. Denn es wird in der Begleitung des Kaisers<br />

an wohlmögenden und wohlhabenden Herren und Damen,<br />

der Fugger etwa oder der Welser, nicht gefehlt haben, die<br />

der Liebe des Kaisers zur Musik nacheiferten und auf solche<br />

Weise das Ansehen und das Einkommen der Füssener Lautenbauer<br />

mehrten, deren Instrumente sie in ihren Musikkammern<br />

häuften und schließlich in alle Teile des Reiches<br />

trugen. Und nicht nur dorthin, sondern auch nach Italien.<br />

Noch zu Maximilians Lebzeiten sind ihren Instrumenten<br />

folgend dann auch die ersten Füssener Meister selbst bis<br />

nach Venedig gelangt.<br />

Rasch mehren sich nun in immer kürzeren Abständen<br />

die Namen der frühen Lautenmacher in Füssen. Sie alle sind<br />

vermerkt in meiner umfänglichen und durch viele Bilder<br />

ergänzten Publikation zu diesem Thema, und es würde den<br />

Rahmen dieses Essays weit überschreiten, mehr als nur die<br />

allerwichtigsten hier zu nennen. Ob Caspar Tieffenbrucker<br />

der bedeutendste unter ihnen war, ist heute nicht mehr zu<br />

entscheiden, jedenfalls aber ist er bis in unsere Tage der berühmteste<br />

geblieben. Dies verdankt er neben einigen kostbaren<br />

Lauten und Gamben auch einem Kupferstich, der ihn<br />

umgeben von einer großen Zahl von Instrumenten zeigt,<br />

unter denen sich einige mit deutlich erkennbaren Merk-<br />

18


malen der Violine befinden. Den Stich hat der Meister, der<br />

in jenen Jahren in Lyon seine Werkstatt hatte, von einem<br />

Künstler namens Woeriot im Jahre 1562 anfertigen lassen,<br />

um so für seine Instrumente zu werben.<br />

Man hat später irrtümlich geglaubt, in Caspar Tieffenbrucker<br />

den „Erfinder der Geige“ erkennen zu müssen.<br />

Unsere Väter noch wurden in dieser Annahme unterrichtet.<br />

Heute weiß man, dass Tieffenbrucker, der in Frankreich<br />

auch Gaspard Duiffobrocard genannt wurde, 1514 in<br />

dem kleinen Weiler Tieffenbruck bei Füssen geboren wurde,<br />

mit großer Gewissheit in Füssen sein Handwerk erlernt<br />

hat, im Jahre 1544 nach Heirat mit einer Bürgerstochter<br />

(möglicherweise der Tochter eines Lautenmachermeisters,<br />

wie dies damals der Brauch war) die Füssener Bürgerrechte<br />

zuerkannt bekam und sich, nachdem er im Jahr darauf auch<br />

noch als Händler mit flämischen Tüchern tätig geworden<br />

war, recht bald danach auf Wanderschaft nach Italien begab.<br />

Mag sein, dass ihn die Verwüstungen der Kriegsparteien<br />

des Schmalkaldischen Krieges, die auch Füssen nicht<br />

verschonten, gemeinsam mit vielen anderen Handwerkern<br />

im Jahre 1546 aus dem Land getrieben haben. Sein erster<br />

Aufenthalt wird, da er sich in manchen seiner Instrumente<br />

als Bologneser bekannt hat, in Bologna vermutet. 1553<br />

wird er in Lyon aktenkundig. Gestorben ist er dort im Dezember<br />

1571 nach einem erfolgreichen Berufsleben und<br />

einer privaten Tragödie in großer Armut. Sein Haus war<br />

abgerissen worden, um einem Festungsbau Platz zu schaffen,<br />

eine Entschädigung wurde erst nach seinem Tod der<br />

Witwe gewährt. Von ihm und namensgleichen Verwandten<br />

werden einige der wertvollsten aller alten Instrumente<br />

in den großen Museen aufbewahrt – unter anderem viele<br />

unter den Schätzen der Sammlung alter Musikinstrumente<br />

in der Hofburg von Wien. Dort sind nun über achtzig<br />

19


Lauten und Geigen der Füssener Schule zu besichtigen,<br />

von denen die meisten nicht in Füssen selbst, sondern in<br />

Venedig, Padua, Rom, Lyon oder auch in Wien geschaffen<br />

wurden.<br />

Neben Caspar und Wendelin Tieffenbrucker galten Laux<br />

Maler, Hans Frei, Jakob Langenwalder, Matthias Buchenberg<br />

(genannt Matteo Boccaber) und Hans Burgholtzer als<br />

die größten Meister des Lautenbaus, deren Instrumente in<br />

der ganzen musikalischen Welt gefragt waren. Es wurden<br />

von manchen jedoch nicht allein Lauten und Gamben, sondern<br />

auch Gitarren gefertigt, unter denen die in den venezianischen<br />

Werkstätten der Füssener Meister die kostbarsten<br />

sind. Hier ist vor allem die Familie Sellas zu nennen,<br />

deren Mitglieder – noch unter ihrem deutschen Namen<br />

Seelos – über Innsbruck nach Süden gewandert waren. Ihre<br />

Instrumente waren außer ihren klanglichen Vorzügen auch<br />

wegen ihrer reichen Verzierungen und Einlegearbeiten von<br />

Elfenbein und Ebenholz an den Fürstenhöfen des Nordens<br />

und in den Palästen der Adeligen von Venedig und Rom<br />

sehr begehrt.<br />

Die Blüte des Lautenbaus, eines Sammelnamens auch für<br />

die Fertigung von Theorben, Chitarronen, Gitarren, Cistern,<br />

Lyren, Gamben und anderen Streich- oder Zupfinstrumenten,<br />

währte in Füssen über das ganze 16. Jahrhundert<br />

bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648).<br />

Im Jahre 1563 wurde in Füssen die erste Zunftordnung der<br />

Lautenmacher niedergeschrieben, die vorbildlich wurde für<br />

alle anderen europäischen Zentren des Instrumentenbaus.<br />

1606 wurde sie noch einmal erneuert. Um das Jahr 1618<br />

arbeiteten in der Stadt Füssen allein vierzig Lautenmacher<br />

nebeneinander. Lehrlinge, die noch nicht in die Zunft aufgenommen<br />

waren, oder Meister, die in den Dörfern oder<br />

auf den Höfen in der Umgebung lebten, nicht mitgezählt.<br />

20


Am Ende des Krieges aber zählte man nur mehr sechs ihres<br />

Handwerks. Fünf weitere kamen in den folgenden Jahren<br />

von ihren Fluchtorten wieder zurück. Während der dreißig<br />

furchtbaren Jahre sind insgesamt 135 Lautenmacher aus dem<br />

Füssener Land namentlich bekannt geworden. Von diesen<br />

waren 93 bald auch in anderen Städten, vornehmlich in Italien,<br />

nachzuweisen. Zwanzig wurden in Füssen selbst als<br />

verschollen gemeldet. Die Stadt war nach 1648 nicht mehr<br />

die gleiche. Von ihren 2300 Einwohnern waren nur mehr<br />

800 am Leben. Franzosen, Schweden, Österreicher hatten<br />

nicht nur Burg und Kloster, sondern auch Häuser und<br />

Werkstätten geplündert. Und die berühmten Musikinstrumente<br />

waren von Marodierern entweder achtlos zerschlagen<br />

oder von Kennern mit aller Sorgfalt beschlagnahmt<br />

worden. Und da will es wie ein kleines Wunder erscheinen,<br />

dass 1643, mitten in dieser Zeit der Verwüstungen, in der<br />

Werkstätte des Füsseners Raffael Möst auf dem Lautenmacherhof<br />

die erste Viola d’amore entstand, die uns bis heute<br />

bekannt geworden und erhalten ist. Sie wird im Wiener<br />

Museum als besondere Kostbarkeit aufbewahrt. Langsam<br />

nur erholte sich in den folgenden Jahrzehnten das Handwerk<br />

in Füssen.<br />

Auf dem Gebiet der Instrumentalmusik hatte sich unterdessen<br />

in ganz Europa manches verändert. In der Epoche<br />

des Barock war dem Orchesterspiel durch die neubegründete<br />

Kunst der Oper größere Bedeutung erwachsen. Und<br />

dort wie auch in den Konzertsälen hatte die Violine begonnen<br />

sich gegen die Instrumente der Violenfamilie, Gamben,<br />

Baritone und viole da braccio, durchzusetzen. Und so<br />

wurden in Füssen mehr und mehr Geigen und Celli gebaut<br />

und immer weniger Gamben oder Lauten und Gitarren.<br />

Einzig der sogenannte Kontrabass war als eine Abwandlung<br />

der alten Violonenform der gleiche geblieben. Und<br />

21


trotz allen durchlittenen Unheils war der Stadt eine neue<br />

Blüte nun auch des erneuerten Handwerks beschieden.<br />

Füssen wurde zum ersten Mittelpunkt des deutschen Geigenbaus.<br />

Viele Füssener Meister und Gesellen hatten sich<br />

auf der Flucht vor dem Krieg über die Alpen nach Italien<br />

gerettet. Dort waren einige von ihnen an der Entwicklung<br />

des neuen Instru ments beteiligt, dessen nach vielen Versuchen<br />

erste vollkommen gelungene Beispiele wohl schon um<br />

1530 in einer Werkstätte Oberitaliens, in Cremona, Brescia<br />

oder Bologna, entstanden sein dürften. In all diesen Städten<br />

waren auch Füssener Meister tätig, und so ist die anonym<br />

überlieferte Vermutung nicht ganz von der Hand zu<br />

weisen, dass die Form der f-Löcher in den neuen Geigen<br />

ursprünglich eine Erinnerung an die Heimat ausgewanderter<br />

Geigenbauer darstellen sollte. Denn bisher hatte es nur<br />

Schalllöcher in c- oder s-Form gegeben.<br />

Es würde nun zu weit führen, die Wege der vielen Geigenmacher<br />

des Füssener Landes durch halb Europa zu verfolgen.<br />

Hingewiesen sei jedoch darauf, dass sie es waren, die wohl<br />

nicht, wie einst die Lautenmacher, in Italien, doch aber nun<br />

in Deutschland, Frankreich, England, Österreich, Böhmen<br />

und Ungarn die ersten Werkstätten des Geigenbaus gründeten<br />

und ihr Handwerk heimisch machten. Lyon, Paris,<br />

London, Amsterdam, Den Haag, Lübeck, Mainz, München,<br />

Augsburg, Nürnberg, St. Petersburg, Prag, Budapest,<br />

Innsbruck und Wien verdankten die Entwicklung des Baus<br />

von Saiteninstrumenten vor allen anderen den Füssener<br />

Kunsthandwerkern. Wenn man die Namen der ältesten und<br />

höchstgeschätzten dortigen Meister nennen hört, so kann<br />

man ihre Herkunft fast ausnahmslos in die kleine Stadt am<br />

Lech oder ihre Umgebung verfolgen. Und seltsamerweise<br />

nicht ins nördliche Italien. So etwa kam einer der höchstgeschätzten<br />

deutschen Meister, der Münchner Hofgeigen-<br />

22


macher Paul Alletsee, aus dem kleinen Dorf Schwangau,<br />

das Füssen gegenüber nahe am Lech liegt. Der sogenannte<br />

„Wiener Stradivari“ Franz Geissenhof wurde in Füssen in<br />

einem schönen gotischen Haus am Brotmarkt gegenüber<br />

dem Kloster geboren. Der Römer David Tecchler stammte<br />

ebenso aus Füssen wie der Neapolitaner Giorgio Bairhoff,<br />

der in der Hutergasse zur Welt kam. Und ein Bernhard<br />

Fendt aus der Füssener Reichenstraße beförderte um<br />

1800 entscheidend die Geigenbauschule in London, die sein<br />

Landsmann Jacob Rayman um die Zeit des Dreißigjährigen<br />

Krieges schon gegründet hatte.<br />

Warum die große Tradition dann aber doch ermattete<br />

und endlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts ganz zum<br />

Erliegen kam, das hat mehr als nur einen Grund. Der Ruhm<br />

der italienischen Violinen überstrahlte bald alle Konkurrenz<br />

in den nördlichen Ländern. Das alte barocke Füssener<br />

Modell der Geige war der Klangfülle etwa des flacheren<br />

Stradivari-Modells nicht mehr vergleichbar. Die großen<br />

neuen Konzertsäle erforderten kräftigere, nicht mehr mit<br />

Darm-, sondern mit Drahtsaiten bespannte Instrumente.<br />

Lauten und Gamben fanden immer weniger Anklang bei<br />

den Musikern und in den Orchestern. Die Manufakturen,<br />

die im 18. Jahrhundert in den Vogesen, in Nordböhmen,<br />

im Vogtland, im südlichen Sachsen und teilweise auch in<br />

Mittenwald entstanden waren, konnten nun billigere Ware<br />

liefern, gegenüber der die Füssener Handarbeit nicht mehr<br />

konkurrenzfähig war. Bis zuletzt hatten sich die Füssener<br />

Meister dagegen gewehrt, auch nur Teile ihrer Instrumente<br />

zur Fertigung aus der eigenen Hand zu geben. Zudem war<br />

die Stadt selbst immer mehr abseits von den großen Verkehrswegen<br />

geraten. Niemand mehr verschiffte seine Waren<br />

auf Flößen über Lech und Donau. Auch wurde die Straße<br />

am Lech entlang aufwärts und über den Reschenpass immer<br />

23


seltener befahren. Man fuhr durch das Inntal oder das Isartal<br />

südwärts nach Innsbruck und von dort über den Brenner<br />

nach Verona und weiterhin nach Venedig und Rom. Nicht<br />

nur die Fuhrwerke und Postkutschen, auch die Eisenbahn<br />

fand andere Wege. Und da all dies zusammenkam, so wanderten<br />

die letzten Meister und Gesellen den Märkten nach<br />

in reichere Städte, und die daheim gebliebenen verloren<br />

den Mut und die Kundschaft. Der letzte Füssener Meister,<br />

Josef Alois Stoß, war ein armer Verwandter des Wiener<br />

Hofgeigenmachers Martin Stoß, dessen Celli weit und breit<br />

gerühmt wurden. Er wohnte und arbeitete noch bis 1866<br />

in der Hinteren Gasse. Seine Instrumente gehören nicht<br />

mehr zu den besten ihrer Gattung. Mag sein, dass ihn angesichts<br />

der hoffnungsarmen Lage seines Gewerbes die Lust<br />

an der Arbeit schon verlassen hatte, ehe er sein Werkzeug<br />

aus der Hand legte. Mit ihm starb der Geigenbau in Füssen,<br />

so wie er zuvor schon in den umliegenden Gemeinden, in<br />

Schwangau, Trauchgau, Bayerniederhofen auf der rechten<br />

Seite des Lech, in Lechbruck, Tiefenbruck, Roßhaupten,<br />

Rieden, Pfronten und Eschach links des Lech und auch im<br />

tirolischen Vils gestorben war. Es begann das Vergessen.<br />

Das nachbarliche Hohenschwangau war zur Residenz der<br />

bayerischen Könige geworden. Der Zustrom neuer Gäste,<br />

unter ihnen berühmte Wissenschaftler, Architekten, Maler,<br />

Dichter und Musiker, die die Nähe des Hofes suchten, bewirkte,<br />

dass man sich anderen Zielen zuwandte in der Stadt<br />

und ringsum im Land.<br />

Und so kam es, dass, wenn man vor einigen Jahrzehnten<br />

von deutschen Geigen sprach, man zuerst an Mittenwald<br />

an der Isar dachte. Dort hat sich das Handwerk bis auf<br />

den heutigen Tag erhalten. Das größte Verdienst daran hat<br />

die Gründung einer Geigenbauschule, die eben zur rechten<br />

Zeit den altrenommierten Namen zur Erweckung neuer<br />

24


Impulse genutzt hatte. Dort dachte kaum einer mehr daran,<br />

dass auch der Gründer der Mittenwalder Schule, Matthias<br />

Klotz, bei einem Füssener Meister, Johannes Railich mit<br />

Namen, geboren im Dorfe Bayerniederhofen, in die Lehre<br />

gegangen war. In Padua war dies geschehen, in Padua an der<br />

Brenta während der Jahre 1672 bis 1678. Ein wieder aufgefundener<br />

Lehrbrief hat es bewiesen. Die geschwisterlichen<br />

Alpenstädte, so nahe beieinander gelegen, mussten zueinander<br />

kommen über Vermittlung Italiens. Denn Bayern<br />

und Italien fanden wie in vielem anderen auch in diesem<br />

edelsten aller Handwerke immer wieder zusammen, zwei<br />

Länder, die einander, gebend und nehmend, so vieles verdanken.<br />

Seit die Geschichte des Lauten- und Geigenbaus wieder<br />

entdeckt und in großer Ausführlichkeit dokumentiert wurde,<br />

hat sich in Füssen das eine oder andere ereignet, das sich<br />

ausnehmen kann wie eine Neubesinnung auf die unvergleichliche<br />

Leistung der Vorfahren. Ein bronzenes Denkmal<br />

für den berühmten Caspar Tieffenbrucker wurde auf dem<br />

Brotmarkt errichtet. In repräsentativen Räumen des Klosters<br />

wurden Instrumente, Dokumente und Gegenstände<br />

zusammengetragen, die die wenigen verbliebenen Erinnerungen<br />

wieder beleben und weiter am Leben erhalten. Es<br />

haben sich sogar, aus der Schweiz und aus Mittenwald kommend,<br />

drei junge Geigenbauer wieder in der Stadt niedergelassen,<br />

auf dem Schrannenplatz, in der Brunnengasse und<br />

auf dem Brotmarkt. Sie haben das Handwerk wieder belebt.<br />

Ihre in alter Tradition von einer Hand gefertigten Instrumente<br />

können sich im internationalen Vergleich durchaus<br />

sehen und hören lassen. Aller erdenkliche Erfolg ist ihnen<br />

zu wünschen. Geborene Füssener selbst haben dazu noch<br />

den Mut nicht gefunden. Aber die neu geschaffenen Werke,<br />

zu denen auch Nachbauten von alten Lauten- und Gitar-<br />

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enmodellen gehören, wecken lang entschlafene Hoffnungen.<br />

Mit Stolz und Mut setzen sie sich zur Wehr gegen eine<br />

Industrie, die heute die Saiteninstrumente nicht mehr nur<br />

in Manufakturen, sondern gar in Fabriken für den in allen<br />

Erdteilen erwachsenen Massenbedarf produziert.<br />

Unerfüllt bleiben neben manchem Erreichten dennoch<br />

einige Wünsche, die ich mehrfach vergebens beim Magistrat<br />

der Stadt angemeldet habe. Der Hof neben der Franziskanergasse<br />

sollte durch Beschluss des Stadtrats wieder<br />

als „Lautenmacherhof“ benannt werden. An ihm hatten<br />

einige der bekanntesten Lautenmacher ihre Werkstätten:<br />

Burgholtzer, Hellmer, Greiff, Hollmayr, Kolb und Möst.<br />

Man darf eine größere Anzahl von Nachkommen, Schwiegersöhnen,<br />

Gesellen und Lehrlingen zu ihnen zählen, die<br />

unter ihrer Aufsicht gearbeitet haben. Nur von den wenigsten<br />

Meistern der Zunft ist eine genaue Adresse zu ermitteln<br />

gewesen. Insgesamt gelang es mir, mit Hilfe des seither<br />

verstorbenen Heimatforschers Dr. Georg Guggemoos, nur<br />

sechsundsechzig von vielen hundert Wohn- bzw. Arbeitsstätten<br />

auszuforschen. Die verteilten sich über die gesamte<br />

Stadt. Keine Straße ist dabei ausgenommen. Der Hof bei<br />

der Franziskanergasse wurde jedoch, wie mir Dr. Guggemoos<br />

versicherte, in alten Dokumenten mehrfach als „Lautenmacherhof“<br />

bezeichnet und war gewiss das historische<br />

Zentrum des Handwerks. In jedem der sechs Häuser, die<br />

den Platz umgeben, wurden einst Instrumente gefertigt.<br />

Darum ist es sehr wahrscheinlich, dass auch die Tieffenbrucker<br />

dort ihre Füssener Werkstätte gefunden haben. Dass<br />

man dort wie auch an anderen ehemaligen Wohnhäusern<br />

bekannter Meister keine Tafeln zu ihrem Gedächtnis hat<br />

anbringen oder eine Straße in den neuen Siedlungsgebieten<br />

nach einem von ihnen hat benennen wollen, ist sehr zu<br />

verwundern. Gewiss auch könnte die Pflege der Musik, ins-<br />

26


esondere des Lauten- und Geigenspiels, entschiedener gefördert<br />

oder gar die Begründung einer Festspielwoche alter<br />

Musik in Betracht gezogen werden. Es bliebe noch vieles zu<br />

tun in der schönen Stadt Füssen, um dem großen Erbe gerecht<br />

zu werden, das einst bedeutsam genug war, um ihrem<br />

Namen in der weiten Welt der Musik einen guten Klang zu<br />

verschaffen.<br />

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